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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2002, Seite c

Antisemitismus

und Herrschaft

In den Medien tobt die Auseinandersetzung über antisemitische Äußerungen. Die zum Teil instrumentalisierte Jagd auf Antisemiten entwertet die Diskussion über Antisemitismus und lenkt von der Diskussion über die Ursachen von Rassismus und Antisemitismus ab. Wer von Faschismus spricht muss bekanntlich auch vom Kapitalismus reden. Es lohnt sich, die alten Schriften von Marxisten zum Antisemitismus wieder nachzulesen.
"Man muss den Nazi-Schrecken in seinen rationalen und irrationalen Aspekten verstehen und nicht vergessen, was die hitlerische Barbarei gewesen ist, um zu wissen, wie die imperialistische Barbarei sein kann, wenn sie mit dem Rücken zur Wand steht. Der nazistische Antisemitismus ist der äußerste Ausdruck des Rassismus, den die Bourgeoisie erzeugt, um ihre Macht zu verewigen und er kann nur durch die Beseitigung des Kapitalismus verschwinden" (Jakob Taut/Michel Warschawski). Revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten haben immer wieder betont, dass alle Formen des Rassismus an ihren gesellschaftlichen Wurzeln bekämpft werden müssen. Sie haben insbesondere deshalb auch die zionistische Idee abgelehnt, die ein weitgehendes Bündnis mit den europäischen Kolonialmächten und dem amerikanischen Imperialismus einging und ein nationalistisches Bündnis zwischen den Klassen anstrebte. Ein zentrales Thema war die Erinnerung an den Holocaust und die Instrumentalisierung der Erinnerung durch zionistische Kreise für die Gründung des Staates Israel und durch die Regierungen der imperialistischen Länder, die nicht nur von den Ursachen des Faschismus und ihrer antijüdischen Flüchtlingspolitik ablenken wollten, sondern auch die Gründung des Staates Israel für ihre kolonialen Interessen im Nahen Osten einsetzten.
Im Gegensatz zur zionistischen Bewegung strebten die Marxistinnen und Marxisten keine territoriale Lösung der sog. "Judenfrage" an (Schaffung einer nationalen Heimstätte), die zu einem ethnisch-religös definierten und ausgrenzenden Staatsgebilde führt, sondern kämpften für die Gleichberechtigung aller Menschen mit unterschiedlichen nationalen, religiösen und ethnischen Ursprüngen. Dieses emanzipatorische Projekt wurde zum ersten Mal in der Oktoberrevolution 1917 umgesetzt.
Der aktive Gewerkschafter und vor kurzem verstorbene Aktivist der marxistischen Organisation Matzpen (Israel), Jakob Taut, beschrieb es so: "Die russische Revolution bedeutete für die Juden Russlands, wie für alle anderen unterdrückten Nationalitäten, eine in ihrer Geschichte noch nie dagewesene Befreiung. Sie brachte nicht nur bürgerliche Gleichheit, sondern auch eine ganze Reihe nationaler und kultureller Rechte, was eine unerhörte Entwicklung der jüdischen Kultur in der UdSSR erlaubte." Diese erfolgreichen Versuche einer emanzipatorischen Antwort auf den Antisemitismus wurden aber durch Stalin zerstört und die Erinnerung daran verdrängt. Die stalinistische Sowjetunion unterstützte nicht nur die Gründung des Staates Israel und die Vertreibung von 950000 Palästinensern 1948 mit Waffengewalt, sondern übernahm auch die zionistische Idee einer territorialen Lösung mit der Schaffung eines jüdischen Staates an der chinesischen Grenze namens "Birobidjan". Birobidjan symbolisierte — weit davon entfernt, eine Lösung der nationalen jüdischen Frage in der Sowjetunion zu sein — die bürokratische Haltung des Kreml zur jüdischen Frage und löschte die Hoffnungen von Hundtertausenden jüdischer Arbeiterinnen und Arbeiter aus, die sie in die bolschewistische Revolution gesetzt hatten. Später bewirkten die großen Säuberungen der 30er Jahre die Vernichtung der alten bolschewistischen Garde, die von einer mehr oder weniger offenen antisemitischen Kampagne begleitet waren, die gleiche Enttäuschung.
Bis zum Zweiten Weltkrieg verteidigte die Mehrheit der linken Bewegung und Arbeiterbewegung dieses internationalistische Konzept als Antwort auf Rassismus und verteidigte sich erfolgreich gegen antisemitische Kampagnen des Bürgertums. Die heutige Auseinandersetzung über Antisemitismus ist gegenüber dieser Geschichte nur ein obflächlicher und meist auch opportunistischer Abklatsch. Es lohnt sich deshalb, die Auseineinandersetzungen und die politische Praxis der marxistischen Bewegung in der Vergangenheit genauer anzuschauen. Wer sich mit der marxistischen Auseinandersetzung über Antisemitismus, Zionismus und kapitalistischer Ausbeutung auseinandersetzen möchte, für den gibt es eine große Zahl von Büchern und Artikeln. Hier nur ein sehr kleiner Ausschnitt: Jakob Taut, Judenfrage und Zionismus (ISP-Verlag); Jakob Taut/Michel Warschawski, Aufstieg und Niedergang des Zionismus (ISP-Verlag); Enzo Traverso, Die Marxisten und die jüdische Frage (Decaton-Verlag); Hundert Jahre Zionismus — Befreiung oder Unterdrückung (Neuer ISP Verlag); Mario Kessler, Antisemitismus, Zionismus und Sozialismus, Arbeiterbewegung und die jüdische Frage (Decaton-Verlag).
Urs Diethelm (Basel)


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