SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, August 2002, Seite 24

40 Jahre Unabhängigkeit Algeriens

Frankreichs KP und der Kolonialismus

Vor vierzig Jahren wurde Algerien unabhängig. Jakob Moneta blickt zurück auf die französische Linke und ihr Verhältnis zum algerischen Unabhängigkeitskrieg.

Ich möchte hier auf den heroischen Befreiungskampf des algerischen Volkes von der französischen Kolonialherrschaft eingehen. Dieser fand auch die Unterstützung der Linken in Deutschland. Wer weiß denn heute noch, dass damals in Köln die Zeitung Freies Algerien auch mit Unterstützung des SPD- Bundestagsabgeordneten Wischnewski erschien, der später zu "Ben Wisch" wurde?
Wer weiß, dass auch deutsche "Falken" oder Jungsozialisten in der in Marokko errichteten Waffenfabrik zur Unterstützung der FLN arbeiteten? Dass es im IG-Metall-Apparat Verbindungen zur algerischen Befreiungsfront FLN gab? Dass Michel Raptis (Pablo), Sekretär der IV.Internationale, in Osnabrück eine geheime Druckerei mit dem niederländischen Genossen Sal Santen errichtete, die für die FLN Ausweise und Pässe druckte und die aufflog, als sie hervorragendes Falschgeld für die FLN produzierte — ein CIA-Agent hatte das verraten. Santen und Raptis standen in Amsterdam vor Gericht, wo die Öffentlichkeit — dank ihrer hervorragenden, politischen Verteidigung — auf ihrer Seite war, und sie kamen mit 15 Monaten Gefängnis davon.
Aber am allerwenigsten ist bekannt, was ich, der ich damals Sozialreferent an der deutschen Botschaft in Paris war, mitbekam: Wie nämlich die französische Regierung Druck ausübte auf die BRD mit dem Argument: "Wenn ihr nicht anerkennt, dass Algerien zu Frankreich gehört, und verhindert, dass die FLN in Deutschland aktiv ist, werden wir nicht anerkennen, dass die DDR zur BRD gehört und die DDR als Staat anerkennen."
Als ich für einige Monate als Verantwortlicher für Frankreich und Algerien in das Auswärtige Amt nach Bonn entsandt wurde, erschienen Vertreter des französischen politischen und militärischen Geheimdienstes in Bonn und forderten die Unterbindung der Tätigkeit der FLN. Die Diskussion fand in einer geheimen Sitzung statt, und der Vertreter der BRD — ein CDU-Mann — erklärte, das Grundgesetz erlaube auch Ausländern in der BRD, politisch tätig zu sein.
Daraufhin meinten die französischen Geheimdienstler, es sei doch möglich, dies durch polizeiliche administrative Maßnahmen zu umgehen. Da erhob sich der Leiter auf deutscher Seite — ein CDU-Mann — und erklärte: "Meine Herren, diese Verfassung ist uns von den Alliierten aufoktroyiert worden. Wir werden uns daran halten." Und er hob die Sitzung auf. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass die rot-grüne Koalition den USA das gleiche gesagt hätte, als diese die deutsche militärische Unterstützung für ihren Krieg in Jugoslawien und Afghanistan forderten!

