SoZ Sozialistische Zeitung |
In den Medien tobt die Auseinandersetzung über antisemitische Äußerungen. Die zum Teil
instrumentalisierte Jagd auf Antisemiten entwertet die Diskussion über Antisemitismus und lenkt von der Diskussion über die Ursachen von
Rassismus und Antisemitismus ab. Wer von Faschismus spricht muss bekanntlich auch vom Kapitalismus reden. Es lohnt sich, die alten Schriften von Marxisten
zum Antisemitismus wieder nachzulesen.
"Man muss den Nazi-Schrecken in seinen rationalen und irrationalen Aspekten verstehen
und nicht vergessen, was die hitlerische Barbarei gewesen ist, um zu wissen, wie die imperialistische Barbarei sein kann, wenn sie mit dem Rücken zur
Wand steht. Der nazistische Antisemitismus ist der äußerste Ausdruck des Rassismus, den die Bourgeoisie erzeugt, um ihre Macht zu verewigen und
er kann nur durch die Beseitigung des Kapitalismus verschwinden" (Jakob Taut/Michel Warschawski). Revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten
haben immer wieder betont, dass alle Formen des Rassismus an ihren gesellschaftlichen Wurzeln bekämpft werden müssen. Sie haben insbesondere
deshalb auch die zionistische Idee abgelehnt, die ein weitgehendes Bündnis mit den europäischen Kolonialmächten und dem amerikanischen
Imperialismus einging und ein nationalistisches Bündnis zwischen den Klassen anstrebte. Ein zentrales Thema war die Erinnerung an den Holocaust und
die Instrumentalisierung der Erinnerung durch zionistische Kreise für die Gründung des Staates Israel und durch die Regierungen der
imperialistischen Länder, die nicht nur von den Ursachen des Faschismus und ihrer antijüdischen Flüchtlingspolitik ablenken wollten, sondern
auch die Gründung des Staates Israel für ihre kolonialen Interessen im Nahen Osten einsetzten.
Im Gegensatz zur zionistischen Bewegung strebten die Marxistinnen und Marxisten keine
territoriale Lösung der sog. "Judenfrage" an (Schaffung einer nationalen Heimstätte), die zu einem ethnisch-religös definierten
und ausgrenzenden Staatsgebilde führt, sondern kämpften für die Gleichberechtigung aller Menschen mit unterschiedlichen nationalen,
religiösen und ethnischen Ursprüngen. Dieses emanzipatorische Projekt wurde zum ersten Mal in der Oktoberrevolution 1917 umgesetzt.
Der aktive Gewerkschafter und vor kurzem verstorbene Aktivist der marxistischen
Organisation Matzpen (Israel), Jakob Taut, beschrieb es so: "Die russische Revolution bedeutete für die Juden Russlands, wie für alle anderen
unterdrückten Nationalitäten, eine in ihrer Geschichte noch nie dagewesene Befreiung. Sie brachte nicht nur bürgerliche Gleichheit, sondern
auch eine ganze Reihe nationaler und kultureller Rechte, was eine unerhörte Entwicklung der jüdischen Kultur in der UdSSR erlaubte." Diese
erfolgreichen Versuche einer emanzipatorischen Antwort auf den Antisemitismus wurden aber durch Stalin zerstört und die Erinnerung daran
verdrängt. Die stalinistische Sowjetunion unterstützte nicht nur die Gründung des Staates Israel und die Vertreibung von 950000
Palästinensern 1948 mit Waffengewalt, sondern übernahm auch die zionistische Idee einer territorialen Lösung mit der Schaffung eines
jüdischen Staates an der chinesischen Grenze namens "Birobidjan". Birobidjan symbolisierte weit davon entfernt, eine Lösung
der nationalen jüdischen Frage in der Sowjetunion zu sein die bürokratische Haltung des Kreml zur jüdischen Frage und löschte
die Hoffnungen von Hundtertausenden jüdischer Arbeiterinnen und Arbeiter aus, die sie in die bolschewistische Revolution gesetzt hatten. Später
bewirkten die großen Säuberungen der 30er Jahre die Vernichtung der alten bolschewistischen Garde, die von einer mehr oder weniger offenen
antisemitischen Kampagne begleitet waren, die gleiche Enttäuschung.
Bis zum Zweiten Weltkrieg verteidigte die Mehrheit der linken Bewegung und
Arbeiterbewegung dieses internationalistische Konzept als Antwort auf Rassismus und verteidigte sich erfolgreich gegen antisemitische Kampagnen des
Bürgertums. Die heutige Auseinandersetzung über Antisemitismus ist gegenüber dieser Geschichte nur ein obflächlicher und meist
auch opportunistischer Abklatsch. Es lohnt sich deshalb, die Auseineinandersetzungen und die politische Praxis der marxistischen Bewegung in der
Vergangenheit genauer anzuschauen. Wer sich mit der marxistischen Auseinandersetzung über Antisemitismus, Zionismus und kapitalistischer
Ausbeutung auseinandersetzen möchte, für den gibt es eine große Zahl von Büchern und Artikeln. Hier nur ein sehr kleiner Ausschnitt:
Jakob Taut, Judenfrage und Zionismus (ISP-Verlag); Jakob Taut/Michel Warschawski, Aufstieg und Niedergang des Zionismus (ISP-Verlag); Enzo Traverso,
Die Marxisten und die jüdische Frage (Decaton-Verlag); Hundert Jahre Zionismus Befreiung oder Unterdrückung (Neuer ISP Verlag);
Mario Kessler, Antisemitismus, Zionismus und Sozialismus, Arbeiterbewegung und die jüdische Frage (Decaton-Verlag).
Urs Diethelm (Basel)