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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2002, Seite 14

Israel/Palästina

Bevor dich die Götter töten, treiben sie dich in den Wahn

Neun Bemerkungen von Michel Warschawski

1. Er hält nie bei Rot

In den vergangenen Wochen habe ich dreimal denselben Traum gehabt: Ich befinde mich in einem Bus, der von einem betrunkenen Verrückten gesteuert wird. Er fährt mit 120 Meilen in der Stunde einen Abhang hinunter und zerstört alles auf seinem Weg. Schließlich stürzt der Bus mit all seinen Insassen in einen Abgrund. Uzi Benzimans Biografie von Ariel Sharon trägt den Titel "Er hält nie bei Rot". Indem er über jede rote Ampel fährt und alles auf seinem Weg zerstört, bringt uns Sharon dem kollektiven Selbstmord von Massada näher — also einem der Kodenamen der israelischen nuklearen Option.
Obwohl mein Herz voll und ganz beim palästinensischen Volk ist, dessen Blut täglich vergossen wird und dessen Leben von israelischen Soldaten zerstört wird, und obwohl mein Zorn sich vollständig gegen die israelischen Führer richtet, von Ariel Sharon bis Shimon Peres, bis hin zu George W. Bush, und obwohl meine Scham grenzenlos ist wegen all des Bösen, das in meinem Namen und im Namen meiner Vorfahren, die in Treblinka und Maidanek massakriert wurden, begangen wird — trotz alledem drehen sich meine Befürchtungen um das israelische Volk.
Ich habe Angst um die Israelis, denn das palästinensische Volk wird trotz seiner ungeheuren Leiden und gewaltigen Verluste schließlich siegen. Ich habe keinen Zweifel daran. Sie sind in dieser Region verwurzelt, sie gehören hierhin, und sie sind umgeben von 200 Millionen arabischer Brüder und Schwestern.
Wir dagegen, das israelische Volk, sind eine winzige Minderheit, die sich im arabischen Osten auf Kosten des palästinensischen Volkes niedergelassen hat. Das einzige "großzügige Angebot" in diesem Spiel war die Bereitschaft des palästinensischen Volkes, eine friedliche Koexistenz zwischen Israel und einem palästinensischen Staat zu akzeptieren, der auf 22% seines historischen Gebiets begrenzt ist. Anstatt dieses unerwartete Angebot zu akzeptieren, begannen die verschiedenen israelischen Führer zu feilschen, zu betrügen und schließlich — mit Sharon — jede Unterhandlung eines vernünftigen Kompromisses mit den Palästinensern vollständig zurückzuweisen. Israel beantwortete die arabischen Angebote für Frieden und Versöhnung mit uneingeschränkter Gewalt, Zerstörung und — schlimmer noch — Demütigung.
In den letzten Jahren ist es Israel gelungen, in der ganzen arabischen Welt beispiellose Wut und beispiellosen Hass zu provozieren. Die Folge davon ist, dass es zunehmend zweifelhaft wird, ob Israel von den Arabern eine zweite Chance erhält, um die nationale Existenz einer jüdischen Gemeinschaft im Nahen Osten zu akzeptieren.
Die Verbrechen der Sharon, Peres und Mofaz im Westjordanland und im Gazastreifen, die arrogante Antwort auf den saudischen Friedensplan, die Missachtung der Warnungen Präsident Mubaraks — dies alles könnte die Sterbeurkunde einer jüdischen nationalen Existenz im arabischen Osten darstellen. Wie bei jedem paranoiden Verhalten könnte die gewaltsame Reaktion auf eine eingebildete "arabische Bedrohung" früher oder später eine reale arabische Bedrohung für die nationale Existenz Israels provozieren.

