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Die Verschuldung des Bundes, der Bundesstaaten und der Kommunen entspricht 73% des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die
Schuldverschreibungen des Bundes (mit Ausnahme der Zentralbankpapiere) stiegen von 62 Mrd. Reais (12% des BIP; 1 Real entspricht ca. 0,50 Euro) zu Beginn
der ersten Wahlperiode von Cardoso 1994 auf über 635 Mrd. Reais (51,2% des BIP) im Januar 2002. 53% dieser Summe sind kurzfristig verzinst und 29%
sind dollarisierte Schuldverschreibungen. Auf diese Weise nimmt die öffentliche Schuldenlast in dem Maße zu, wie die Zinsen steigen oder der Real
an Wert verliert.
Die Durchsetzung des Neoliberalismus in Brasilien hat zu einer Verminderung des
Wirtschaftswachstums und zu einer Ausweitung von Erwerbslosigkeit und Verelendung, zu einer erhöhten Abhängigkeit und Verwundbarkeit
gegenüber dem Druck des spekulativen Kapitals sowie gegenüber der nordamerikanischen Herausforderung geführt, die auf die Durchsetzung
der amerikanischen Freihandelszone ALCA abzielt.
Ein Schlüsselelement in den diesjährigen Wahlen ist, insbesondere im Kampf um
das Präsidentenamt, die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Die Bundesregierung hat auf der einen Seite versucht, die Nachfolgefrage mit einem
politisch-ideologischen Belagerungsring zu umgeben, indem sie den imperialistischen Wirtschaftsterrorismus ausgenutzt hat, um ihren Kandidaten nach vorn zu
bringen, und auf der anderen Seite besteht sie gegenüber der Volksopposition auf der Logik des Marktes und beschwört im Übrigen die
Unregierbarkeit des Landes.
Die Konsequenzen und Sackgassen des Neoliberalismus haben indessen die Bedingungen
für den Erhalt der bürgerlichen Macht verschlechtert, sie führten zu Spaltungen innerhalb der bürgerlichen Parteien sowie zu einem seit
1999 anhaltenden enormen Popularitätsverlust des Präsidenten. Mit den Kommunalwahlen des Jahres 2000 hat sich die Ablehnung der neoliberalen
Konterreform in einem Stimmenzuwachs für die Linksparteien niedergeschlagen: Die Arbeiterpartei (PT) konnte ihre Oberbürgermeisterkandidaten
in sechs Landeshauptstädten durchsetzen sowie in Dutzenden von Städten mit mehr als 100000 Einwohnern.
Die von staatlichen Polizeiorganen inszenierte und von den großen Medien
unterstützte Kampagne gegen Führungsmitglieder und Mandatsträger der PT, die Erklärungen des Präsidenten der US-
amerikanischen Zentralbank, Alan Greenspan, des ehemaligen Vizedirektors des IWF, Stanley Fisher, oder des Megaspekulanten Jorge Soros hinsichtlich der
"negativen Auswirkungen auf die Märkte", die die Kandidatur des PT-Präsidentschaftskandidaten Lula hervorrufe, zeigen indessen, dass
die Gegner unseres Projekts nicht zögern, uns zu erpressen oder Desinformation und Terror anzuwenden.
Das Szenarium der Präsidentschaftswahl hat sich mittlerweile geklärt. Nachdem
der neoliberale Regierungsblock das gesamte erste Halbjahr darauf verwandt hat, seine Liste zusammen zu stellen, schickt er nun José Serra und Rita
Camata ins Rennen, hat das formale Bündnis zwischen der sozialdemokratischen PSDB und der bürgerlichen Sammlungspartei PMDB gefestigt und
kann auf die informelle Unterstützung der rechtsliberalen PFL zählen.
Die PPS [die ehemalige Pro-Moskau-KP], die rechtspopulistische PTB und die
linkspopulistische PDT haben sich verbündet, um die Kandidatur von Ciro Gomes zu unterstützen. Die linkssozialdemokratische PSB hält die
Kandidatur ihres Kandidaten Anthony Garotinho aufrecht. Die PT und die [früher proalbanische] PCdoB stehen hinter der Kandidatur von Lula.
Die vom Institut Vox Populi für die Präsidentschaftswahl durchgeführte und
am 26.Juni veröffentlichte Umfrage registriert einen leichten Rückgang für Luiz Inácio Lula da Silva, der allerdings mit 38% immer
noch an der Spitze liegt. Bei der letzten, von dem Institut durchgeführten Erhebung am 30.Mai lag der PT-Kandidat sogar bei 40%.
