SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, September 2002, Seite 1

Documenta 11

Weder Kunst, noch Revolution

Und Geschichte wiederholt sich doch, könnte man glauben, wenn es um die Wahrnehmung der Documenta 11 geht. Der Entsetzensschrei bürgerlicher Kunstkreise, der angesichts der Documenta 5 die Republik 1972 erschütterte, hallt auch im Jahr 2002 durchs Land: Von "geistiger Bankrotterklärung" schrieb Marion Gräfin Dönhoff vor dreißig Jahren, die nur zu ertragen wäre, weil es sich "in den allermeisten Fällen gar nicht um Kunst handelt" (Die Zeit, 4.8.1972). "Was soll uns diese Kunst?", fragt Hanno Rauterberg im selben Organ heute. "Schmalspurphilosophen" wären am Werk, die Kunst wirke mit "an der Zerstörung ihrer angestammten Rolle", lautet sein Urteil.
Während damals die Welt noch halbwegs in Ordnung schien, und eine kritische Gegenöffentlichkeit die Documenta 5 zumindest als verspätete "68er" Ausstellung begrüßte, hält sich im Jahr 2002 die Begeisterung aus linker Perspektive an der Großausstellung in Grenzen.
"Wie politisch ist die Documenta 11?", fragt Michael Hübl (Kunstforum, Bd.161, 2002). Das ist nicht ganz unberechtigt. Stellt sich "nur noch" die Frage nach dem Maßstab, an dem die Documenta 11 gemessen werden soll.
Traditionelle Kritiker werden hier auf den Kunstbegriff per se rekurrieren, d.h., welchen Stellenwert in der zeitgenössischen Kunst nehmen die Werke ein, welchen die Gesamtausstellung. Den "state of the art" der letzten fünf Jahre in der Ausstellung abzubilden, ist (bis auf die erste Ausstellung, die versuchte, die westdeutsche Kulturlandschaft nach Nationalsozialismus und Krieg wieder an die aktuelle Kunstentwicklung heranzuführen) seit jeher Auftrag der Documenta-Leitung. Diese enge Betrachtungsweise eines eher ästhetischen Kunstverständnisses kommt sicherlich auch den oben genannten Zeit-Autoren sehr entgegen.
Allerdings gibt es mit der Documenta 5 und der Documenta 10 ebenso eine gewisse "Tradition" an Brüchen im Selbstverständnis der Großausstellung (Harald Kimpel, "Documenta. Die Überschau", 2002). Okwui Enwezor bezieht sich in seiner Konzeption ganz bewusst auf die Ansätze Harald Szeemanns, dem künstlerischen Leiter der Documenta 5 (1972), und Catherine Davids, Leiterin der Documenta 10 (1997).
Szeemann entwarf eine Konzeption, die den Museumscharakter der vorhergehenden Ausstellungen durch eine "begehbare Ereignisstruktur mit sich verschiebenden Aktionszentren" ersetzte — das "Museum der 100 Tage" (seines Vorgängers Arnold Bode) wird zum "100-Tage-Ereignis", zu einem Prozess sich aufeinander beziehender Ereignisse.
David dient dem aktuellen Leiter sowohl inhaltlich durch ihre starke Ausrichtung auf gesellschaftliche Probleme, wie Urbanität und Globalisierung, als auch strukturell durch eine Reihe globaler Diskurse, die als ein "Forum für Debatten und Reflexionen" gedacht sind, um dem "weltweiten Prozess der Entpolitisierung" entgegenzuwirken, als Vorbild.
Revolutionäre Rhetorik