Kommunistischer Antikolonialismus

Aber gehen wir nun auf die Kolonialpolitik Frankreichs ein. Die französische Arbeiterbewegung stand historisch an der Spitze des Kampfes gegen die kolonialen Expeditionen. Die sozialistischen Führer prangerten mutig die kolonialistischen Abenteuer Frankreichs an. Diese politischen Kämpfe in Frankreich waren jedoch losgelöst von den Aufständen, die zur gleichen Zeit im französischen Kolonialreich selbst wüteten.
Diese standen zumeist unter der Leitung der Nachkommen ehemaliger einheimischer Führer, die sich um ihr Erbe betrogen fühlten. Die ersten bedeutenden politischen Bewegungen von Einheimischen entstanden nach dem Ersten Weltkrieg. Sie waren von Land zu Land verschieden — ebenso wie ihre Ziele, die von größerer Autonomie bis zur Forderung nah völliger Selbstständigkeit reichten.
Als auf dem Kongress der Sozialistischen Partei Frankreichs 1920 in Tours die Mehrheit dafür stimmte, die 21 Bedingungen anzunehmen, die Voraussetzung dafür waren, zur III. (Kommunistischen) Internationale zugelassen zu werden, was eben zur Gründung der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) führte, musste sich diese Partei entsprechend der 8.Bedingung zu Folgendem verpflichten:
"Jede Partei, die der III.Internationale anzugehören wünscht, ist verpflichtet, die Machinationen ‚ihrer‘ Imperialisten in den Kolonien rücksichtslos zu entlarven, jede Freiheitsbewegung in den Kolonien nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten zu unterstützen, die Verjagung ihrer Imperialisten aus den Kolonien zu fordern, in den Herzen der Arbeiter ihres Landes wirklich brüderliche Gefühle für die werktätige Bevölkerung der Kolonien und der unterdrückten Nationen zu wecken und unter den Truppen ihres Landes eine systematische Arbeit gegen jegliche Unterdrückung der Kolonialvölker zu treiben."
Trotzdem musste die PCF sowohl gegen Vorurteile der französischen Arbeiterschaft im Mutterlande als auch gegen die der europäischen Kommunisten in den Kolonien angehen. Aber eine entscheidende Wende trat 1924/25 mit dem Aufstand von Abd-el-Krim und dem Marokko-Krieg ein. Der Zeitraum 1925 bis 1935 war die Periode, in der sich in der PCF die leninistische Auffassung vom Kampf gegen den Kolonialismus durchsetzte und erfolgreich angewandt wurde. Gegen enorme Schwierigkeiten und Widerstände auch in den eigenen Reihen unterstützte die PCF in Algerien die Bewegung, die sich um den Emir Khaled gebildet hatte, und gewann dadurch auch Einfluss unter den in Frankreich arbeitenden Algeriern.
Die Kommunisten forderten auch zur Verbrüderung zwischen französischen Soldaten und der Rif-Armee von Abd-el-Krim in Marokko auf. Sie wandten sich gegen die Losung der Sozialdemokraten "Frieden für das Rif" und forderten "die vollständige Evakuierung Marokkos durch Frankreich". Die PCF organisierte in Frankreich Demonstrationen, verteilte Flugblätter in französischer und in arabischer Sprache unter den Soldaten.
Den Höhepunkt erreichte die Kampagne mit einem 24-stündigem Proteststreik am 12.Oktober 1925 gegen den Krieg in Marokko, an dem sich Hunderttausende Arbeiter beteiligten. Es war der erste politische Streik in der Metropole gegen einen Kolonialkrieg.