José Serra (PSDB) hält mit 21% den zweiten Platz und hat sich damit
gegenüber dem Monat Mai um 1 Prozentpunkt verbessern können. Der Ex-Gouverneur des Bundeslands Ceara, Ciro Gomes (PPS), liegt bei 16%
und damit deutlich höher als mit den 9% vom vergangenen Monat. Anthony Garotinho (PSB) liegt mit 11% auf dem vierten Platz. In der letzten Umfrage
wurde er noch mit 13% als Dritter gehandelt.
Der Verlust der politischen Hegemonie des neoliberalen Projekts in Brasilien hat zu
Veränderungen bei der Selbstdarstellung der bürgerlichen Parteien und ihrer Kandidaten geführt. Serra, der Kandidat des Regierungslagers,
verteidigt in seinen Reden sowohl die "wirtschaftliche Stabilität" wie auch die Ideen der "Politik des wirtschaftlichen Wachstums"
und der "Einkommensumverteilung". Ciro Gomes bewegt sich in die linke Mitte und versucht sich als Kritiker des neoliberalen Projekts darzustellen.
Diese Politik entspricht sowohl dem Bestreben mehrheitlicher Teile der bürgerlichen
Eliten in Brasilien, Alternativen gegenüber den neoliberalen Sackgassen herauszuarbeiten, als auch ihrem Versuch, den Dialog mit dem wachsenden Lager
der Kritiker des Neoliberalismus zu suchen. Darüber hinaus versuchen sie mit diesem veränderten ordnungspolitischen Diskurs auf positive
und opportunistische Weise an die Stimmung anzuknüpfen, die in der Bevölkerung und den Volksorganisationen, insbesondere der PT und
in den von ihr geführten Bundesländern und Städten vorherrscht.
Der Widerstand gegen das neoliberale Projekt hat nicht mehr aufgehört: Während
der gesamten Regierungszeit von Cardoso hat die arbeitende Bevölkerung nach Wegen und Möglichkeiten gesucht, die bürgerliche Offensive
zu stoppen. Indem wir politische Spaltungen überwinden konnten, haben wir, insbesondere ab 1999, bedeutende Widerstandsaktivitäten entwickeln
können, u.a. den Marsch der 100000 nach Brasília, die Unterschriftensammlung gegen die Auslandsverschuldung, die Kampftage der
Landlosenbewegung MST für die Landreform. Hinzu kommt die Politik unserer Landesregierungen und Stadtverwaltungen, insbesondere in Rio Grande
do Sul.
Unsere Partei konzentrierte die Debatten und Entschließungen ihres letzten
Bundestreffens vor allem auf die Aufgabe, die Auseinandersetzung mit dem Neoliberalismus über die Präsidentschaftswahl zu suchen.
Im Hinblick auf den Verlauf des politischen Kampfes, währenddessen der Widerstand
gegen das neoliberale Projekt bedeutend gewachsen war, verabschiedete das 12.Bundestreffen der PT die Entschließung "Konzeption und Leitlinien
der PT-Regierung für Brasilien". Auch wenn diese nicht vollständig an den Grad programmatischer Klarheit der vom 5.Bundestreffen im Jahr
1987 angenommenen Thesen anknüpfte und in der ausgearbeiteten Parteistrategie die Rolle des Beteiligungshaushalts für den Aufbau der
Volksmacht keinen Stellenwert hat, so überwinden die verabschiedeten "Leitlinien" dennoch einige bedeutsame programmatische
Zweideutigkeiten, wie sie sich in den Wahlen von 1994 und 1998 gezeigt hatten.
Die mit einigen wichtigen Änderungsanträgen angenommene Entschließung
unterstreicht den "demokratischen und popularen Charakter" unseres Regierungsprogramms und besteht darauf, "dass kein Zweifel daran
bestehen kann, dass eine demokratische Volksregierung einen klaren und umfassenden Bruch mit dem bestehenden Modell herbeiführen muss, um die
Grundlagen für die Verwirklichung eines alternativen Entwicklungsmodells zu schaffen", das die demokratischen, sozialen und nationalen Fragen
zum Ausdruck bringt.
Indem die vergangenen Illusionen hinsichtlich des progressiven Charakters der herrschenden
Klassen Brasiliens fallengelassen wurden, hat unsere Partei mit der angenommenen Entschließung bekräftigt, dass die Umsetzung unseres
Regierungsprogramms "nur dadurch möglich wird, dass ein neues Kräfteverhältnis geschaffen wird, durch das mit den
aufeinanderfolgenden konservativen Bündnissen gebrochen werden kann, die das Land über Jahrzehnte beherrscht haben".
