SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2002, Seite 7

Gesundheit

Die Arbeit an der Gesundheit und die Demontage des Sozialen

Die Arbeit an der Gesundheit in unserer Gesellschaft ist wie ein Brennglas der gesellschaftlichen Pyramide und geschlechtshierarchischen Teilung von Arbeit. An der Spitze steht die medizintechnische und wissenschaftliche, gesellschaftlich hochbewertete Arbeit, mit einer deutlichen männlichen Mehrheit vor allem in den Entscheidungspositionen. Darunter die qualifizierte pharmazeutische, therapeutische und technische Zuarbeit von Physiotherapeutin, Praxishelferin und Apothekerin, mit einer weiblichen Mehrheit. Darunter — und die Pyramide wird breiter — die niedrig bewertete und gering entlohnte Pflegearbeit im formalen und informellen Sektor. Und schließlich der Sockel der Pyramide: die unbezahlte Sisyphusarbeit im Haushalt, vor allem an den lieben Kleinen und den pflegebedürftigen Alten. Dies bedeutet, dass die erhaltende und pflegerische Arbeit an der Gesundheit — das Fundament der Versorgung — nahezu vollständig Frauenarbeit ist.
Für den formalen Sektor heißt das auf Statistikdeutsch: 71% von 4,1 Millionen Beschäftigten im Gesundheitssektor sind Frauen. Die Schwarzarbeit und die gesamte unbezahlte Gesundheitsarbeit im privaten Bereich und als Ehrenamt in Gemeinden und Krankenhäusern wird solche Statistiken als nicht wertschöpfend ausgeblendet.
Die gesundheits- und körperbezogene Arbeit rangiert unten auf der gesellschaftlichen Bewertungsskala von Arbeit, weil alle Sorgearbeit nicht als produktive, sondern als reproduktive Arbeit gilt und reproduktive Arbeit in der unbezahlten Haushaltsökonomie verortet wird. Diese Geringschätzung wiederholt sich in der Entlohnung, wo Sorgearbeit in den formalen Sektor integriert ist. Vor ein paar Jahren zog in Schweden eine Hebamme vor Gericht, weil sie für ihre Arbeit 1000 Mark weniger bekam als ein im selben Krankenhaus beschäftigter Elektriker. Das Gericht bestätigte die gesellschaftliche Geringbewertung ihrer Arbeit, sie verlor den Modellprozess.
Der derzeitige Alarmbegriff für die Krise der gesundheitsbezogenen Dienstleistungen in unserer Gesellschaft heißt "Pflegenotstand" — Unterversorgung mit Personal und dessen Überlastung. Fachärztemangel zeichnet sich als nächster Personalnotstand ab. In den USA, Großbritannien und Frankreich ist diese Versorgungskrise längst Realität.