2. Es gibt einen Plan

Im Unterschied zu dem, was viele Kommentatoren sagen, ist Ariel Sharon nicht verrückt. Er ist brutal, er kennt keine Grenzen — weder politischer noch ethischer Art —, keine Warnlichter. Er schert sich nicht um Opfer, auch nicht um israelische. Aber seine Brutalität ist nicht das Produkt einer geistigen Störung. Sie ist Teil eines politischen Plans.
Es wird auch oft gesagt, dass Sharon keine politische Vision hat, dass er das Prinzip der "Sicherheit" auf die Ebene einer rücksichtslosen Staatsdoktrin erhebt. In Wirklichkeit ist Sharon der erste israelische Führer seit David Ben Gurion, der einen umfassenden strategischen und politischen Plan besitzt. Ja, er hat sogar, wie schon im Libanon vor zwanzig Jahren, zwei Pläne: einen großen und einen kleinen.
Der große Plan besteht darin, so viele Palästinenser wie möglich aus dem Westjordanland nach Jordanien zu vertreiben, wo ihre Anwesenheit das hashemitische Königreich destabilisieren würde, was die Bildung eines Palästinenserstaats zur Folge hätte. Ein solcher Plan erfordert einen regionalen Krieg und hängt deshalb von Faktoren ab, die nicht vollkommen der Kontrolle Israels unterliegen. Deshalb benötigt Sharon in der Zwischenzeit auch einen kleinen Plan. In diesem Plan bedeutet Israel Eretz- Israel und als solches müssen die besetzten Gebiete so schnell wie möglich kolonisiert werden. "Der Unabhängigkeitskrieg ist noch nicht beendet", sagte Sharon in seinem berühmten Interview mit der Tageszeitung Haaretz im vergangenen Jahr. "Man sollte nicht versuchen, zu einem politischen Abkommen zu kommen, das für Israel endgültige Grenzen festlegen könnte."
Sharons Kolonisierungsplan wurde 1978 sorgfältig entworfen, als er Verteidigungsminister im Kabinett Begin war. Dieser Plan sah Siedlungsblocks und Straßen — von Norden nach Süden und von West nach Osten führend — vor, die aus den bestehenden palästinensischen Siedlungsgebieten Enklaven machen. Diese Enklaven (Kantone) würden unter palästinensischer Kontrolle stehen und von lokalen Häuptlingen geführt, die die Zustimmung Israels besäßen. Wenn sie wollten, könnten sie es einen palästinensischen Staat nennen. Anders als vorangegangene israelische Szenarien war Sharons kleiner Plan stets ein Plan der Bantustanisierung, der Bildung selbstverwalteter Gebiete als Enklaven in einem vom Mittelmeer bis zum Jordan reichenden israelischen Staat.
Um in der Lage zu sein, einen solchen Plan durchzusetzen, benötigt Sharon die Kapitulation des palästinensischen Volkes, die Zerstörung der PLO und der Autonomiebehörde, und er muss Kollaborateure unter den Palästinensern finden. Der Zweck der aktuellen massiven Militäroperation ist es, gerade eine solche Kapitulation zu erreichen.

3. Befriedung, nicht Krieg

Wenn wir die aktuelle militärische Offensive in den Städten, Flüchtlingslagern und Dörfern im Westjordanland beschreiben, müssen wir den Begriff "Krieg" zurückweisen. Ein Krieg erfordert zwei feindliche Armeen, wenn auch ihre Stärke nicht identisch ist. Im Falle Palästinas steht der israelischen Armee keinerlei Armee gegenüber. Und die aktuelle Offensive ist auch keine "Antiterroroperation", denn zur Zerschlagung eines terroristischen Netzwerks benötigt man nicht Zehntausende Soldaten, mehr als tausend Panzer, Kampfhubschrauber und F16-Bomber.
Wir sind vielmehr Zeuge einer typischen und nicht sehr originellen Befriedungsaktion — wie in Algerien, wie in Vietnam, wie in Angola. Jeder Kolonialkrieg hatte seine Befriedungsaktion: eine massive Gewaltanwendung, um die Zivilbevölkerung zu terrorisieren, um "das Gewässer auszutrocknen, worin der bewaffnete Widerstand schwimmt" (General Massu über Algerien), um "das Land in die Steinzeit zurück zu bomben" (US-Stabschef General Curtis über Vietnam).
Der Versuch, das Westjordanland zu befrieden, wird mit einer "Strafaktion" (ein weiterer Begriff des Kolonialismus) kombiniert, um die Bevölkerung zu lehren, wie sie sich zu verhalten hat, und sie dafür zu bestrafen, dass sie die "israelischen Friedenspläne" ablehnt. Strafaktionen und Befriedungskampagnen zielen immer auf die Zivilbevölkerung und verwenden Methoden von Massenzerstörung, Mord und Wandalismus. Sie haben nichts mit militärischem Kampf zu tun. Sie werden tatsächlich oft durch paramilitärische Milizen und nicht durch reguläre Armeen durchgeführt. Wie Robert Fisk hervorgehoben hat, verhält sich die israelische Armee nicht wie eine Armee, sondern wie eine Miliz, die alles auf ihrem Weg Liegende zerstört und massive Plünderungen durchführt.

