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Ausgangspunkt für die Unterhaltungen war die Debatte über das PDS-Programm, die seit 1993 geführt wird.
Die Teilnehmenden, elf Männer, zwei von ihnen DDR-sozialisiert, und drei Frauen, alle aus den alten Bundesländern, keiner von ihnen Mitglied der
PDS, folgten einer Einladung des 1996 gegründeten Berliner Instituts für Kritische Theorie. Sie sehen sich als "welthistorisch
Ernüchterte" (W.Haug), die "all diejenigen zu gemeinsamem Handeln aufrufen, die wie Walter Benjamin meinen: Dass es so weitergeht, ist
die Katastrophe."
Den Diskussionsveranstaltungen folgte eine Publikation. Sie beginnt mit einem Vorwort von
Wolfgang Fritz Haug, an die sich die in drei Teile gegliederten "Gespräche" anschließen. Der erste Teil behandelt Fragen der Methodik
und den "Moderne"-Komplex; der zweite Konfliktlinien und historische Subjekte; der dritte betrachtet die Welt nach dem 11.September und die
weltpolitischen Perspektiven. Immer wieder diskutierte Grundfragen betreffen den Zustand und die Perspektiven des Kapitalismus, das Verhältnis von
Kapitalismus und Moderne, "Die Spannung zwischen utopisch anmutender Vision und tatsächlicher Politikfähigkeit" (W.Haug), die
nicht nur die PDS, sondern die gesamte Linke weltweit auf radikal neue Weise bewältigen muss und damit verbunden kurz-, mittel- und
langfristige Ziele linker Politik, die Fragen von Politik, Herrschaft, Gewalt und Macht, Parteiform und -politik und, last but not least, Subjekte und Gegenmacht.
Zunächst sollte "über grundlegende Problem- und Situationsbestimmungen
linker Politik heute, unter besonderer Beachtung ihrer Widersprüche diskutiert werden" (W.Haug). Als solche entscheidenden Widersprüche
nannte Frieder Otto Wolf den zwischen nationalem Politikraum und transnationaler Entwicklung; zwischen der [einen] Partei und einer pluralen Linken;
zwischen der Politikform einer politischen Partei und der neuen Form der sozialen Bewegungen.
Dass auch der Widerspruch, der die Geschlechterverhältnisse hier und heute charakterisiert, für die Linke von Bedeutung ist, wurde nur von Frigga
Haug hervorgehoben. Die Geschlechterfrage betreffe nicht nur die Frauen und die Familie, sondern transformiere alle Seiten des Lebens der Gattung; den
Menschen werde aber eingeredet, es genüge, wenn jede Frau sich als Einzelkämpferin auf allen Ebenen gegenüber Männern durchsetzt.
Die Frauenbewegung habe sich seinerzeit "als subalterne Gruppe widerständig organisiert" (F.Haug). Die heute dominierende Frauenpolitik
betrachte "Frauen praktisch als die zentrale Zielgruppe für die Vereinzelungspolitik von oben". Dieser Vereinnahmung durch die Herrschenden
und der Transformierung ihrer Ideen in Bestandteile des Herrschaftsdiskurses sind allerdings alle der vor wenigen Jahrzehnten noch machtvollen
emanzipatorischen sozialen Bewegungen zum Opfer gefallen von der Frauenbewegung und den Grünen bis zu den Dissidentengruppen in der
DDR.
Es fällt auf, dass wesentliche Facetten des "verschwundenen Sozialismus"
gänzlich ausgeblendet werden. Weder das widersprüchliche Wesen dieses "Realsozialismus" noch der ambivalente Charakter seiner
Errungenschaften schien den Teilnehmenden für eine linke Strategie von Bedeutung. Nicht untersucht wurde, ob der "Realsozialismus" ein
trotz aller Ambivalenzen bewahrenswertes emanzipatorisches Erbe hinterlassen hat, das für die aus der Niederlage zu ziehenden Lehren hinsichtlich der
Alltagspolitik von Belang für die Linken sein könnte. So scheinen vierzig Jahre politischer, sozialer und ökonomischer Erfahrungen in einem
nichtkapitalistischen System sowie der kurze und abortive Versuch, den "Realsozialismus" in eine sozialistische Demokratie zu verwandeln, den
meisten Teilnehmenden ohne Belang für die Zielstellung der "Unterhaltungen" zu sein. Für emanzipatorisch bedeutsam werden lediglich
"die Erfahrungen und Diskussionen zur Transformation des Kapitalismus … in Richtung sozialistischer Perspektiven in Westeuropa" (Deppe) der
intellektuellen Linken im Westen in den 70er Jahre gehalten.