Arbeitsmigration und Umverteilung im Weltmaßstab

Im Augenblick wird ein Globalisierungsmechanismus, nämlich die Transnationalisierung von Arbeitsmärkten und Arbeitsmigration zur Lösung des Personalproblems genutzt. Bereits in den 70er Jahren waren es Krankenschwestern aus Südkorea, Sri Lanka, Südindien und den Philippinen, die uns aus der damaligen Pflegepatsche halfen — Frauen aus Ländern und Regionen, wo Fachkräfte teils sehr gut ausgebildet werden, aber nur unter höchst unbefriedigenden Bedingungen und kaum existenzsichernd entlohnt arbeiten können. Jetzt sind zu den Süd- und Südostasiatinnen viele Osteuropäerinnen hinzugekommen, vor allem auch in der Grauzone der Altenpflege in Privathaushalten, politisch abgesegnet durch eine Greencard.
Gerade im Bildungs- und Gesundheitsbereich qualifizierte Frauen sind ein Exportschlager dieser Länder und mit ihren Rücküberweisungen Devisenbringerinnen Nr.1, sprich ökonomisch bedeutende Posten. 70% der auf den Philippinen ausgebildeten Krankenschwestern arbeiten im Ausland. Das bedeutet aber auch, sie fehlen im eigenen Land. Wir pflegen unsere Gesundheit auf Kosten der armen Bevölkerung der Länder des Südens und Ostens — die Reichen können sich auch in diesen Ländern Pflege und Gesundheit kaufen. Unsere Versorgung beruht auf der ökonomischen Ungleichheit im Weltmaßstab und sie verstärkt diese Ungleichheit: In Deutschland kommt ein Arzt auf 250 Bewohner, in Indien auf 2500 Menschen, in den ärmsten afrikanischen Ländern, in Nepal und Haiti muss ein Arzt statistisch 25000 Menschen versorgen. Die Arbeitsmigration verstärkt somit das globale Apartheidsystem der medizinischen Versorgung und ist ein weltweites Umverteilungssystem von unten nach oben, das Züge einer sozialdarwinistischen Rangordnung hat.
Simbabwe ist ein brutal anschauliches Beispiel für diese Dynamik. Die Einführung eines Strukturanpassungsprogramms 1991 bewirkte drastische Einsparungen im öffentlichen Gesundheitswesen und die Einführung von Nutzungsgebühren. Zu Hunderten verließen Ärzte und qualifiziertes Pflegepersonal das Land, ein Tuberkulosekontrollprogramm kollabierte, die Zahl der TB-Erkrankungen schnellte in die Höhe, ebenso die Mütter- und Kindersterblichkeit, weil die Armen die Gebühren für medizinische Behandlung nicht zahlen konnten. In den 90er Jahren wurden in Zimbabwe 1200 Ärzte ausgebildet. Davon sind nur 360 im Land tätig. Die Abgewanderten arbeiten zum Teil im Nachbarland Südafrika. Südafrika ist eine Drehscheibe im weltweiten Umverteilungssystem. Es wirbt Ärzte aus Zimbabwe, Zambia und Kuba ab, während südafrikanische Ärztinnen nach Kanada und Großbritannien rekrutiert werden — eine Sogwirkung entlang des globalen Wohlstandsgefälles.
Mindestens seit den 70er Jahren besteht ein voll entwickelter Weltmarkt für medizinische Fachkräfte und Pflegepersonal: eine Global Care Chain — eine weltumspannende Versorgungskette, die nahezu vollständig weiblich ist, und ein Global Trade in Skills, wobei skills medizinisch-technische, pflegerische und soziale Fähigkeiten meint. Das bedeutet aus der Perspektive eines Ziel- und Importlandes wie Deutschland, dass es medizinische Qualifikation, aber auch Beziehungsarbeit, Fürsorglichkeit und Soziales importiert.
Die Arbeitsmigration stellt einen immensen Abzug an Wissen und Qualifikation, an Human- und Sozialkapital aus ärmeren in wohlhabende Gesellschaften dar. Stellt man die Kosten für diese Qualifikationen in Rechnung, so subventioniert der Süden den reichen, aber an Fürsorge und Sozialem verarmenden Norden mit jährlich mindestens 500 Millionen Euro.