4. Enthumanisierung

Weil sie gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind, schließen "Befriedungs"kampagnen stets eine Enthumanisierung der angegriffenen Bevölkerung ein. In der Vorstellung der israelischen Führer und in den Augen des israelischen Soldaten sind die Bewohner von Nablus oder el- Bireh keine Palästinenser oder menschliche Wesen, sondern Terroristen. Die Regierung Bush hatte bereits von "Schurkenstaaten" gesprochen, und Sharon versucht nun mit einer "terroristischen Nation" fertigzuwerden.
Der Massenwandalismus, die Zerstörung jedes Symbols von Zivilisation und Kultur sind sowohl das Ergebnis einer solchen Enthumanisierung als auch die Mittel, sie zu bestätigen. Aus diesem Grund sind die Soldaten so versessen darauf, medizinisches Personal anzugreifen, Autos und Computer zu zertrümmern, die Wohnräume palästinensischer Familien zu zerstören. Palästinenser sind keine zivilisierten menschlichen Wesen und es muss alles ausgelöscht werden, was darin erinnert, dass sie doch welche sind. Daher konnten israelische Soldaten so leicht Häuser oder ihre Bewohner zerstören oder auf Kinder schießen. Sie haben aufgehört, sie als Menschen wahrzunehmen.
Ein solcher Prozess der Enthumanisierung wäre ohne den Prozess von Oslo nicht möglich gewesen. Oslo sollte die physische Trennung erreichen, aber für die israelische Bevölkerung führte Oslo vor allem dazu, dass die Palästinenser nicht nur aus ihrem Leben verschwanden, sondern auch aus ihrem Bewusstsein.
Die Wiederaufnahme der Intifada machte die Palästinenser wieder sichtbar. Doch in dem Maße, wie die Palästinenser wieder in die israelische Mentalität einbezogen wurden, ist ihr Bild von der staatlichen israelischen Propaganda verzerrt worden, um die Ambitionen des israelischen Staates zu erfüllen. Die Palästinenser sind wieder aufgetaucht, bestenfalls als Eindringlinge, die man zermalmen muss, schlimmstenfalls als eine Naturkatastrophe, die man auslöschen muss.