Wenig angemessen erscheint auch, dass denjenigen, "die durch die Tradition des
Realsozialismus geformt sind" (Deppe), unterstellt wird, sie seien außerstande, sozialistische Perspektiven "anders zu denken als den
sowjetischen Weg nach der Oktoberrevolution", weil ihnen "die Erfahrungen und Diskussionen zur Transformation des Kapitalismus" der
intellektuellen Linken im Westen fehlen. Solchen Feststellungen liegen kaum "Verständnisschwierigkeiten" zwischen unterschiedlich
Sozialisierten zugrunde. Dass DDR-Sozialisierte "die zwei Grundfehler des Bolschewismus", der "weder je die Natur und Bedeutung des
Reformismus noch das Verhältnis zur Demokratie begriffen hat", perpetuieren, oder dass die Mehrzahl der PDS-Mitglieder an obsoleten
Vorstellungen festhalten, (Deppe) blieben unbewiesene Behauptungen.
Im Gegensatz dazu hat Wolfgang Fritz Haug im Vorwort die "glaubwürdige
historisch-kritische Auseinandersetzung [der PDS] mit kommunistischer Politik im 20.Jahrhundert und ein Maßnehmen an den veränderten
Bedingungen des sich in Krisen und Kriegen transnational reorganisierenden Kapitalismus" unterstrichen.
Neben der Pluralität bedürfe es aber auch "der Ebene einer klaren
Orientierung", weil "Ziele … nur erreichbar [sind], wenn sie mit einiger Kraft in der Gesellschaft artikuliert und vertreten werden"
(Küttler). Eine solche Orientierung auf bestimmte Grundpositionen und Zielstellungen, die von allen Teilnehmenden der Gespräche vertreten
wurden, war die Anerkennung der immer bedrohlicheren Folgen der Entwicklung des Kapitalismus. Marx Voraussagen dazu waren eingetreten,
allerdings nicht seine Erwartungen an "die Entwicklung der großen Gegenkraft", weshalb bisher auch noch niemand verkünden kann,
"wie ein sozialistischer Umbau des sozio-ökonomischen Systems im Ganzen aussehen und geschehen könnte" (W.Haug). Mit diesen
Positionen solidarisierte sich auch Uwe Jens Heuer in seiner Rezension des Buchs in der jungen Welt.
Daher könnten die Fernziele, an denen sich der demokratische, plurale, als Netzwerk
organisierte Sozialismus festhalten solle und denen er "schon jetzt Stützpunkte in der Wirklichkeit schaffen" müsse, nur "die
Verknüpfung von Solidarität mit Freiheit, wie sie im Manifest formuliert ist" (W.Haug) sein, denn es könne sich nur um Fernziele auf
solcher Verallgemeinerungsebene handeln, wie "den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde … systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen
Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen" (Karl Marx).
Dass es trotz der historischen Niederlage des Sozialismus möglich war, in den "Unterhaltungen" Einverständnis über bestimmte
gemeinsame Grunderkenntnisse zu erzielen, die ihre Wurzeln in der emanzipatorischen Tradition des Marxismus und der europäischen Arbeiterbewegung
haben, ist eine bedeutsame Leistung. Diese Tradition steht somit weiterhin für linke Politik- und Strategieansätze zur Verfügung.
Das gehört zu den Voraussetzungen, dass sich Subjekte entwickeln können, die
Alternativen zur heutigen Gesellschaftsform für notwendig und machbar halten.
Damit in diesem Sinne handlungsfähige historische Subjekte "den Zusammenhang
von Gesellschaftsveränderung und Selbstveränderung spüren und sich bewegen" (F.Haug), werden allerdings noch viele der in den
"Unterhaltungen" aufgeworfenen Fragen beantwortet und viele weitere Fragen gestellt werden müssen.
So wurde zwar die Auffassung vom unaufhaltsamen Untergang des Kapitalismus an der
Überakkumulation, wie sie der von Erhard Crome als Scharlatan bezeichnete Robert Kurz und seine Anhänger vertreten, von allen Teilnehmenden
zurückgewiesen, es blieb jedoch offen, "was … nun [geschieht], wenn nach dem Scheitern der Sozialismusvorstellungen … diese Perspektive"
(W.Haug) des transitorischen Kapitalismus wegfällt. Lässt sich die moderne Gesellschaft auf die dominierende kapitalistische Produktionsweise
reduzieren oder strebt "zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Deregulierungs- und Privatisierungspolitik des Neoliberalismus so etwas an …
wie tatsächlich einen einzigen globalen Kapitalismus, der alles andere unter sich bringt oder absorbiert" (W.Haug). Um diese entscheidende Frage zu
klären, bedarf es "einer genauen Analyse der gegenwärtigen Umwälzung der Produktionsweise und der gesamtgesellschaftlichen
Folgen dieser Umwälzung" (Küttler).
