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Der Höhenflug der Börsen schien der Wirtschaft neue Merkmale zu verleihen: Die Aktienkurse schienen sich fast
völlig von den "elementaren" Werten der Ökonomie, d.h. der Möglichkeit, zusätzlichen Mehrwert zu erpressen, zu
lösen. Zum erstenmal in der Geschichte des Kapitalismus nahmen die Börsenkurse einen anderen Verlauf als die Gewinnkurven und das in
unglaublichen Größenordnungen. Die treibende Kraft dabei waren die sog. Technologiewerte, die sogar in einem eigenen Index zusammengefasst
wurden, dem Nasdaq.
Der jüngste Niedergang dieses Index ist eine eindringliche Mahnung, dass das
Wertgesetz nicht außer Kraft gesetzt werden kann: auf Dauer kann man nicht mehr Gewinn erzielen, als der elementare Mechanismus der Ausbeutung
hergibt. Die Vorstellung, die neuen Technologien würden der Ökonomie virtuelle Flügel anheften, hat sich als wenn auch zähe
Illusion erwiesen: Sofern sie nicht virtuell bleiben, haben auch Börsenkurse keine andere Grundlage als die der Ausbeutung.
Erklärungen des Börsensturzes aus den betrügerischen Machenschaften des Kapitals heraus müssen deshalb stark relativiert werden.
Sicher, Pleiten wie Enron und Worldcom haben ihren gemeinsamen Nenner in der Bilanzfälschung, die die Gewinnaussichten rosiger erscheinen lassen
sollten, als sie waren.
Die Produktion solcher Luftschlösser ist gängige Praxis und spricht Bände
über die sog. Transparenz des "neuen Kapitalismus". Das zeigt, wie lächerlich die Versuche sind, ihn mit Hilfe von guten Noten
für zivilgesellschaftliches Engagement "zivilisieren" zu wollen; kapitalistische Ausbeutung ist nichts anderes als Betrug und Verbrechen.
Aber man würde Symptom und Ursache verwechseln, wollte man solcherlei
Vermarktungsstrategien für den Niedergang der Börse verantwortlich machen. Sie sind nichts mehr als der Anlass, der den Niedergang
ausgelöst hat und der in gewisser Weise unvermeidlich war.
In der Vorstellung der Kapitalbesitzer und ihrer Sachverwalter verband sich mit der
Börseneuphorie nichts weniger als eine neue Gesetzmäßigkeit der Ökonomie im Bereich der neuen Technologien. Doch ihr Niedergang
in den USA wurde von ganz klassischen Mechanismen ausgelöst, denen sich der Kapitalismus nicht entziehen kann.
Der Hightechzyklus hat ein lebhafteres Wachstum ausgelöst als üblich; dieses
wurde jedoch von einer Fülle an Investitionen angetrieben, die schnell zu einer Überakkumulation geführt haben. Die Bewunderer der
"New Economy" wunderten sich über den Niedergang der Preise für elektronisches Material, der die Investitionskosten verbilligte, aber
sie übersahen die hohe Umschlagquote des Kapitals, dessen Lebensdauer selten wenige Jahre überschreitet. Daraus resultierte zunächst die
Umkehrung der Gewinnkurve, dann die Verlangsamung der Wirtschaftsaktivität in den USA Monate vor dem 11.September.
Zur Besonderheit des Hightechbooms gehörte, dass er weitgehend mit
europäischem Kapital finanziert wurde, das in die USA strömte. Als imperialistische oder gar imperiale Macht konnten die USA das Recht für
sich beanspruchen, sich ihre Investitionsanstrengungen mit Fremdgeld finanzieren zu lassen und damit ein sehr solides Konsumwachstum stützen, das
noch schneller anstieg als das Bruttoinlandsprodukt.
Kein anderes Land hätte sich das Handelsbilanzdefizit erlauben können, das dieses
Wachstum in den USA begleitet hat. Diese Kombination erklärt, warum die "New Economy" ein Privileg der USA zu sein schien. Ihrer
Ausbreitung auf den Rest der Welt stand die Tatsache entgegen, dass Europa sein Kapital exportieren musste, um sie zu finanzieren, während Japan in
einer chronischen Rezession gefangen war.
