SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2002, Seite 19

Ernst Blochs Vermächtnis

Wissenschaft und Utopie

Am 4.August jährt sich zum 25.Mal der Todestag des deutschen marxistischen Philosophen Ernst Bloch. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir einen in der US- amerikanischen Zeitschrift Against the Current (Mai/Juni 1996, www.solidarity-us.org) erschienenen Beitrag von Tim Dayton in stark gekürzter Fassung (Übersetzung: Dirk Krüger), in dem der Autor auf die Aktualität von Blochs Theorie der Ungleichzeitigkeit eingeht.

Die Linke sieht sich neben all den geschichtlichen Bürden und heutigen Dilemmata auch einer Krise der Zukunft gegenüber. Diese Krise der Zukunft ist für einen Großteil der Verzweiflung — oder ihrem profansten Ausdruck, der Apathie — verantwortlich, die in der Linken häufig ist. Uns fehlt ein bedeutungsvoller Sinn für die Zukunft, und als Folge fehlt uns die Hoffnung; denn die Hoffnung erfordert eine vorgestellte Zukunft, ein Boden, auf dem diese verwirklicht werden kann. Hoffnung, die in der Zukunft realisiert wird: was ist das anderes als eine Formel für Utopie?

Bloch, Utopie und Faschismus

Ernst Blochs Interesse am Begriff der Utopie ergibt sich aus dem Titel seines ersten Buches: Geist der Utopie (1918). Aber Blochs besondere Vorstellung von Utopie, wie sie sich im Laufe seines akademischen Lebens entwickelte, unterscheidet sich von solchen wohlfeilen Entwürfen einer friedvollen Welt, die einen sofort in den Sinn kommen, wann immer das Thema Utopie zum ersten Mal angeschnitten wird.
Für Bloch ist die Utopie nicht einfach Gegenstand einer rationalen Konstruktion und Projektion in die Zukunft, sondern auch etwas, das sehr stark im Hier und Jetzt verankert ist, obwohl es nur für flüchtige Augenblicke oder Bilder verfügbar ist.
Des Weiteren sind diese utopischen Bilder nicht notwendigerweise eng mit "fortschrittlicher" Politik verbunden. In der Tat betrifft einer der scharfsinnigsten Analysen der utopischen Dimension, die Bloch vorgenommen hat, ihre Funktion für die Anziehungskraft des Faschismus, der in der Lage ist, eine antikapitalistische Metaphorik zu aktivieren, die als Antizipation oder vorbildhafte Darstellung der Utopie fungiert. Somit knüpft diese reaktionäre Bewegung an langwährende Traditionen an, die durch die allzu rationalistische Linke des 19. und 20. Jahrhunderts aufgegeben wurden.
Dadurch, dass sie weit von sich wies, etwas mit "mystischen" oder "irrationalen" Protesten gegen die Entfremdung und die repressive Rationalisierung des industriellen Kapitalismus zu tun zu haben, beteiligte die Linke sich intellektuell an der genauso quantitativen (und auf ihre eigene Weise mystifizierenden) Logik, wie ihr Gegner, das Kapital, und überließ den Kräften der Reaktion wichtiges Terrain.
Blochs Analyse der faschistischen Aneignung utopischer Metaphorik wird in seiner Bewertung des Begriffs des Dritten Reiches deutlich, der uns heute als Ausdruck politischen Schreckens bekannt ist. Aber Bloch verfolgt seine Spur zu den Ursprüngen im Alten Testament zurück und zu seinem Wiederauftauchen im Mittelalter unter den christlichen Häretikern und der Sozialtheologie der Bauernaufstände.
Hier diente der Begriff eines dritten Zeitalters dazu, eine Welt auszumalen, in der Freiheit und Solidarität in einem wiedererrichteten primitiven Kommunismus herrschten. Solch eine Vision leitete die emanzipatorischen Bewegungen bis ins 19. Jahrhundert.
Marx berühmter Durchbruch verband solch utopische Visionen zu einer konkreten, wissenschaftlichen Analyse der Dynamik des Kapitalismus und des Klassenkampfs. Aber am Ende des 19. Jahrhunderts ging die Doppelseitigkeit der Marx‘schen Synthese verloren, zum Teil weil das Kapital, indem es von seinen Gegnern verlangte, entsprechend seiner Logik zu denken, das Bewusstsein eben dieser Gegner eroberte.
Im Ergebnis fiel die Vorstellung von einem dritten Zeitalter, die ihre Anziehungskraft auf große Teile der Massen behielt, in die Hände der Rechten, deren objektiv falscher Antikapitalismus, subjektiv dennoch richtig war: Indem sie sich auf ein utopisches Bild der Vergangenheit bezog, schlug die Rechte eine Seite an, die die Linke nicht hören wollte. Die Massen waren einer "Erfüllungslüge" preisgegeben.
Wie seine Analyse des Faschismus gezeigt hat, argumentiert Bloch, dass selbst die hässlichste und reaktionärste Bewegung in der Geschichte ihre utopische Dimension hat und es die Aufgabe des Marxismus als die "konkret vermittelte Utopie" ist, sowohl diese verborgenen utopischen Elemente aufzustöbern als auch ihre Verwirklichung in der Welt zu ermöglichen.
Solch eine Position brachte Bloch viel Kritik ein, besonders von orthodoxen "Marxisten-Leninisten". Auf dem VII. Kongress der Kommunistischen Internationale [1935] wurden die Delegierten mit Hans Günthers Der Herren eigener Geist ausgestattet, worin Bloch wegen seiner Neigung zu einer Kapitalismuskritik angegriffen wird, die — wie Günther erklärt — den Kapitalismus in Wirklichkeit bestätige, weil sie in einer vergangenen und längst überwundenen Epoche, dem Feudalismus, wurzele.