Über die Einsicht, dass es ein gesamtgesellschaftliches revolutionäres Subjekt
"Arbeiterklasse" nicht mehr gibt, wenn es das denn je wirklich gegeben hat, wurden erste Erkenntnisse bezüglich des
"transnationalen" Subjekts sozialistischer Gesellschaftsveränderung geäußert.
Ein weiterer Verdienst der "Unterhaltungen" besteht in der Einbeziehung der bisher
erkennbaren Folgen der technologische Transformation für die Herausbildung des historischen Subjekts. Diese Transformation habe u.a. zu einer
veränderten Haltung zu Fiktion und Realität geführt, woraus folgt, dass auch die "Politik … das Aktivierungsangebot, das in den
Computerspielen steckt, aufgreifen muss" (F.Haug). Es müsse darum gehen, die Vereinzelung, die damit verbunden ist, in Gemeinschaftlichkeit zu
überführen. "Die spezifische Weltauffassung, die das Internet im Unterschied zu früheren Formen kultureller Vergesellschaftung mit
sich bringt, entspricht … ziemlich genau der Weltauffassung, die von der heutigen herrschaftsförmigen Globalisierung nahegelegt wird" (Spehr).
Daher wird leicht vergessen, dass die Grundlage des durch die Elektronik möglich gewordenen "mächtigen kommunikativen Handelns"
immer noch die konkrete Arbeit und die Ressourcen von Millionen Menschen ist. Den neuen Subjekten, den "virtuellen Identitäten", ist nicht
klar, "dass ihre eigene Produziertheit als Menschen von einem ganzen Universum reproduktiver Arbeit abhängt, dessen Gesetze ihnen unwirklich
und rückschrittlich erscheinen". Daher sei die Debatte zwischen Globalisierungskritikern etwa der Attac-Bewegung und den
Anhängern der Freien Softwarebewegung so wichtig.
Im dritten Teil, nach dem 11.September 2001, kam in den nunmehr virtuell (per E-Mail) geführten Gesprächen die Problematik der Globalisierung
umfassend zur Sprache. Wichtige Erkenntnisse waren, dass "die Verwandlung imperialistischer Interessen in die Verteidigung westlicher Werte
schlechthin eines massenpsychologisch geeigneten Katalysators bedurfte" (Peter), den die tragischen Ereignisse vom 11.September lieferten. Die
"Verfeinerungen und Differenzierungen postmodernen und postkommunistischen Denkens" wurden durch die Ereignisse des 11.September
hinweggefegt; an ihre Stelle traten "binäre Gegensätze wie gut/böse", wurden "manichäische Gefühle
aufgerührt", die "massenhafte Zustimmung zu Formen staatlicher Gewalt mobilisieren" konnten (F.Haug). US-Präsident Bush
würde aber "langfristig nicht das ganze politische Spektrum … hinter seiner Strategie eines unbegrenzten Weltkriegs gegen den Terror … vereinigen
können" (Küttler), denn auch die USA benötigten eine "Koalition unter Einschluss der wichtigen Schwellenländer, die
wiederum druckempfindlich sind gegenüber der Haltung ihrer Bevölkerungen" (Spehr). Linke Politik müsse daher dafür
eintreten, dass überall "die Beteiligten und Betroffenen ihre Zukunft selbst gestalten und aushandeln, statt "Lösungen zu ermitteln, die
von außen durch Intervention durchgesetzt werden"; sie müsse diejenigen "solidarisch und energisch unterstützen, denen
gleichwertige Verhandlungsmacht verweigert wird" (Spehr).
Peter von Oertzen erklärt in seinem Nachwort, das Gespräch sei "in seinem
Ergebnis … weit mehr als die Summe der einzelnen Diskussionsbeiträge". Es seien jedoch unvermeidlich "Fragen, die eine Fortsetzung des
Gedankenaustauschs nahe legen" offen geblieben. Das Fehlen eines durch fertige Antworten begründeten Führungsanspruchs wird auch in der
Besprechung von Diether Dehm im Neuen Deutschland positiv hervorgehoben.
Ein herausragendes Verdienst dieser Publikation ist die Methode des "offenen
Laboratoriums" (W.Haug), die darin besteht, "nicht so zu tun, als hätte man zu allem immer schon die Lösung, sondern die
drängenden Fragen des Lebens selbst zu benennen, sie zur Diskussion anzubieten und die Adressaten in die Suche nach Lösungen
einzubeziehen".
Auch wenn dies nicht immer gelang, erwies sich bereits das Bemühen als produktiv.
Hanna Behrend