Daraus erwuchs jedoch eine zunehmende Asymetrie zwischen den USA und Europa, die es
schwer machte, diese Bewegung unendlich fortzusetzen. Der jüngste Einbruch der Profitraten in den USA hat ihr ein Ende gesetzt.
Der 11.September hat sich zu einem Zeitpunkt ereignet, an dem die Konjunktur bereits
eingebrochen war, sowohl in den USA als auch in Europa. Man hätte meinen können, der Schock werde die Rezession in den USA anfeuern und
alle Widersprüche, die der herrschenden Ökonomie innewohnen, zum Ausbruch bringen insbesondere das Handelsbilanzdefizit und die
Überschuldung der privaten Haushalte. Aber es hat sich ein anderes Szenario aufgetan, wie die Wirtschaft der USA mit allen Mitteln gestützt werden
kann. Das war der Weg, der schließlich gegangen wurde, und er beinhaltet eine dreifache Wende:
Die Bush-Administration hat beschlossen,
den Aktionsspielraum zu nutzen, den ihr der Haushaltsüberschuss ermöglichte; er ist geschrumpft und hat sich mittlerweile in ein Defizit umgekehrt;
damit mussten Maßnahmen getroffen werden, das Außenhandelsdefizit zu mindern.
Neue protektionistische Maßnahmen wurden
ergriffen, in Form von Subventionen für landwirtschaftliche Produkte und Quoten für Stahlimporte.
Den Schlussstein dieser neuen
Strategie bildet die Kurssenkung des Dollar, damit die US-Produkte wettbewerbsfähiger gemacht und neue Weltmarktanteile erobert werden
können.
Europa steht vor einer entscheidenden Kraftprobe. Der Europäischen Union ist es gelungen, den Euro einzuführen; sie profitierte darüber
hinaus von einem z.T. unerwarteten Aufschwung, der die Zwangsjacke der Maastrichtkriterien und des Stabiltätspaktes etwas gelockert hat.
Jetzt handelt es sich um den ersten Konjunkturrückgang in der Eurowährung, und
man kann jetzt schon sagen, dass der Stabilitätspakt keinen geeigneten Rahmen abgibt.
Deutschland und Frankreich stehen bereits kurz vor der Schwelle des Haushaltsdefizits, die sie
nicht überschreiten dürfen; sie haben sich für ihre angeblich nicht genügend strikte Haushaltspolitik Rügen von der EU-
Kommission eingefangen. Unter solchen Bedingungen gibt es nicht viele Möglichkeiten: Entweder der Stabilitätspakt wird eingehalten und man
produziert eine brutale Rezession. Oder er wird nicht eingehalten, dann riskiert man eine Krise, die das ganze gemeinsam beschlossene Vertragswerk in Frage
stellen, noch bevor es richtig Praxis werden konnte.
Ein zusätzliches Moment der Unsicherheit besteht im Verhältnis des Euro
gegenüber dem Dollar, weil er zwei widersprüchlichen Anforderungen genügen soll. Ein starker Euro ist eine Garantie gegen das
Schreckgespenst der Inflation, aber auch ein Hindernis für die höhere Wettbewerbsfähigkeit europäischer Produkte.
Wahrscheinlich werden die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank der
Philosophie der strikten Haushaltdisziplin huldigen und sich den Interessen der USA am schwächeren Dollar beugen; sie werden dies als "Sieg der
starken Währung Euro" verkaufen.
Die globalen Konjunkturaussichten lassen sich etwa so zusammenfassen: Die USA werden
versuchen, die Rezession um jeden Preis abzufedern, auch einen solchen, der zu den neoliberalen Lehren im krassen Widerspruch steht. Sie werden nicht
zögern, die Lasten auf den Rest der Welt abzuwälzen.
Europa wird die Folgen um so stärker zu spüren bekommen, wie es versucht, die
eigenen Rezepte rigoroser Haushaltspolitik buchstabengetreu zu erfüllen. Japan scheint zu einem Zustand permanenter Stagnation verdammt.
