SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2002, Seite 18

Antisemitismus nach Auschwitz

Die Grundlagen der Demoralisierung am Beispiel Polen

Karl Marx schrieb vor 160 Jahren an die Adresse von Arnold Ruge: "Sie sehen mich lächelnd an und fragen: Was ist damit gewonnen? Aus Scham macht man keine Revolution … Scham ist eine Art Zorn, der in sich gekehrte. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre sie der Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht. Ich gebe zu, sogar die Scham ist in Deutschland noch nicht vorhanden; im Gegenteil, diese Elenden sind noch Patrioten."
Es ziemt sich, diese überraschende Berufung auf Scham als revolutionäre Produktivkraft aus ihrem damaligen Kontext zu lösen und nach allem, was seitdem passiert ist, auf die heutige Welt und namentlich auf die heutigen Deutschen anzuwenden. Wie anders soll das potenziell revolutionäre Subjekt in den reichen Industrieländern tatsächlich revolutionär werden, ohne "in sich gekehrten Zorn" über die eigene lang andauernde Rolle als Nutznießer zweiten und dritten Ranges, jedoch als Dulder und Kollaborateure ersten Ranges der Herren der Welt zulasten der Verdammten dieser Erde? Wie anders sollen die deutschen abhängig Beschäftigten daran teilhaben, ihre Verstrickung in das "Kontinuum" einer unheilvollen Nationalgeschichte im Sinne Walter Benjamins "aufzusprengen", ohne sich jemals zu schämen Deutsche zu sein?
Eine umfangreiche Literatur befasst sich mit dem Antisemitismus, mit der geschichtlich gewordenen Rolle "des Juden" als konstruierter Projektionsfläche, als Objekt von Hass und Ressentiment, mit der Verwobenheit der Entstehung und Entwicklung der kapitalistischen Klassengesellschaft mit diesem Muster, das im industriell organisierten Massenmord an 6 Millionen europäischen Juden kulminierte. Warum wirkt dieses Muster fort auch da, wo nur eine verschwindende Minderheit von Juden übrig geblieben ist, als weitverbreitete Topoi und in immer wieder neuen Orgien realer und symbolischer Gewalt wie bei der Schändung jüdischer Friedhöfe in Deutschland?
Rassismus und Fremdenhass ist auf reale Erfahrungen ebensowenig angewiesen (im Gegenteil: sie stören) wie der Antisemitismus, besonders der Antisemitismus nach dem Holocaust, der Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen der Ausrottung von Millionen unschuldiger Menschen.
Für die Aufarbeitung der Folgen der massenhaften Vernichtung der Juden durch die deutschen Nazibesatzer für die polnische Nation spielt der polnische Historiker Feliks Tych eine wichtige Rolle. Dieselbe Aufgabe für Deutschland zu leisten ist desto dringlicher, als es hier um die Täternation geht. Die kritische Arbeit von Tych jedoch ist hierfür vorbildhaft.

F.Tych, "Deutsche, Juden, Polen: Der Holocaust und seine Spätfolgen", Vortrag vom 17.2.2000, in: Gesprächskreis Geschichte (Hg. Friedrich-Ebert-Stiftung), Heft 33. Nicht anders gekennzeichnete Zitate sowie die angeführten Zahlen- und Prozentangaben sind dieser Arbeit entnommen.