5. Kollektive paranoide Schizophrenie

Der Nach-Oslo-Palästinenser ist durch eine doppelte "Mystifikation" als eine existenzielle Bedrohung wiedererzeugt worden, die sich auf das Persönliche wie auf das Politische erstreckt und schließlich beides vermengt, um die Bedingung für eine nationale Schizophrenie zu schaffen.
Die erste Mystifikation wurde von Ehud Barak geschaffen, der nach Camp David behauptet hatte, dass Yasser Arafats Ablehnung Baraks "großzügiger Angebote" beweise, dass die Palästinenser niemals beabsichtigten, Frieden mit Israel zu schließen. Diese Mystifikation postuliert, dass die palästinensische Akzeptanz des Osloprozesses nur eine Taktik gewesen sei, mit der Israel geschwächt und zerstört werden sollte. Die Ermordung Rabins, die offene Sabotage der Verhandlungen durch Netanyahu, die gewaltige Siedlungsoffensive, die Provokationen auf dem Haram-el-Sharif — all dies wurde vergessen und durch Baraks gut organisierte Mystifikation ersetzt.
Wenn Baraks Interpretation entsprechend dieser Linie richtig war, so auch Ariel Sharons Antwort auf die aktuelle Situation. Sharon erklärte von Beginn an auf exakt dieselbe Weise die Motive der Palästinenser für die Teilnahme am "Friedensprozess" und lehnte das Osloer Abkommen von Anfang an ab. Aus der aktuellen verzerrten Logik der israelischen Bevölkerung folgt somit, dass Sharons brutale Politik der einzige Weg ist, die palästinensische "Verschwörung" zu behandeln. Die Selbstmordanschläge in Israel — wenngleich sie erst nach dem von Baraks Lügen angerichteten Schaden geschahen — dienen nur dazu, Sharons Politik in den Augen der meisten Israelis als defensiven Krieg hinzustellen.
Die Selbstmordanschläge sind auch zum "Prüfstein" einer weiteren existenziellen Bedrohung geworden. Dabei ist die israelische Öffentlichkeit das Opfer einer zynischen Mystifikation. Diese beruht auf der Verwechslung von individueller Sicherheit, die tatsächlich durch Selbstmordanschläge in Israel bedroht wird, und der nationalen Sicherheit Israels, die überhaupt nicht bedroht ist, weder durch den palästinensischen Widerstand noch durch die arabischen Staaten.
Kurz, die ganze israelische Gesellschaft ist verrückt geworden. Trotz der bestehenden Realität und des Kräfteverhältnisses sind die Israelis überzeugt, dass es eine unmittelbare Bedrohung für die Existenz des Staates Israel und sogar des jüdischen Volkes gibt. Sie glauben, dass die israelische Armee heute einen Verteidigungskrieg auf der letzten Verteidigungslinie der israelischen nationalen Existenz führt. Die Tatsache, dass, außer George W. Bush, niemand auf der Welt eine solche Einschätzung teilt, sondern vielmehr Israel als den Aggressor betrachtet und die Palästinenser als die Opfer, ist nur ein weiterer Beweis, dass die "ganze Welt gegen uns ist" (israelisches Kinderlied) und "sich erhebt, uns zu vernichten" (aus dem Passah-Gebet).
Um den kollektiven Wahnsinn zu begreifen, der gegenwärtig die israelische Gesellschaft durchzieht, können wir uns nicht auf die Verheerungen dieser doppelten Mystifikation beschränken, sondern wir sollten versuchen zu verstehen, wie dies so schnell und so leicht geschehen konnte. Die Antwort ist im Gefühl der Erleichterung zu finden, die die Mobilisierung der israelischen Gesellschaft in ihrem "neuen" Krieg gegen die Araber kennzeichnet.
In einer normalen Welt, hätte man erwartet, dass das neue Verständnis davon, dass der Friede eine Illusion ist und die Araber tatsächlich darauf aus sind, unsere Welt zu zerstören, in der israelischen Öffentlichkeit ein Gefühl tiefer Enttäuschung und Trauer hervorgerufen hätte. Es ist jedoch das Gegenteil geschehen. Es scheint, als ob nach sieben Jahren der Verwirrung und wirklicher Schwierigkeiten bei der Anpassung an das vollkommen neue Szenarium des "Friedensprozesses" die israelische Öffentlichkeit zur ihrer "Normalität des Krieges" zurückgekehrt ist, zu den alten Reflexen und Gewohnheiten. In diesem auf den Kopf gestellten Kontext ist die Normalität für die meisten Israelis der Zustand der — realen oder virtuellen — Belagerung, die nationale Einheit gegen den Feind und der Mobilisierungsbefehl Nr.8.
Die israelische Öffentlichkeit fühlte sich unbehaglich im "Friedensprozess", der von ihr verlangte, Verhalten und Einstellungen zu ändern, nicht nur gegenüber den Palästinensern, sondern auch sich selbst gegenüber. Die Nachricht, dass die Araber ihre Absicht, uns zu zerstören, nicht aufgegeben haben und dass die Intifada eine Schlacht zur Zerstörung Israels war, war für die meisten Israelis eine gute Nachricht.