Okwui Enwezor und seine Co-Kuratoren knüpfen mit ihren fünf "Plattformen" an diese Konzeption von Dialogprozessen an. In den ersten vier getrennten Plattformen werden von März 2001 bis März 2002 verschiedene Schwerpunkte thematisiert: "Demokratie" (Wien/Berlin), "Rechtssysteme im Wandel" (Neu-Delhi), "Créolité und Kreolisierung" (St.Lucia) und schließlich "Unter Belagerung: Vier afrikanische Städte" (Lagos). Die fünfte Plattform in Kassel (die eigentliche Ausstellung) sollte die ersten vier zusammenführen (Documenta 11_Plattform 5: Ausstellung, Katalog, 2002).
Strukturell versucht die Ausstellungsleitung neue Wege zu gehen: Die Documenta 11 versteht sich als Prozess, in dem die zeitliche Abfolge der "Plattformen" einen Informations- und Denkfluss ermöglicht. Zumindest theoretisch, in der Praxis erlauben aber bedauerlicherweise die immensen Entfernungen (und damit Kosten) den eigentlich "Betroffenen" keine Teilnahme oder unmittelbare Rückkopplung.
Inhaltlich hob sich insbesondere die Plattform 1 durch eine Radikalität hervor, die dem "gemeinen" Kunstinteressierten fremd vorgekommen sein mag: Von "Counter Politics: Direkte Aktion, Widerstand und bürgerlicher Ungehorsam" und der Notwendigkeit einer "Neuschaffung globaler demokratischer Politik vom Standpunkt der revolutionären Subjektivität der Massen" (Negri/Hardt) war die Rede.
Von dieser Radikalität ist letztendlich nichts in die eigentliche Ausstellung eingeflossen, es war auch gar nicht beabsichtigt, wie Enwezor ausführt: "Aber ich habe keine Ausstellung gestaltet, die dem Agitprop Raum bietet, wo all das notwendige Aufhebens um den Wandel gemacht wird, und dann ausrangiert wird, wenn die Style Watcher einen neuen und noch aufregenderen Stil ausgemacht haben" (Interview im Kunstforum, Bd.116, 2002).
Mit dieser Diffamierung all dessen, was über das einfache Ausstellungskonzept der Wiedergabe von Ungleichheiten, Ungerechtigkeit, Gewalt und Repression hinausgeht, machen es sich die Organisatoren aber zu einfach. Sicherlich ist Enwezor zuzustimmen, wenn er attestiert, dass die Forcierung einer solchen Konfrontationsstrategie im Sinne eines nationalstaatlich oder ethnisch fundierten — und damit letztlich wieder ausgrenzenden — Multikulturalismus kontraproduktiv ist.
Allerdings muss Enwezor, auch wenn er hier von einem "multikulturellen Schreckgespenst" spricht, gleichzeitig anerkennen, dass der Diskurs "zur Durchsetzung von Bürgerrechten, Anerkennung von Differenz, Toleranz und Respekt für andere Kulturen und Lebensformen" führte (Okwui Enwezor, "Großausstellungen und die Antinomien einer transnationalen globalen Form", 2002), und heute nach wie vor von Relevanz ist. Letztendlich kokettiert auch die Documenta-11-Leitung mit der multikulturellen Besetzung des Kuratoriums, wenn auch in der von ihr akzeptierten kosmopolitischen Form.
Aber inwiefern spiegelt eine durch hohe Mobilität und Mediennutzung gekennzeichnete kosmopolitische Klientel die "Realitäten" in den Herkunftsländern wider? Das Kuratorium besteht durchgehend aus Kunstexperten, die in westlichen Metropolen ausgebildet wurden und dort leben — trotz ihres Abstraktionsvermögens und der Authentizität ihrer Erfahrungen in der "Peripherie", bleibt zu fragen, inwieweit sie sich vom "westlichen" Kulturverständnis lösen können. Oder sind die Befürchtungen vollkommen unbegründet und diese Vorstellung "impliziert [lediglich] eine perfide Vorstellung von Postkolonisierung" (Amine Haase)?
Offensichtlich nicht, denn Enwezor selbst muss feststellen, dass die Nähe zum Westen eine "höchst zweischneidige Waffe [ist]. Sie trennt das revolutionäre und emanzipatorische Potenzial, das postkoloniale Kritik gegen die großen Herrschaftserzählungen aufbringt, von der nationalistischen Tradition, die auf Tradition und Authentizität setzt."
Lebens-Realitäten

Für die Ausgegrenzten, Unterdrückten und Ausgebeuteten, leben sie nun im Norden — in der von Enwezor so romantisierend dargestellten kosmopolitischen Welt — oder im Süden, reichen Zukunftsversprechen auf Demokratie, eine emanzipatorische Perspektive und eine sichere soziale Zukunft nicht mehr aus.
Diesseits oder jenseits einer tatsächlichen oder virtuellen Grenze zu leben ist für sie nicht nur eine Frage des Blicks auf das ganz banal Trennende, etwa einen stacheldrahtbewehrten Zaun (wir denken hierbei an die Videoinstallation Chantal Akermans, From the Other Side, die ganz simpel die US-amerikanisch-mexikanische Grenze per Video live in den Ausstellungsraum holt), sondern der damit verbundenen (Über-)Lebensperspektiven — in Armut oder Reichtum zu leben, einsam oder "in Gesellschaft" zu sein, unterdrückt oder frei von Repression zu sein, sind die Gradmesser der unterschiedlichen Realitäten dieses Planeten.
Wie aber sieht das Alternativkonzept aus? Erschöpft es sich in der Hoffnung auf eine wie auch immer geartete "Moderne"? Die Aussagen der Kuratoren deuten darauf hin, dass sie den Diskurs über gesellschaftsverändernde Faktoren eher zugunsten eines langfristigen Entwicklungsmodells aufgeben möchten: "Es geht also gar nicht so sehr um Politik im Sinne von links und rechts, sondern vielmehr um unser Bestreben, die ästhetische Geste ethisch zu untermauern, ihr eine ethische Position zu verleihen" (Carlos Basualdo, Co-Kurator).
Folgerichtig bleibt die Documenta 11 in der Abbildung von Lebenswelten verhaftet, Möglichkeiten zu ihrer Überwindung werden eher angedeutet (Slogans der Popart-Collagen Fabian Marcaccios: Undoin‘ the State und End of Main Stream), als — mehr oder weniger deutlich — ausgesprochen (wie etwa im Fall der Kroatin Andreja Kuluncic mit ihrem Projekt Distributive Justice).
Veränderter Blickwinkel

Es bleiben Fragen: Hat die Documenta ihre Unschuld verloren, weil sie sich politisch gibt, aber entpolitisierend wirkt? Was kann beim Besucher vorausgesetzt werden? Trifft Enwezors Ansatz zu, die Zielgruppe solcher Großausstellungen nicht beim "idealen Betrachter" zu sehen, sondern eher bei einem "allgemeinem Publikum", das auf ein "zuschauendes Erleben durch Verbreitung und Vervielfältigung" ausgerichtet sei?
Die Vision der Documenta 11 erschöpft sich allem Anschein nach in einem veränderten Blickwinkel, in einem Versuch, den euro-amerikanischen Fokus auf die Welt, um eine "Südperspektive" zu ergänzen — ohne dem Ganzen einen kritischen Blick auf den Norden hinzuzufügen. Oder in den Worten Michael Hübls: "Tatsächlich erweckt die Documenta 11 den Anschein, als erübrige sich jede Frage nach den künstlerischen Mitteln und ihrer ästhetischen, epistemologischen und politischen Brisanz, weil ja doch die Ausstellung in ihrer Gesamtheit den großen Perspektivenwechsel vollzieht."

Dirk Krüger


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