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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2002, Seite 20

Gefängnistheater

Die Hölle auf Erden

Der Bus, mit dem die knapp 100 Insassen in die Justizvollzugsanstalt Ossendorf einfahren, hat keine Schlitze, sondern normale Fenster. Vom Kölner Zentrum fährt er in das größte Gefängnis in Nordrhein-Westfalen. Dort wird das Theaterstück Apocalipse 1,11 des brasilianischen Theaterensembles Teatro da Vertigem gespielt. "Theater der Welt" hieß das internationale Festival, das knapp eineinhalb Wochen lang bis zum 30.Juni in vier Städten des Bundeslands stattfand und über 40 Stücke im Programm hatte. Eines der herausragenden Ereignisse war Apocalipse 1,11.
Weil Geld im Knast nicht erlaubt ist, nimmt ein junger Mann den Theatergästen auf der Fahrt die Geldbörsen ab, die sie in Tüten packen müssen und nach ihrem Gefängnisaufenthalt wiederbekommen sollen. "Willkommen", krächzt vor dem Gefängnistor eine Schauspielerin, die einen betrunkenen Obdachlosen spielt, "hier ist die Hölle auf Erden". Ganz unaufällig gesellt sich ein dunkelhaariger Mann mit einem alten Koffer zu den Gefängnisgästen, die sich jetzt langsam in Zweierreihen, säuberlich getrennt nach Geschlecht, hinein in die "Schleuse" bewegen, wo sie von Vollzugsbeamten abgetastet werden. Die "Wanderung durch die Gefängnisräume", wie im einem Prospekt angekündigt, hat begonnen.
Zusammen mit Joćo, dem unauffälligen Mann auf der Suche nach dem "Neuen Jerusalem", werden die Gefängnisgäste durch die dunklen Flure und Hallen dirigiert. "Weitergehen, schneller", schnauzen die ganz in schwarzes Leder gekleideten Engel und hetzen die Besucher von einer Station der Apokalypse zur anderen. "Warum renne ich und komme nirgendwo hin? Warum arbeite ich und habe nichts? Warum atme ich und es fehlt mir immer an Luft?", fragt Joćo voller Verzweiflung den stummen Jesus. Der hilft ihm nicht und lässt ihn Zeuge all des Elends der Welt werden.
Je lauter die immer wiederkehrenden Engel predigen, um so deutlicher zeigt das Theaterstück, dass keine überirdische Macht für das Elend verantwortlich ist, sondern nur der Mensch selbst. Apocalipse 1,11 steckt voller politischer Anspielungen: Die Spastikerin Talidomida, benannt nach dem brasilianischen Conterganmittel, feiert die Entdeckung Brasiliens und wird anschließend vergewaltigt. Einer anderen Frau führen die Büttel der Macht eine Ratte in die Vagina ein — eine Foltermethode, die in lateinamerikanischen Militärdiktaturen praktiziert wurde.
In den Kellerräumen der JVA stellt das Ensemble das Massaker von Carandiru nach, bei dem 1992 im größten Gefängnis Lateinamerikas 111 Gefangene ums Leben kamen. Begleitet wird das Gemetzel von einem brasilianischen Fernsehmoderator, der sich sensationslüstern an der Gewalt aufgeilt.
"Das menschliche Leben ist eine große Belastung für die öffentlichen Finanzen", sagt ein Richter, bevor er im Schlussakt die Hure Babilonia hinrichten lässt. Auch das Publikum darf Richter spielen. Die schwarzen Engel verteilen Eier an die Zuschauer, die sie gemeinsam mit ihnen auf die behinderte Talidomida werfen sollen. Doch bis auf einen älteren Herrn kommt niemand der Aufforderung nach. Vielleicht ahnten die Besucher das Ende: Der Richter hat niemanden mehr, den er richten kann, und hängt sich selbst auf.
Doch so verzweifelt lässt das von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie inspirierte Teatro da Vertigem seine Gäste nicht zurück. Joćo, der all das Leid mit ansehen musste, begegnet abermals Jesus. Diesmal redet er: "Das neue Jerusalem ist hier und jetzt." Kein Gott, kein Kaiser und kein Fußballstar werden die Welt retten, sondern nur die Menschheit selbst ist dazu in der Lage.
Das ist die Botschaft des Abends — allerdings nicht für die Gefangenen der Justizvollzugsanstalt. Sie bleiben während des Stücks in ihren Zellen. Statt eines Theaterstücks hält das nordrhein-westfälische Innenministerium etwas ganz anderes für sie bereit: Ein Teil der Zellen wird in hermetisch abgeriegelte Käfige verwandelt. Die ohnehin schon vergitterten Fenster werden aus "Sicherheitsgründen" nach und nach zusätzlich mit einem Feingitter abgedeckt. Für die Gefangenen ist die Sicht nach draußen damit weitgehend versperrt. Wie hieß es zu Beginn des Theaterstücks? "Willkommen, hier ist die Hölle auf Erden!"

Gerhard Klas


LeserInnenbrief@soz-plus.de
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