6. Das israelische Friedenslager

Das israelische Friedenslager war deutlich das Hauptopfer von Baraks Mystifikation. Heute unterstützt die Mehrheit derjenigen, die sich zum israelischen Friedenslager gezählt hätten, Sharons "Krieg". Mehr als alles andere zeigt dies im Nachhinein, wie begrenzt die Entwicklung des Friedenslagers während der 80er und 90er Jahre war und wie leicht es war, es zum nationalen Konsens und zur totalen Identifikation mit dem herrschenden gegen die Palästinenser gerichteten rassistischen Gefühl zurückzubringen. Der israelische peacenik ist nicht weniger nostalgisch in Bezug auf die "gute alte Zeit" von 1967 und 1973 als sein rechter Gegner und er betrachtet seine Uniform mit noch größerem Wohlwollen. Er fühlt, dass er seinen Patriotismus und seine Stammeszugehörigkeit unter Beweis stellen muss.
In solch einem Rahmen ist die Entscheidung Hunderter von Reserveoffiziere und Soldaten, den Dienst in den besetzten Gebieten zu verweigern, um so bedeutsamer. Anders als während der Invasion des Libanon 1982 schwimmen sie damit gegen den Mainstream des Friedenslagers. Indem sie einen Krieg denunzieren, der als alternativlos präsentiert wird, identifizieren sie sich mit einem Feind, den die Medien als Bedrohung der Existenz des Staates Israel beschreiben.
Dieser Widerstand liefert ein Beispiel dessen, was zu tun ist: Ungehorsam, Verweigerung der Mitarbeit an einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aktiver Widerstand statt bloßem Protest und Verurteilung. Nur ein solcher Widerstand kann die Chance, die von der PLO in den späten 80er Jahren angeboten wurde, am Leben halten. Dadurch kann das israelische Volk trotz seiner Verbrechen und der Zerstörung auf Akzeptanz seitens der arabischen Welt hoffen. Um Sodom und Gomorrah zu retten, waren zehn "Gerechte" nötig. Sie waren nicht vorhanden.
Wenn unser erstes Ziel es ist, unabhängig von unserer Anzahl, aktive Solidarität mit dem palästinensischen Volk zu üben, ist unser zweites Ziel, die israelische öffentliche Meinung solcherart zu verändern, dass wir dereinst das Recht haben zu sagen: "Es gab genug Gerechte in Sodom, die für seine Verschonung bitten konnten."

7. Kriegsverbrechen, Massaker und Kollateralschäden

Ein Massaker erfordert nicht die Absicht, ein Massaker zu verüben. Bei der Unterdrückung des Aufstands im Warschauer Ghetto gab es ein Massaker (dadurch, dass auf jeden, der sich bewegte, geschossen wurde und bewohnte Häuser zerstört wurden), obwohl es nicht die Absicht der Waffen-SS war, die Juden zu massakrieren, sondern sie einzufangen, um sie später in Treblinka zu massakrieren. Und ein Massaker erfordert auch nicht "Hunderte" von Opfern. Niemand kann leugnen, dass es 1956 in Kafr Qassem ein Massaker gab, obwohl weniger als 60 Menschen auf brutale Weise getötet wurden. Ein Massaker ist das Töten unbewaffneter Zivilisten durch ein Individuum, einen Mob, eine Miliz oder eine militärische Einheit.
Es gab ein Massaker in Jenin. Punkt. Aber das ist nicht die Frage. Es geht um Kriegsverbrechen sowie um den Vorwurf der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Kriegsverbrechen sind Verbrechen, die von einer Armee begangen werden, indem sie das Kriegsrecht verletzt. Ein juristischer Berater der israelischen Armee warnte das Oberkommando der Armee, dass "Kollateralschäden" in einem Verhältnis zu den militärischen Zielen stehen müssten, andernfalls könnten diese "Schäden" als Kriegsverbrechen bezeichnet werden.
Die israelische Befriedungsaktion führte zu immensen Kollateralschäden in einer Offensive, die angeblich terroristische Netzwerke neutralisieren sollte. Die Zerstörung der gesamten zivilen Infrastruktur der Palästinenser, die Tötung Hunderter Zivilisten, die Zerstörung Tausender Häuser stehen nach dem Kriegsrecht in einem völligen Missverhältnis zu den angeblichen Zielen der Offensive. In diesem Sinne handelt es sich um Kriegsverbrechen. Das Ausmaß dieser Aktionen rechtfertigt sogar die Anschuldigung der "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", so dass kein politischer Führer, kein Offizier und kein Soldat, der an solchen Verbrechen beteiligt ist, straffrei bleiben darf. Das Haager Tribunal und der jüngst errichtete Internationale Strafgerichtshof warten auf Hunderte israelischer Kriegsverbrecher.