Der Erfolg im Aufbau einer massenhaften gesellschaftlichen Alternative, die in der Gesamtheit
der Nation mehrheitsfähig ist, macht es erforderlich, dass die PT und Genosse Lula der Bevölkerung verständlich darlegen, nach welchen
Maßstäben sie regieren werden, dass sie die Unfähigkeit der konservativen Parteien herausstellen und dass sie sich einem nationalen Projekt
verpflichten und sich zu Sachwaltern der arbeitenden Bevölkerung sowie der kleinen und mittleren Produzenten in Stadt und Land machen.
Die in der PT laufende Debatte über die Ausweitung unserer Bündnispolitik unter
Einschluss der Liberalen Partei (PL) und weiterer Parteien der Mitte und der rechten Mitte läuft diesem Erfordernis zuwider und steht nicht im Einklang
mit den Entschließungen des 12.Bundestreffens der Partei. Sie berücksichtigt auch nicht die Erfahrungen unserer eigenen Geschichte.
Dabei hatten wir bereits einige ruinöse Erfahrungen mit derartigen
Gelegenheitsbündnissen. Noch unlängst hatte sich die PT an der Regierung des Gouverneurs Itamar Franco (PMDB) beteiligt und musste diese
schließlich unter erniedrigenden Umständen mit großem Schaden für die gesamte Partei im Bundesstaat Minas Gerais wieder verlassen
es reicht, sich diesbezüglich die letzten Wahlergebnisse für die PT in diesem Bundesstaat anzuschauen.
Diese unglückselige Erfahrung zeigt, dass dieser Typ von Gelegenheitsbündnissen
der Partei schadet, sowohl vom programmatischen wie vom wahlpolitischen Standpunkt. Die gegensätzliche Entwicklung zu der Erfahrung von Minas
Gerais konnten wir bei den Kommunalwahlen des Jahres 2000 etwa in Porto Alegre beobachten und beim Wahlsieg von Olívio Dutra, als dieser die
Landesregierung von Rio Grande do Sul im Jahr 1998 gewann: Ausgehend von der Einheit des demokratischen und popularen Lagers ist es möglich, die
Gesellschaft mitzureißen und eine gesellschaftliche Legitimität zu schaffen, um mit demokratischen Reformen in Staat und Gesellschaft zu
beginnen.
Diese jüngsten Lehren bestärken die These, dass die Partei des demokratischen
Sozialismus politische und Wahlerfolge erzielen kann, wenn sie sich von der Rechten und der Korruption politisch und ethisch klar abgrenzt und wenn die
Veränderungen, für die wir kämpfen, die Mobilisierung eines politischen Willens zur Grundlage haben, der das demokratische und populare
Lager zusammenschließt und wenn das Projekt die Hoffnungen und den Kampfeswillen der Mehrheit unseres Landes zum Ausdruck bringt.
Die Machbarkeit einer Regierung, die fähig ist, die grundlegenden gesellschaftlichen
Veränderungen einzuleiten, die das Land braucht, hängt vor allem von programmatischer Stimmigkeit ab und von einer hochentwickelten
Fähigkeit zum Dialog mit den sozialen Bewegungen, die nicht den Bündnissen untergeordnet werden dürfen, weil dies die Regierung dabei
lähmen und daran hindern wird, ihr Projekt nach vorn zu bringen.
Gelegenheitswahlbündnisse mit Parteien der Mitte und von Mitte-Rechts
gewährleisten die erforderliche programmatische Kohärenz und diese Fähigkeit zum Dialog nicht nur nicht, sie verhindern sie geradezu.
Zu einer Zeit, in der der Kandidat des Regierungslagers für eine kontinuierliche
Fortsetzung der Politik ohne Kontinuität eintritt und sich selbst zu legitimieren versucht, indem er uns als Alternative delegitimieren will, indem er Lula
und die PT sowohl programmatisch und praktisch mit sich gleichsetzt, kommt es entscheidend darauf an, sich an Entschließungen des 12.Bundestreffens
der Partei zu halten, die Klarheit unseres Projekts zu bewahren und davon ausgehend unsere Glaubwürdigkeit als verlässliche Vorkämpfer der
Hoffnungen von Millionen Brasilianerinnen und Brasilianern zu stärken.
Raúl Pont