Wendepunkt Volksfront

Aber nachdem Hitler in Deutschland an die Macht kam und am 15.Mai 1935 in einer gemeinsamen Erklärung des französischen Außenministers Pierre Laval mit Stalin die Haltung der PCF zur nationalen Verteidigung im kapitalistischen Regime völlig geändert wurde, widersetzte sich die PCF auch einer sofortigen Unabhängigkeit der Kolonien. Die Begründung lautete, die Kolonien könnten in die Hände Hitlers und Mussolinis fallen.
Die französische Volksfront, die dann gebildet wurde, war nicht nur eine Koalitionsregierung der Sozialdemokraten unter Führung von Léon Blum mit den bürgerlich-liberalen Radikalen, unterstützt von der PCF. Die Volksfront stand vor allem unter dem Druck einer gewaltigen Massenstreikbewegung, an der vom 7. bis 12.Juni 1936 zwei Millionen Menschen beteiligt waren.
Die Massen strömten zu Hunderttausenden in die politischen Organisationen der Linken, und Millionen traten den wiedervereinigten Gewerkschaften bei. Die Volksfront verschaffte den Arbeitenden unschätzbare soziale Vorteile — die 40-Stunden-Woche, zum ersten Mal in der Geschichte einen bezahlten Urlaub für alle, erhebliche Erhöhung der jämmerlich niedrigen Löhne und Gehälter.
Aber, so der Historiker Paul Louis: "Die CGT [die vereinigte Gewerkschaftsbewegung mit fünf Millionen Mitgliedern] hätte, wenn sie es wollte, die Macht erobern können, denn ihre Einheit und Stärke waren im Feuer des Kampfes geschmiedet worden und die Unternehmerschaft zitterte vor ihr." Aber der PCF-Führer Maurice Thorez erklärte, man müsse auch verstehen, einen Streik zu beenden. Es ginge nicht darum, die Macht zu erobern. André Ferrat, Mitglied des ZK der PCF, erklärte vergeblich in der Sitzung vom 25.Mai 1936, die Partei solle den Bruch mit der Regierung Blum vollziehen, sich an die Spitze der Massenbewegung — der größten seit 1919 — setzen und den Arbeitern sagen: "Ihr werdet nur das erreichen, was ihr durch eure Aktion erzwingt."
Die Volksfrontregierung unternahm nichts gegen die reaktionären französischen Kräfte in Nordafrika. Hingegen beschloss der Ministerrat am 26.Januar 1937 die Auflösung des "Nordafrikanischen Sterns", der unter der Führung seines Gründers Messali Hadj zur bedeutendsten antikolonialistischen Bewegung geworden war. Die Begründung für die Auflösung lautete: Der Nordafrikanische Stern sei eine "separatistische Organisation, deren Aktion sich klar gegen Frankreich richtet". Franco rief jetzt in arabischsprachigen Zeitungen die Völker Nordafrikas zum Aufstand gegen Frankreich auf. Die PCF tat es nicht mehr!
Wenn aber in der Praxis der Kampf für die Unabhängigkeit nicht mehr geführt werden darf, weil Gefahr droht, dass sonst diese Gebiete von Mussolini oder Hitler besetzt werden, dann muss die faschistische Demagogie an Boden gewinnen, weil sie als einzige vorgibt, diesen Kampf gegen Frankreich zu führen und ihn in der Praxis unterstützt. Der Faschismus hatte um so leichteres Spiel, als alle Reformen der Volksfront in den Kolonialgebieten nur auf dem Papier standen und nicht verwirklicht wurden.

