SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2002, Seite a

Die Springer-Falle

Manche Reaktionen auf die Beiträge von Christoph Jünke sind aus Verdrehungen, Halbwahrheiten und Fehleinschätzungen gestrickt. Winfried Wolf etwa (SoZ 7/2002, S.7), um die Suppe schärfer pfeffern zu können, zitiert verfälschend: "Dieser [Karsli] hatte von der ‚zionistischen Weltverschwörung‘ gesprochen." Das hat Karsli nachweisbar nicht, obwohl das Fehlzitat durch gewisse Medien geisterte. Karsli sprach von einer "zionistischen Lobby", die angeblich "den größten Teil der Medienmacht in der Welt" hinter sich habe. Sicher muss man das kritisieren, so wie einige von Möllemanns Äußerungen. Christoph Jünke hat beiden zu Recht vorgeworfen, "antisemitische Klischees bedient" zu haben. Doch es ist etwas anderes als das angeführte Scheinzitat. Wer Christoph Jünke mangelnde Sensibilität oder "Ignoranz" in Sachen Antisemitismus vorwirft — und das angesichts des eskalierenden blutigen Konflikt im Nahen Osten und des drohenden imperialistischen Krieges dort — sollte zumindest keine ungeprüften Behauptungen in die Welt setzen.
Von einer kollektiven Halluzination sind offenbar jene befallen, die von einem Projekt Möllemann/Westerwelle der "Haiderisierung" der FDP ausgehen. Winfried Wolf "belegt" dies unter Berufung auf irgendwelche Nazis damit, das "Projekt 18" stehe für den ersten und den achten Buchstaben des Alphabets und mithin für Adolf Hitler! Das mit den SoZ-Standards vereinbare Niveau ist damit unterschritten. Der einzig seriöse Hinweis Winfried Wolfs ist der auf den Möllemann-Berater Fritz Goergens, der für das Projekt steht, der FDP eine rechtspopulistische Ausrichtung zu verpassen. Aber Vorsicht! Er ist nicht Möllemanns einziger Berater.
Die Diagnose hält jedenfalls keiner politischen Analyse stand. Wäre es möglich, die Umpolung der FDP zu einer rechtspopulistischen Partei zu betreiben, ohne eine ganze Reihe von Themen entsprechend zu besetzen? Tun Möllemann und Westerwelle dies zum Beispiel in Sachen Immigration, schüren sie systematisch Stimmung gegen Türken, Moslems und Flüchtlinge — wetteifern sie in dieser Hinsicht mit Schill oder mit Koch?
Die wirkliche Erklärung des öffentlichen Streits liegt auf der Hand. Möllemann ist schon lange Lobbyist bürgerlicher Geschäftsinteressen in der arabischen Welt. Ebenso lange liegt er quer zur überwiegenden Mehrheitshaltung der deutschen bürgerlichen Klasse zu Israel, Palästina und dem Nahostkonflikt. Das spitzt sich jetzt zu. Außerdem ist Möllemann ein ziemlich prinzipienloser politischer Hasardeur, der zu spektakulären Ausfällen neigt, in der Hoffnung, damit Medienbekanntheit und Stimmen hinzu zu gewinnen (in diesem Fall hat er sich verkalkuliert — nach der Affäre sanken die Umfragewerte der FDP), und daher begann er mitten im Konflikt die unter den Deutschen so verbreiteten antisemitischen Ressentiments zu bedienen. Die Angriffe auf Christoph Jünke verkennen, warum fast die gesamte bürgerliche politische Kaste über Möllemann und Karsli hergefallen ist. Das hat sie nicht, weil sie in Sachen Antisemitismus "sensibler" wäre als Christoph Jünke. Vielmehr will sie ganz bestimmte Schlussfolgerungen aus der deutschen Nazi-Vergangenheit durchsetzen: Militärisch "humanitär" intervenieren in aller Welt, für den Ausbau der Macht des deutschen Imperialismus in Rivalität, aber doch auch im Bündnis mit dem mächtigsten Imperialismus der Welt, mit den USA und, was den Nahen Osten betrifft, im Bündnis mit Israel.
Dankbar hat die deutsche Bourgeoisie daher postmodern "begriffsrealistische" und beliebig akkommodierbare Argumentationsmuster der sog. "antideutschen" Exlinken aufgegriffen, die schon im Golfkrieg gegen den Irak gute Dienste geleistet haben, um Gegnerinnen und Gegner des Krieges in die antisemitische Ecke zu stellen. Eine proisraelische Haltung, wie sie Axel C. Springer vertrat und Hermann L. Gremliza vertritt, ist sehr gut kompatibel mit dem deutschen Antisemitismus. Sozialistischer Antizionismus (ich sage nicht: nationalistischer oder stalinistischer "Antizionismus") jedoch hat — im Gegensatz zu dem heutzutage so billig verbreiteten Generalverdacht — nichts mit Antisemitismus zu tun, sondern gehört untrennbar zum Kampf gegen den Antisemitismus.
Israel ist ein Siedlerstaat, Israel ist in Palästina Besatzungsmacht, Israel ist als Staat zumindest teilweise religiös und ethnisch verfasst, und Israel ist ein Brückenkopf der reichen in der armen Welt. Dieser Staat Israel garantiert in keiner Weise die Sicherheit der jüdischen Bevölkerung in der Region und der Überlebenden des Holocausts und ihrer Nachfahren. Der Kampf gegen den Antisemitismus ist untrennbar verbunden mit dem Kampf gegen den real existierenden Kapitalismus, wie er sich konkret historisch entwickelt hat, mit dem Kampf für solidarische Lösungen im Nahen Osten und in der ganzen Welt. Auch die Tragödie des palästinensischen Volkes ist eine — indirekte — Folge der Verbrechen Nazi-Deutschlands! Kein Deutscher kann sich freikaufen durch eine proisraelische Haltung. Und Christoph Jünke hatte vollkommen Recht davor zu warnen, wie leicht deutsche Linke im nächsten Krieg auf der falschen Seite — der ihres eigenen, des deutschen Imperialismus, des Nachfolgerstaats des braunen Reichs — landen können, wenn sie dies nicht verstehen.
Manuel Kellner (Köln)


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang