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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2002, Seite a

Östlicher Blick

auf eine Westdebatte

Sähe ich fern, wäre mir vermutlich Herr Friedman so unangenehm wie Herr Möllemann, dessen erhaiderndes Finale als ND-Kolumnist ihn allerdings als Kritiker Sharons, den ich für einen Verbrecher halte, und der israelischen Politik, die in meinen Augen prinzipiell kein Interesse an Frieden erkennen lässt, disqualifiziert. Von Herrn Walser habe ich bisher keinen Roman lesen können, denn bei jedem Versuch habe ich bald gemerkt, dass mich die Welt seiner Bücher nicht interessiert und ich mit den Leuten, über die er schreibt, nichts zu tun haben möchte. Reich-Ranickis Kritik ist wohl nicht unwesentlich daran beteiligt, dass in Deutschland gegenwärtig weithin eine völlig belanglose Literatur geschrieben wird.
Nun geht es aber um Antisemitismus und Antiantisemitismus. Da jedoch wundert mich eines: Sind nicht nach dem vorzeitigen Ende des Tausendjährigen Reiches im Westen Deutschlands in fast allen gesellschaftlichen Bereichen die Nazi- "Eliten" nahezu bruchlos übernommen worden? Haben nicht die Banken und Konzerne, die an Faschismus und Krieg — und damit auch am Massenmord an den Juden und anderen Bevölkerungsgruppen — verdient haben, einfach weitergemacht?
Ich bin in einer Gesellschaft aufgewachsen und habe, mich an ihr reibend, in ihr 44 Jahre gelebt, die sowohl die personelle Kontinuität zum Nazireich im Großen und Ganzen verhindert hat (was ja hieß, dass man mühselig von Null an neue Kräfte qualifizieren musste), als auch ohne die Allgegenwart der Firmenzeichen des deutschen Großkapitals lebte.
Wie man die DDR auch sonst werten mag, dies waren grundsätzlich Vorzüge. Diese Erfahrung ermöglicht einem allerdings auch eine andere Sicht auf die aktuelle westdeutsche "linke" Debatte zum Antisemitismus. Ich fasse sie in wenigen Worten zusammen: Faschismus ist seinem Wesen nach ein Produkt der bürgerlichen Gesellschaft, also des Kapitalismus. Er rollt in vergangenen Kämpfen errungene demokratische und soziale Rechte zurück und lenkt einen Klassenkonflikt und eine Reproduktionskrise, die nach einer Überwindung bestehender Herrschaftsverhältnisse schreien, um in imperialistische Aggression. Insofern der deutsche Faschismus mit einer besonders virulenten Rassenideologie verbunden war, und insofern er einen traditionellen Antijudaismus beerben konnte, spielte bei ihm Antisemitismus eine so zentrale Rolle. Aber die Juden waren nicht die Einzigen, deren Vernichtung als Gruppe oder "Volk" schon betrieben oder noch vorgesehen war. Wäre den Nazis eines Tages eingefallen, dass ihr Antisemitismus kontraproduktiv im Sinne ihrer eigenen Ziele sein könnte und hätten sie Juden in ihr System zu integrieren versucht, es wäre doch Faschismus geblieben. Absurde Überlegungen? Nicht nur. Wie sagte doch ein alter Jude in einer mittel-osteuropäischen Stadt kürzlich zu einem jungen deutschen Kriegsdienstverweigerer, der ihn im Auftrag einer Hilfsorganisation betreut: "Der Hitler hat einen Fehler gemacht; er hätte mit den Juden zusammengehen müssen." Das ist authentisch, wenn auch sicher nicht typisch. Jedoch gerade das scheinbar Absonderliche wirft gelegentlich ein erhellendes Licht auf das selbstverständlich Gewordene.
Also: Man kann und soll über Antijudaismus im Christentum, über Antisemitismus und seine historischen und aktuellen Ursachen sprechen. Aber eine solche Diskussion darf nicht die über den Kapitalismus und seine Folgen und über den Faschismus als bürgerliche Herrschaftsform ersetzen. Gesellschaftsanalyse in verändernder Absicht kann nicht durch Seelenerforschung und Betroffenheitsdiskurse ersetzt werden. Die Ursachen von Faschismus, Krieg und Völkermord dürfen nicht vernebelt werden, indem noch einmal eine deutsche Volksgemeinschaft der allesamt in gleicher Weise schuldig Gewordenen konstruiert wird! Der Nazibonze oder -militär, der seine Karriere nach dem Ende des Faschismus fortsetzen konnte, der Industriebaron und Bankier, der doch schon wieder oder immer noch auf der Gewinnerseite stand, vereint mit den Witwen und Waisen und Bombenopfern in einer Solidarität der Schuld, der tätigen Reue über den Antisemitismus? Natürlich hat das funktioniert, weil das "Wirtschaftswunder" funktioniert hat und es bis heute gelingt, die Mehrheit der Bevölkerung, die nach ihrem eigenen Verständnis viel zu verlieren hat, in dieses Herrschaftssystem zu integrieren. Antisemitismusdebatten als Ersatz für Antikapitalismus- und Sozialismusdebatten.
Was aber nun Juden selbst betrifft, so meine ich, dass es für sie verhängnisvoll wäre, so etwas wie Identität aus den Verbrechen der Anderen, also der deutschen Faschisten und ihrer Helfershelfer, gewinnen zu wollen. Ich habe den Eindruck, dass dies auch immer weniger geschieht. Auschwitz ist ein Verbrechen, das so absolut sinnlos und böse ist, dass es in keiner Weise mit Sinn nachträglich aufgeladen oder ihm ein Sinn abgewonnen werden darf und kann; es eignet sich zu keinem positiven Bezug. Die einzig angemessene Reaktion darauf ist der Kampf für eine Welt in der derlei nicht mehr möglich ist. Präziser: Es sind damals nicht nur Juden gemordet worden, und abscheulich ist das Geschehene nicht, weil es um Juden ging, sondern weil Menschen abgeschlachtet wurden. Die Konsequenz muss sein, jedem Rassismus, jedem Chauvinismus, jedem Imperialismus abzuschwören und dagegen anzukämpfen. Darüber hinaus müssen jene gesellschaftlichen Triebkräfte und Mechanismen offengelegt und überwunden werden, die ein Verbrechen dieser Dimension möglich gemacht haben. Sie sind auch heute in unserer Gesellschaft wirksam, und zwar nicht nur in Deutschland und nicht nur am Rande, sondern sie sind Bestandteil des "normalen" Funktionierens dieser Gesellschaft, und es bedarf offenbar besonders in Krisenzeiten keiner gar so großen Anstrengung, um das in ihnen vorhandene Potenzial an Unmenschlichkeit zum Ausbruch zu bringen. Es gibt bisher keinen Kapitalismus ohne Krieg, ohne Rassismus, mit Gleichheit und echter Partizipation in allen Lebensbereichen.

Hans-Jochen Vogel (Chemnitz)


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