Im besetzten Polen und Litauen war der Prozentsatz der Opfer unter der jüdischen Bevölkerung besonders hoch. 98% von ihnen wurden von der Tötungsmaschinerie der Nazis umgebracht (in Italien etwa dagegen "nur" 17,3%). Im besetzten Polen lebten fast 3,5 Millionen Juden (10% der Gesamtbevölkerung, 40% in den Städten). Nirgendwo sonst gab es bis 1942 eine so große jüdische Bevölkerung. "Nach realistischen Schätzungen" wurden etwa 40000 Juden von Polen gerettet. Im Durchschnitt mussten vier bis fünf Personen eingeweiht werden.
Somit haben 250000 Polen (etwa 1% der ethnisch polnischen Bevölkerung) ihr Leben für die Rettung von Juden riskiert. Nach vorliegenden Quellen wurden 660 von ihnen dafür zusammen mit den Juden, die sie zu retten versuchten, erschossen. 99,7% der Polen, die Rettungsversuche unternahmen, hatten Erfolg und kamen nicht zu Schaden.
Auch auf andere Handlungen des Widerstands gegen das Besatzerregime stand die Todesstrafe. Dies hielt jedoch einen sehr hohen Anteil der polnischen Bevölkerung nicht davon ab, sich am Widerstand zu beteiligen. Die Furcht vor Strafe erklärt also nicht die geringe Zahl derjenigen, die sich an an Rettungsaktionen für Juden beteiligten.
In Polen wurden alle Vernichtungslager "in Seh-, Hör- und Riechweite" der Bevölkerung errichtet. Die Opfer wurden auf offenen Viehwaggons zu ihrer Ermordung gekarrt, oder zu Fuß dorthin getrieben. Viele starben auf dem Weg. "Jeder Pole wusste, was dort vor sich ging."
Aus westeuropäischen Ländern kamen die Opfer meist in Personenzügen. Nach Ansicht von Tych wollten die Nazis die Bevölkerung der westeuropäischen Zentren, einschließlich Deutschlands, darüber im Unklaren lassen, was die "Deportationen" wirklich bezweckten. In Wirklichkeit gehörte für sehr viele Deutsche bewusstes Desinteresse und große Verdrängungsleistung dazu, nicht in groben Umrissen zu wissen oder zumindest zu ahnen, was den Deportierten angetan wurde (siehe hierzu Teil IX meiner Serie "Nie wieder! Deutsche Geschichte — Nazi-Barbarei", SoZ 11/93).
Die Polen waren, im Unterschied zu den Westeuropäern, selbst für die selektive Ausrottung vorgesehen (v.a. die Widerstandskämpfer und die "geistigen Eliten"). In anderen osteuropäischen Ländern wie in Litauen, in der Ukraine oder in Weißrussland erwarteten sich die Nazis massive tätige Komplizenschaft — eine Rechnung, die zum Teil aufging. Polen hingegen bewachten keine Vernichtungslager, nahmen nicht an Massenhinrichtungen teil.
Doch Tychs zentrale Schlussfolgerung, die desto mehr für die Deutschen selbst gelten muss, lautet: "In vielen einst durch die Nazis okkupierten Ländern ist nur eine kleine Minderheit bereit zuzugeben, wie verheerend die deutsche Politik gegenüber den Juden auf das Verhalten und die moralische Verfassung der entsprechenden Nationen gewirkt hat. Man gibt oft zu, dass man durch den Naziterror eingeschüchtert war, selten aber, dass der unbestrafte Mord an den Juden in sich selbst eine zerstörerische, demoralisierende Wirkung auf die Zeugen des Mordes hatte."
Polen und Juden waren Opfer der Besatzung, aber ungleiche Opfer. Ein Pole konnte nie Interesse haben, sich als Jude auszugeben — der umgekehrte Fall konnte das Leben retten. 7% der ethnisch polnischen Bevölkerung wurden vernichtet, aber 98—99% der jüdischen Bevölkerung. Die Polen waren nicht Mittäter.
"Die Tatsache aber, dass im besetzten Polen die Vernichtung des polnischen und des europäischen Judentums in Gegenwart der polnischen Bevölkerung stattgefunden hat, hat die Polen am stärksten den moralischen Folgen des Holocaust ausgesetzt. In diesem Sinne gehörten die Polen objektiv … unbewusst zu den moralischen Opfern des Holocausts, während die Juden seine physischen Opfer waren."