Bloch und der gelebte Augenblick

Zwei Herausforderungen Blochs sind gegenwärtig besonders verlockend: sein Verständnis von Geschichte und Zeit und seine Entfaltung einer Rolle der Subjektivität.
Blochs Herausforderung für das Verständnis von Geschichte und Zeit nimmt das rein objektive Verständnis von Geschichte, als Entwicklungsfortschritt — selbst bei so subtilen Leuten wie Lukács — ins Gebet. Bloch verkündet in einem typischen Statement mit kryptischer Oberfläche, aber innewohnender Klarheit: "Nicht alle sind im selben Jetzt da." Natürlich kann man sagen, alle lebenden Menschen koexistieren rein physisch zu einem gegebenen Zeitpunkt. "Damit aber leben sie noch nicht mit den anderen zugleich." (Erbschaft dieser Zeit, 1935.)
Diese Aussage muss in zwei Schritten erklärt werden: zuerst im Sinne von Blochs Konzeption des gelebten Augenblicks, "Jetzt", und zweitens im Sinne seines Geschichtsverständnisses. Für Bloch offenbart sich der grundlegende Zug jedes "Jetzt" nicht nur darin, was Vergangenheit und was Gegenwart ist, sondern auch darin, was abwesend ist.
Das, was am ehesten den gelebten Augenblick kennzeichnet, ist somit seine Unzulänglichkeit, das Gefühl, dass "etwas fehlt", welches die Weise ausmacht, in der Menschen den wirklichen Mangel an Freiheit und Erfüllung in ihrem Leben registrieren. Aber dieses Gefühl von Unzulänglichkeit und Mangel entwickelt sein Gegenteil, die Vision einer Welt die adäquat ist — Utopie.
Die Utopie, die irgendeine Gruppe von Menschen entwickelt, hängt bis zu einem gewissen Grad von den genauen materiellen Bedingungen ab, unter denen sie leben. Aber Bloch würde argumentieren, dass man weder das Bewusstsein der Menschen einfach von ihren materiellen Bedingungen ablesen kann, noch die Menschen verstehen kann, ohne ihre jeweiligen utopischen Projektionen zu begreifen — weil solche Projektionen, wenngleich sie nicht materieller Art sind, einen wirklichen Bestandteil des Lebens der Menschen, ein Teil des "Jetzt", in dem sie leben, ausmachen.
Zweitens stellt Blochs Geschichtsverständnis eine angereicherte und ausgearbeitete Version der Theorie der kombinierten Entwicklung dar. Das bedeutet, dass die grundlegenden Fragestellungen und Widersprüche, aus denen die Menschen ihre Beziehung zur Gesellschaft ableiten, nicht einheitlich sind, sondern vielmehr ein Mosaik von Elementen bilden, die ihren Ursprung in einem Gemenge historischer und kultureller Momente haben.
In dieses Mosaik pflegte Bloch das einzufügen, was dort nicht vorhanden ist, die verschiedenen Vorstellungen unterschiedlicher Gruppierungen darüber, dass "etwas fehlt". Diese zwei Prinzipien, die Unzulänglichkeit des gelebten Augenblicks und eine Version der Theorie der kombinierten Entwicklung, liefern die Basis für Blochs Theorie der "Ungleichzeitigkeit".

Ungleichzeitige Widersprüche

Blochs Theorie der Ungleichzeitigkeit eröffnet die Möglichkeit, einen gegebenen historischen Augenblick als ein Nebeneinander von Elementen zu sehen, die sich sowohl aus der derzeitigen gesellschaftlichen Ordnung als auch den vergangenen Ordnungen herleiten — die, wenngleich sie nicht länger vorherrschend sind, materielle und (obwohl der Begriff nicht ganz zutreffend ist) ideologische Kraft behalten.
Dies ist der Fall bei jenen ungleichzeitig lebenden deutschen Bauern in der Mitte des 20.Jahrhunderts, die, obwohl sie in einer Nation lebten, die in die gegenwärtige Welt des industriellen Kapitalismus verstrickt war, in einem "Jetzt" lebten, das durch Bestimmungen und utopische Wünsche früherer geschichtlicher Momente definiert war. Solche Menschen leben in einem authentischen ungleichzeitigen Widerspruch mit dem Kapitalismus.
Ein gleichzeitiger Widerspruch ist einer, dessen Ursprung in dem sich entwickelnden Konflikt zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften liegt. Bloch bekräftigt geradeheraus die Wirklichkeit und Wichtigkeit des gleichzeitigen Widerspruchs, aber er erklärt auch: "er ist in ihr nicht der einzige." (Ebd.)
Um richtig verstanden zu werden: jeder Moment muss als etwas betrachtet werden, das eine Vielzahl an "Jetzt" beinhaltet. Die Form der Unterdrückung und Ausbeutung, die die Arbeiterklasse erleidet, wird von einer parallel, aber ungleichzeitig verlaufenden Unterdrückung anderer Gruppen begleitet, deren historische Wurzeln und Vorstellungen in der Vergangenheit liegen — oder vielmehr in der Zeit, die der gleichzeitige Widerspruch zur Vergangenheit erklärt.
In diesem gegebenen Rahmen (der, trotz seines ketzerischen Charakters in der Zeit, in der Bloch ihn entwickelte, mit Marx‘ Vorstellung der Gesellschaft als "einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen" [Grundrisse], überein zu stimmen scheint) besteht die politische Aufgabe der Linken nun darin, nicht nur das Proletariat, sondern auch ungleichzeitige Gruppen in die Arena gegenwärtiger Konflikte zu führen.
Dies erfordert mehr, als lediglich ein politisches Bündnis zu schmieden; die Linke hat auch die Aufgabe, "die zur Abneigung und Verwandlung fähigen Elemente auch des ungleichzeitigen Widerspruchs herauszulösen, nämlich die dem Kapitalismus feindlichen, in ihm heimatlosen, und sie zur Funktion in anderem Zusammenhang umzumontieren" (Erbschaft dieser Zeit).
Ein entscheidender Teil dieser Herauslösung ist für Bloch, die utopischen Bilder und Wünsche wachzurufen, die in den Vorstellungen dieser ungleichzeitigen Gruppen eingeschlossen und bislang in der Welt unerfüllt sind. Hier entwickelt Bloch das, was als subjektives Gegenstück zu Antonio Gramscis Behauptung angesehen werden kann, eine Klasse müsse ihre streng korporativen, eng definierten Interessen überwinden, um andere Klasse führen zu können (also Hegemonie auszuüben).
Blochs Theorie des ungleichzeitigen Widerspruchs stellt nicht nur die Linearität des "orthodoxen kommunistischen" Geschichtsverständnisses in Frage, sondern auch dessen politische Antwort auf den Faschismus. Bloch macht die KPD für den Sieg des Faschismus mitverantwortlich, indem er ihr Versagen, die revolutionären Vorstellungen aller potenziell revolutionären Klassen aufzugreifen, darlegt.