Effizienz und Sorge

Hinsichtlich der Fürsorge- und Pflegearbeit gibt es ein fundamentales Problem: Rationalisierung und Produktivitätssteigerung — die normativen Prämissen für Wirtschaftlichkeit — haben ihre Grenze an der Menschlichkeit. Das hat die Einführung von Pflegemodulen mit der Inwertsetzung von Handreichungen im Minutentakt gezeigt. Körperpflege, Beziehungsarbeit, Zuwendung sind nun einmal nicht grenzenlos zu beschleunigen.
Deshalb wird versucht, unter dem Effizienzdiktat die Beziehungsarbeit — das Fürsorgliche — aus der bezahlten Ökonomie herauszukatapultieren, zu externalisieren. Die Altenpflegerin, die trotz Zeitterror und Leistungskontrolle auch noch ein paar Streicheleinheiten gibt, schadet sich ökonomisch selbst, denn dies bekommt sie nicht bezahlt. Das Abrechnungssystem der Kassenärzte bestraft sie wirtschaftlich für genaues Hinhören und Beziehungspflege zum Patienten. Das Effizienzprinzip steht quer zum Sorgeprinzip und führt deshalb zur Abwertung der Sorgearbeit innerhalb der Marktökonomie oder zu ihrer Abspaltung. Ökonomisierung der Gesundheitsarbeit bedeutet eine "fachliche" Trennung von medizinisch-technokratischen und sozialpflegerischen Arbeiten. Damit öffnet sich die Schere zwischen besserverdienenden produktivitätssteigernden Wissens- und Technikarbeitern und niedrig entlohnten, "unproduktiven" Pflege- und Sorgearbeiterinnen weiter. Hierarchisierung und soziale Polarisierung verstärken sich.
Dies zeigt sich auch beim Blick auf die Krankenhausreform. Rationalisierung beim Ausbau von Fachkliniken und sogenannten Profit-Centern bedeutet technische Aufrüstung und Kostenersparnis beim Personal. Während jedoch die Zahl der beschäftigten Ärzte in deutschen Krankenhäusern steigt, ist die des Pflegepersonals und seine Ausbildung rückläufig. Eine Reihe von Krankenhäusern wären ohne die "grünen Brigaden" ehrenamtlicher Helferinnen aus der Gemeinde kaum noch versorgungstüchtig. Private Kliniken brüsten sich, die Personalkosten erheblich senken zu können: dies geschieht durch Verschlankung, sprich durch Externalisierung von Fürsorge, und durch Verdienstabbau.
Um Kosten zu sparen, werden in Zukunft Operationen und Behandlung in Krankenhäusern pauschal abgerechnet, die Aufenthaltsdauer standardisiert. In Großbritannien mit seinem Privatisierungsvorsprung werden pflegebedürftige Patienten im genormten Zeittakt entlassen und müssen dann eben zu Hause gesundgepflegt werden. Keine Frage, dass es wieder in der absoluten Mehrzahl Frauen sind, die die Pflege übernehmen. So wie auch pflegebedürftige Alte und chronisch Kranke, die in Privathaushalten versorgt werden, zu 80% von weiblichen Familienangehörigen gepflegt werden.
Das Sorgerische und Soziale wird aus der Markt- und Erwerbswirtschaft ausgelagert und von unbezahlt (oder durch die Pflegeversicherung unterbezahlt) arbeitenden Frauen in die Haushaltsökonomie übernommen. Diese Reprivatisierung von Sorgearbeit verstärkt den Mythos, dass der Haushalt als Sorgebetrieb ein außerökonomischer Bereich ist, in dem nicht wertschöpfend und produktiv, sondern "nur" sozial gearbeitet wird.
Fazit: Der Pflegenotstand, der tatsächlich eine Krise der Dienstleistung in der effizienzorientierten Marktökonomie und eine Krise des Sozialen in unserer Gesellschaft ist, wird derzeit durch zwei Verschiebe- und Umverteilungsmechanismen bewältigt. Der Import von Arbeitskräften stellt eine Umverteilung von Qualifikation und Versorgung von unten nach oben im Weltmaßstab dar. Die Reprivatisierung im Haushalt und im Ehrenamt stellt eine erneute Entwertung und Verschiebung von Sorgearbeit aus dem bezahlten in den unbezahlten Sektor dar. Beide Mechanismen erzeugen und verstärken Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten im System internationaler, nationaler und geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung.

Christa Wichterich

Christa Wichterich ist u.a. Mitglied des deutschen NGO-Forums Frauen und von Attac. Sie hat 1998 bei Rowohlt Die globalisierte Frau. Berichte aus der Zukunft der Ungleichheit veröffentlicht.



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