1918/19, unmittelbar nach der "nationalen Wiedergeburt" Polens gab es 130 Pogrome und antijüdische Krawalle, deren gewaltsamstes das in Lwow im November 1918 mit weit über 100 Todesopfern war. Von 1920 bis 1939 gab es vergleichbare antisemitische Gewaltausbrüche nicht mehr. Doch nach der Zeit der Nazibesatzung kam es im Juli 1946 es in Kielce zu einem Pogrom mit zahlreichen Morden an den wenigen überlebenden Juden, die versuchten, in ihre Häuser zurückzukehren. Warum von 1920 bis 1939 nicht, aber danach wieder?
Tych erklärt dies wie folgt: Unter der Diktatur der Nazibesatzer galt es nicht als Mord, einen Juden zu töten. Man tötete einen Juden, aus welchem Grund auch immer. Die Polizei kommt und will einen verhaften. Man sagt: Entschuldigung, aber das ist ein Jude. Er hat mich provoziert. Und man ging straffrei aus. Diese Erfahrung der Straffreiheit von Verbrechen ist für Tych der Hauptgrund für die Demoralisierung eines Volkes.
Diese Erfahrung gab es in Deutschland unter der Nazidiktatur natürlich auch. Der SA- Mann, der ("provoziert" vielleicht durch dessen Anwesenheit) einen Juden oder Kommunisten erdolcht hat, wird vom Richter mit der wohlwollenden Bemerkung freigesprochen, ein SA-Mann trage seinen Hitler-Dolch nicht bloß zur Zierde, sondern um bei passender Gelegenheit "kräftigen Gebrauch" von ihm zu machen.
Doch ist es, angewandt auf Deutschland, sinnvoll, diesen Begriff der "Straffreiheit" zu historisieren und ein wenig zu verallgemeinern. Erst hieß es "Nie wieder Faschismus" und von "deutschem Boden" dürfe "nie wieder Krieg ausgehen". Die Großkapitalisten der Waffenschmieden und der Giftgase müssten enteignet werden. Doch wie rasch "normalisierten" wir uns! Wie schnell das ging, wie wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg "waren wir wieder wer"!
Wir bedauerten eine Zeit lang, nur "wirtschaftlicher Riese" zu sein und obendrein zweigeteilt mit dem seinerseits geteilten Loch Berlin in der Mitte. Doch Zug um Zug ging das alles vorbei, und nachdem wir uns ein paar Jahrzehnte am "Ballermann" auf Mallorca und sonstwo erneut als die Herren der Welt aufgeführt hatten, bekamen wir endlich unser ungeteiltes Menschenrecht auf Imperialismus zurück und führen den Ballermann wieder in aller Welt spazieren, bevorzugt im angestammten Ausdehnungsgebiet, das bekanntlich im Osten liegt.
Laut Tych gab es im Nachkriegspolen kaum Solidarität mit den überlebenden Juden. Marcel Reich-Ranicki erwähnt in seinen Memoiren, dass diejenigen, die Juden retteten, später nicht darüber sprachen und das Geheimnis teils bis heute bewahren. Es war "nicht bloß gefährlich, sondern auch sehr unpopulär, die Juden zu retten". Ein nicht unbedeutender Teil der Bevölkerung rechtfertigt den Holocaust im Nachhinein, während vor dem Krieg eine Zustimmung zur physischen Vernichtung der Juden kaum denkbar gewesen wäre.
Den Gebrauch der Bezeichnung "Jude" als Schimpfwort — über 50 Jahre nach dem Krieg — kennen wir in Deutschland gut. Tych berichtet von Fällen in Polen. Zum Beispiel tauchten in Lód?z viele Graffiti mit der Parole "Juden raus" auf. Sie stammten von Fans zweier konkurrierender Sportvereine. Das Wort "Jude" wurde dabei in deutscher Sprache benutzt.
Heute ist in Polen die Meinung ziemlich weit verbreitet, die Juden würden über die Richtlinien der polnischen Politik bestimmen. Das ist eine moderne Variante der "jüdischen Weltverschwörung". "Radio Maria", ein inoffizieller katholischer Sender, der sich der Unterstützung von 30 Abgeordneten erfreut und 4 Millionen Zuhörer hat, verbreitet z.B. diese Wahnvorstellung.