8. Selbstkritik und Abbitte an Yasser Arafat

Während des gesamten Prozesses von Oslo haben viele palästinensische, internationale und sogar israelische Kommentatoren beharrlich davor gewarnt, dass Yasser Arafat kapitulieren wird und "Oslo" ein Abkommen zwischen Israel und der PLO ist, um im Westjordanland und im Gazastreifen palästinensische Bantustans zu errichten. Einige dieser Kommentatoren haben sogar den PLO-Vorsitzenden mit Antoine Lakhed oder Marschall Pétain und die palästinensische Polizei mit der Südlibanesischen Armee oder der französischen Miliz während der Besetzung Frankreichs durch die Nazis verglichen.
Ich vermute, dass einige dieser Experten keine Schwierigkeiten haben werden zu beweisen, dass es keinen Widerspruch gibt zwischen ihrer früheren Analyse und der Tatsache, dass Sharon gezwungen ist, die Autonomiebehörde und die palästinensische Polizei zu zerstören, um den Bantustan-Plan durchzusetzen. Und dass es eine logische Kontinuität gibt zwischen der Bezeichnung Arafats als Kollaborateur und der Notwendigkeit, ihn zu neutralisieren und vielleicht sogar zu ermorden, um das palästinensische Volk zur Kapitulation zu zwingen. Es hat immer Leute gegeben, auch auf der Linken, die nicht zwischen einer nationalen Befreiungsbewegung und einer Bande von Kollaborateuren zu unterscheiden wussten. Solche Leute verdienen nicht allzu viel Aufmerksamkeit.
Aber unter denen, die solche Voraussagen teilten und solche Analysen entwickelten, hat es intelligente Intellektuelle und aufrechte Unterstützer der Sache der Palästinenser gegeben. Von ihnen können wir eine ehrliche Selbstkritik erwarten und vielleicht auch eine Entschuldigung gegenüber Arafat, dessen Leben nun von Israel bedroht ist und der als Nationalheld allen Versuchen widersteht, die ihn zu einer Kapitulation vor dem israelischen Diktat veranlassen wollen.

9. Heldenhafter Widerstand

Es gibt keine Worte, den Widerstand der palästinensischen Männer und Frauen zu preisen. Ich war in Ramallah einen Tag, nachdem sich die israelischen Streitkräfte von der Belagerung des größten Teils der Stadt zurückgezogen hatten. Wenn die Bilder des militärischen Widerstands in Nablus und Jenin viele von uns an die Kämpfer der Ghettos von Warschau und Bialystok erinnern (die mit wenigen Gewehren und Handgranaten Widerstand gegen die mächtige deutsche Armee leisteten, die ganze Gebäude zerstörte, um einige Widerstandskämpfer auszuschalten), so erinnern mich die Männer und Frauen von Ramallah an die Juden des Ghettos von Lódz, die versuchten in einer vollkommen anormalen Situation ein normales Leben zu organisieren, indem sie wieder aufbauten, was zerstört wurde, ihre Kinder zur Schule schickten, die Läden wieder öffneten usw.
Dieser unglaubliche kollektive Wille und die Anstrengung, ihre Menschlichkeit und die Normalität aufrecht zu erhalten, dieser gewaltige Kampf um Leben ist ein außerordentlich heroischer Widerstand, ein Widerstand, den Shaul Mofaz und seine Milizen nicht werden brechen können. Dieser Widerstand ist der endgültige Beweis dafür, dass die Palästinenser in ihrem Freiheitskampf siegen werden.

Michel Warschawski

ist führendes Mitglied des Alternative Information Centre in Jerusalem. In SoZ 2/02 veröffentlichten wir seine Überlegungen zu einem "binationalen Staat" in Palästina. (Übersetzung: hgm.)





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