Bloch und die heutige Linke

Obwohl sich die gegenwärtige Lage der Linken in den USA ohne Zweifel von jener ziemlich unterscheidet, die Bloch vorfand, gibt es noch viel von diesem oft mit persönlichen Eigenarten behafteten, aber hochgradig originellen und kraftvollen Denker zu lernen.
Dazu gehört, auch in den abstoßendsten politischen Bewegungen nach utopischen Vorstellungen zu suchen, die ihre Anhänger bewegen. So muss die Ausbreitung der neuen Rechten und der religiösen Rechten nicht nur bekämpft werden, sondern — vorher — auch verstanden werden. Zum Teil reagieren diese Bewegungen, mit der von Bloch so gut analysierten "angestauten" Wut, auf das gegenwärtige Bild des Kapitalismus.
Bloch würde der Linken den Rat geben, dass sie die Mittel finden muss, um die potenziell progressiven (sogar revolutionären) Elemente von den reaktionären Elementen, mit denen sie gegenwärtig gemeinsam artikuliert werden, zu trennen.
Natürlich kann man Blochs Methoden nicht einfach in Gänze anwenden. (Das Element wahrhaft ungleichzeitiger Widersprüche, ist gegenwärtig sicherlich wesentlich geringer als während der Nazi-Bewegung. Außerdem muss die objektive Seite dieser Gleichung sorgfältig ausgearbeitet werden, nicht nur in Hinblick auf die Ökonomie, sondern auch in Bezug auf die Rolle der Medien, insbesondere des Radios und des Fernsehens, bei der Bildung der einzelnen Denkweisen, die wir jetzt vorfinden.) Aber Blochs hartnäckiges Festhalten an utopischen Prinzipien bildet immer noch einen wichtigen Bestandteil für eine Erneuerung der Linken. Wir dürfen keine Furcht vor utopischen Projektionen zeigen: Sie bilden das, was Bloch als "Theologie" der Linken bezeichnet.
Im Idealfall liefert uns die "wissenschaftliche" Tendenz innerhalb des Marxismus exzellente Werkzeuge für die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft — einschließlich ihrer Ursprünge, ihres aktuellen Zustands und möglicher zukünftiger Mutationen — sowie für die Klärung der Frage, welche praktischen Schritte unternommen werden können, um gesellschaftliche Institutionen zu schaffen, die der vollständigen Entwicklung der Menschen dienlich sind.
Die "utopische" Tendenz bietet uns im Idealfall nicht nur ein Verständnis für "heldenhafte" Elemente in der Geschichte (jene Visionen einer besseren Welt, für die Menschen gekämpft haben und auch zukünftig kämpfen werden), sondern auch bruchstückhafte und entstellte Blicke auf eine mögliche Zukunft — oft als eine Sehnsucht nach Vergangenem dargestellt —, die Spuren einer Utopie darstellen.
Die Linke braucht beide Tendenzen, und es wird ein Zeichen ihrer zunehmenden Reife sein, wenn sie beginnt, sie zu verbinden.

Tim Dayton



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