Offiziell gibt es heute in Polen 8000—10000 Juden, meist alte und arme Leute. Vor dem Holocaust, als es 3,5 Millionen Juden in Polen gab, verbreitete so gut wie niemand solche antisemitischen Gemeinplätze. In der BRD, wo krass antisemitische Äußerungen in der Öffentlichkeit als "Volksverhetzung" strafbar sind, kennen wir alle entsprechende Bemerkungen von Kollegen, Bekannten, Verwandten oder Nachbarn.
Tych hat 400 meist unveröffentlichte polnische Tagebücher und Memoiren aus der Kriegs- und Besatzungszeit gesichtet. Die meisten schreiben nichts über den Holocaust. Die zweitgrößte Gruppe erwähnt sie, ohne irgendein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen. Dies tun nur etwa 10% der Autoren. Einige finden hingegen, Hitler hätte damit eine wichtige Sache "für uns" erledigt.
Im Januar 1998 führte eine polnische Provinzzeitung eine Befragung im Dorf Zydowo (zu deutsch: "Judendorf") durch. Es ging um die Einstellung zu den Juden. Fast niemand von den Dorfbewohnern hatte je einen Juden gesehen, und fast alle vertraten negative Urteile im Sinne der antisemitischen Klischees. Bis auf zwei der Dorfbewohner verurteilte niemand den Mord der deutschen Besatzer an der jüdischen Bevölkerung.
Im Juni 1999 wurde der Sprecher der rechtspopulistischen Bauernpartei, Andrzej Lepper, im Dorf Radrazewo empfangen, wo er eine Rede hielt. Unter großem Beifall sagte ein Teilnehmer: "Der liebe Gott alleine hat uns Sie, Herr Andrzej, zur Rettung geschickt, genauso wie er einst Hitler geschickt hat, um die Juden auszurotten."
Laut den Ergebnissen einer Umfrage vom August 1999 haben 35% der Polen eine negative bis feindliche Einstellung zu Juden (immerhin eine Verbesserung gegenüber 1994 mit 37%). Von den 39 Millionen Einwohnern kann natürlich nur eine verschwindende Minderheit einen Juden auch nur von weitem gesehen haben.
Das zeigt, wie tief antisemitische Stereotype in einem Land praktisch ohne Juden im kollektiven Unterbewusstsein verankert sind, und entsprechende Umfragen in Deutschland, wo sich nur noch 80000 Menschen als Juden verstehen und bekennen, zeigen dies ebenso.
Tych führt für Polen noch eine Umfrage vom Dezember 1999 unter "Vertretern der wirtschaftlichen und politischen Elite sowie freier Berufe" an. Eine der Fragen lautete: "Die Tätigkeit welches Politikers unseres Jahrhunderts hat Polen am meisten geschädigt?" Es siegte unangefochten Josef Stalin mit 31 Punkten, Boleslaw Bierut (erster KP- Präsident Polens) folgte mit 29 Punkten, weit abgeschlagen mit 17 Punkten landete Adolf Hitler auf dem dritten Platz. Ein solche Umfrage sollte man in Deutschland durchführen, vielleicht mit der etwas modifizierten Frage, welcher Politiker der Menschheit am meisten geschadet hat.
Das Thema Holocaust wurde lange Zeit tabuisiert — vor allem in Hinblick auf das soziale Umfeld und die Wechselwirkung mit ihm. Die Mythenbildung der Nationen, die zugleich Held und Opfer, aber nicht Täter, Mittäter, demoralisiertes Produkt der Untaten sein will, hat dies bislang weitgehend verhindert.
In Deutschland wird es weitgehend so behandelt, dass es den Herrschenden in den Kram passt — sogar zur Rechtfertigung der Teilnahme an Angriffskriegen. Die Selbstaufklärung der deutschen Täternation über die geschichtliche Kontinuität wirtschaftlicher und politischer Herrschaft einerseits und verbreiterter Mittäterschaft und passiver Duldung andererseits aber steht 52 Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs erst am Anfang.

Manuel Kellner


LeserInnenbrief@soz-plus.de
zum Anfang