Was sich derzeit auf dem lateinamerikanischen Kontinent abspielt, ist eine gedrängte Übersicht über die Widersprüche der
kapitalistischen Globalisierung und ein gutes Beispiel für das Scheitern des Neoliberalismus.
Allein der Zusammenbruch Argentiniens stellt ein historisches Ereignis großer Tragweite
dar. Dieses Land brauchte nur die neoliberalen Spielregeln buchstabengetreu zu erfüllen, um in einen beispiellosen Verfall zu geraten. Die Ausdehnung der
Krise auf Uruguay ergab sich in Anbetracht der engen Finanzbeziehungen zwischen den beiden Ländern von selbst. Hingegen überrascht die
Gleichzeitigkeit der wirtschaftlichen und politischen Krise in Brasilien.
Wieviel auf dem Spiel steht, zeigt sich an der Kehrtwende der Politik des US-Imperialismus.
Zunächst verfolgte der IWF den Kurs, durch Kapitalbewegungen den Druck auf die brasilianische Wirtschaft zu erhöhen in der Hoffnung, die
Kandidatur Lulas zu diskreditieren, weil er angeblich Chaos auslösen würde.
In einer zweiten Phase musste der IWF eine beträchtliche Hilfe in Höhe von 30
Milliarden Dollar gewähren, die höher ausfiel als das, was die Regierung Cardoso gefordert hatte.
Diese Wende drückt aus, dass die neoliberale Logik ihre Legitimität verloren hat
und sie heute zutiefst diskreditiert ist. Die sozialen Kämpfe, die in immer mehr Ländern um sich greifen, nehmen immer häufiger die Form
der massiven Ablehnung von Privatisierungen an so in Bolivien oder in Peru. Deshalb ist die Herrschaft der USA über den Kontinent sowohl
allgegenwärtig, wie auch durch die Krise fragil geworden. Die USA suchen die Lösung in der Errichtung einer interkontinentalen Freihandelszone
unter dem Zeichen des Dollar.
Nach dem argentinischen Schock und dem brasilianischen Schleuderkurs ist eine solche
Perspektive jedoch nicht mehr glaubwürdig; es gewinnen Alternativen an Boden, die sich auf regionale Kooperation stützen. Mexiko hingegen
ein privilegierter Wirtschaftspartner der USA riskiert, mit dem neuen protektionistischen Kurs des mächtigen Nachbarn zusammen zu
stoßen.
Das Ende der New Economy, ihre Unfähigkeit, ein stabiles Wachstumsmodell anzubieten, der Wiederanstieg der Massenarbeitslosigkeit in Europa,
wachsende Funktionsstörungen in den Ländern des Südens die Zeit ist nicht günstig für triumphalistische Töne auf
Kapitalseite. Die innerimperialistischen Spannungen um die Streitfrage, wer die Last der ungelösten Widersprüche tragen soll, werden zwischen
USA und Europa zunehmen.
Vor allem die Überschuldung der privaten Haushalte und Betriebe in den USA ist eine
permanente Bedrohung der gesamten Weltwirtschaft. Wenn die USA es nicht schaffen, die Kosten dafür auf die anderen imperialistischen Länder
abzuwälzen, riskieren sie eine Rezession großen Ausmaßes. Und wenn sie es schaffen, wird es Europa sein, das eine dauerhafte Stagnation
mit neuem Anstieg der Erwerbslosigkeit durchmacht.
Vor diesem Hintergrund können soziale Kämpfe ihren Charakter ändern:
Sie beschränken sich nicht mehr auf die Korrektur der Kollateralschäden des Neoliberalismus, sondern entwickeln sich zu einer
grundsätzlichen Absage an das System, dessen Bilanz letztlich sehr negativ ausgefallen ist.
Vor allem in Europa greift die erfahrungsgesättigte Idee um sich, dass das, was für
das Kapital gut ist, nicht zwangsläufig für die Arbeitenden und die abhängig Beschäftigten gut ist, die von der jüngsten
Konjunkturerholung nicht wirklich profitiert haben.
Alternativen entstehen im Übergang von der Resignation zur Ablehnung; es werden
zwangsläufig radikale Systemalternativen sein, zumal das alte System um so schlechter funktioniert, als man sich seinen Anforderungen unterwirft.
Michel Husson