Algerische Unabhängigkeit

Die PCF beteiligte sich nach der Befreiung Frankreichs an der Regierung (mit fünf Ministern) und damit auch an den Unterdrückungsmaßnahmen in Nordafrika. Sie verteidigte die Union Française. Bereits in den ersten Monaten des Krieges in Indochina stimmten die PCF-Abgeordneten für die Kriegskredite. Nachdem die PCF am 5.Mai 1947 aus der Regierung des Sozialdemokraten Paul Ramadier ausgebootet wurde und der Kalte Krieg begann, der in Korea 1950 zum heißen Krieg wurde, vollzog sie eine scharfe Wendung, die sich auch in ihrer Kolonialpolitik auswirkte. Zwei Themen wurden nun angeschlagen: Das nationale Interesse Frankreichs (nicht die internationale Solidarität mit der Kolonialrevolution) gebiete die Beendigung des Krieges in Indochina, und der US-Imperialismus werde in den Kolonien an die Stelle Frankreichs treten.
Die algerische Revolution begann am 1.November 1954. Am 29.Juli 1956 stimmten die PCF-Abgeordneten zum ersten Mal gegen die Kredite, die für die Fortführung des Algerienkriegs bestimmt waren. Als der Sozialdemokrat Guy Mollet am 1.Februar 1956 Ministerpräsident wurde, nahm ich am Kongress seiner Partei als Gast teil. Ich war, ebenso wie fast alle Kongressteilnehmer, davon überzeugt, dass jetzt Verhandlungen mit der FLN-Führung aufgenommen würden, um diesen grausamen Krieg zu beenden.
Aber das Gegenteil geschah. Nach der Ernennung von Georges Catroux durch Guy Mollet zum Ministre Résident in Algerien im Februar 1956, die auf den Widerstand der französischen Siedler stieß, weil Catroux ihnen zu gemäßigt war, wurde dieser von Robert Lacoste abgelöst. Im Vergleich zu Lacoste war Noske geradezu ein Ausbund an Fortschrittlichkeit.
Lacoste setzte zum ersten Mal die reguläre französische Armee ein. Ganze Dörfer wurden durch Napalmbomben vernichtet. Es wurde gefoltert und gemordet. Bis heute kennt niemand die genaue Anzahl der Opfer, die in die Hunderttausende geht — auch unter einer sozialdemokratischen Regierung.
Mir war nach allem, was ich von den Terrormaßnahmen, den Folterungen, den Razzien, den Bombardierungen in Algerien wusste, unbegreiflich, dass die FLN und das algerische Volk all dem standhielten und nicht aufgaben. In einem Pariser Café stellte ich diese Frage der damals noch jungen algerischen Schriftstellerin Assja Djebar, der im Jahr 2000 in Frankfurt ein Friedenspreis verliehen wurde. Sie antwortete: "Wenn ein algerischer Fellache für die FLN rekrutiert wird, erhält er zum ersten Mal in seinem Leben ein paar Schuhe und ein Gewehr. Damit wird er zum ersten Mal zu einem Menschen. Das Selbstbewusstsein, das er dadurch gewinnt, das Gefühl, dass er für die Befreiung seines Volkes kämpft, jetzt kämpfen kann, lässt ihn alles ertragen bis zum Sieg."
Ich werde auch nie vergessen, was Pierre Mendès-France, 1956 für kurze Zeit Minister und wegen des Algerienkriegs zurückgetreten, uns bei einem politischen Gespräch während eines Abendessens auf die Frage sagte, ob denn de Gaulle nochmals eine Rolle spielen werde. "Ebenso wie eine Quelle, die im Gebirge entspringt, ins Tal fließen muss, werden de Gaulle und das französische Volk noch einmal zusammenkommen", sagte er. "Aber wie soll das geschehen", fragte ich, "wenn es in der Nationalversammlung nur 17 gaullistische Abgeordnete gibt?" Mendès-France hierauf: "Diese Frage ist typisch deutsch. Die Dinge geschehen, weil sie geschehen müssen."
Als die Generäle in Algier mit einem Putsch drohten, weil sie eine Wende in der Algerienpolitik fürchteten, wurde de Gaulle Ministerpräsident und Mollet Staatsminister in seinem Kabinett. Nun begann das Rätselraten, wie de Gaulle das Algerienproblem lösen würde. Ein deutscher Emigrant, der in der französischen Widerstandsbewegung gekämpft hatte und die Rosette de la Résistance erhalten hatte, berichtete uns in der Botschaft, de Gaulle habe ihm in einem Interview gesagt, L‘Algérie aura sa liberté, Algerien wird seine Freiheit haben.
Tatsache ist, dass de Gaulle nicht aufgrund einer tiefen, die gesamte Gesellschaft erschütternden Wirtschaftskrise an die Macht kam, sondern aufgrund der Algerienkrise, die eine politische Krise auslöste. Nachdem er an die Macht gekommen war, wurde er gezwungen, nach weiteren vier Jahren Krieg, das Problem in einer Weise zu lösen, wie es keine politische Partei — einschließlich der PCF — in der IV.Republik auch nur auszusprechen gewagt hätte. Nicht nur, dass Algerien unabhängig wurde. Sogar die französischen "Colons" mussten Algerien verlassen. Als Sozialreferent wurde ich damals vom Arbeitsministerium gebeten, ihnen doch alle deutschen Gesetze zu übermitteln, die dazu dienten, Millionen deutscher Flüchtlinge nach dem verlorenen Krieg in die Bundesrepublik zu integrieren.
Die Sozialdemokraten waren durch ihre Regierungspolitik so gründlich demoliert worden, dass Gaston Deferre, noch angesehener sozialdemokratischer Bürgermeister von Marseille, als Präsidentschaftskandidat nur 5% der Stimmen erhielt.

Jakob Moneta



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