SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2002, Seite 9

Palästina

Befreiungskampf am Ende?

Millionen von Palästinensern sind durch die dauerhaften Ausgangssperren in den besetzen Gebieten Gefangene in ihren Häusern und abgeschnitten von Wasser, Nahrung und medizinischer Betreuung. Arafat und 100 seiner Getreue sind in 4 Büroräumen im ehemaligen Amtssitz gefangen. Währenddessen plant Israel die Vertreibung der Bevölkerung im Schatten des Irak-Kriegs. Ist damit der Kampf für palästinensische Selbstbestimmung am Ende?

Die Situation der palästinensischen Befreiungsbewegung lässt sich bildlich wohl kaum besser zeichnen. Der Vorsitzende Arafat sitzt mit 100 seiner Minister und Kämpfer in vier Räumen eines Stockwerks des letzten Gebäudes auf dem Areal seines Amtsitzes in Ramallah gefangen. Auf dem weitgehend zerstörten Gebäude weht auch noch die israelische Fahne. Die israelische Armee hat mit einem tiefen Graben und Stacheldraht den Zugang zum Gebäude abgeriegelt, Wasser und Telefonverbindungen gekappt und liefert ab und zu aus humanitären Erwägungen einige Nahrungsmittel an die Gefangenen.
An den Absichten der Sharon-Peres-Regierung gibt es keine Zweifel mehr. Sharon gab am Neujahrsfest im September der Weltpresse bekannt: "Oslo existiert nicht mehr. Camp David und Taba gibt es nicht mehr. Wir kehren nicht mehr an diese Orte zurück." Der neue israelische Generalchef, Mosche Yaalon hat wenige Tage davor in der Haaretz, der liberalen israelischen Tageszeitung, die Palästinenser als "Geschwür" bezeichnet.
Und um das Geschwür zu bekämpfen, meint der General: "Für manche Leute ist die Amputation des befallenen Organs unterlässlich. Im Augenblick wende ich die Chemotherapie an." Und so schlussfolgert auch der Pariser Uniprofessor Jean-Paul Chagnollaud auf einer Veranstaltung des Schweizer Friedensforschungsinstituts: "Ohne Zweifel sieht eine der gegenwärtigen Optionen dieser israelischen Regierung den Transfer von Palästinensern vor, d.h. ihre Vertreibung zu Tausend oder Zehntausenden, wie 1948 und 1967. Eine solche Operation ist fraglos nur in einem internationalen Kontext gewalttätiger Auseinandersetzung möglich, vergleichbar jenem, der einen amerikanischen Angriff gegen den Irak hervorrufen könnte."
Verschiedene Quellen vermuten auch, dass seit September 2000 bereits 150000—200000 Palästinenser aus den besetzten Gebieten geflüchtet sind, allein davon ca. 80000 in diesem Jahr. Die Fluchtbewegung ist Ausdruck der schrecklichen Lebensumstände der palästinensischen Zivilbevölkerung. Die Weltgesundheitsorganisation stellt in ihrer jüngsten Untersuchung über die Lebensbedingungen in den besetzten Gebieten fest, dass 67% der Palästinenser mit 2 Dollar pro Tag leben, was zu einer Mangelernährung führt. Die Hälfte der Kinder leidet unter Blutarmut, die Zahl der Hausgeburten stieg wegen der Behinderung der Krankentransporte von 5 auf 50% stiegen, wobei die Zahl der Totgeburten um 58% zunahm.
Der Bericht der drei Delegierten von Amnesty Österreich ließt sich wie ein Horrorroman: systematische Häuserzerstörungen, Missbrauch von Zivilpersonen als lebendige Schutzschilder bei Militäroperationen, willkürliche Zerstörungen von Wohnungen, Wandalismus der israelischen Soldaten etc.
Amnesty Österreich spricht in ihrem Bericht vom Mai 2002 von "massiven Menschenrechtsverletzungen" durch die israelische Armee und schätzt, dass allein in zehn Tagen israelischer Armeeoffensive in den besetzten Gebieten im Frühling 600 Palästinenser getötet und 3000 verletzt wurden. Ende September ist die israelische Armee zum ersten Mal dazu übergangen, Verdächtige in dichten Bevölkerungszentren zu jagen.
Die eindeutigen und mehrfachen Verstöße der israelischen Armee gegen die allgemeinen Menschenrechte und gegen die Genfer Konvention, die den Schutz der Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten regelt, interessiert die israelische Führung nicht, und die internationale Gemeinschaft belässt es bei verbalen Verurteilungen.
Die tragisch-komische Situation um den Amtssitz von Arafat ist aber nicht nur Ausdruck des Willens von Sharon und der militärischen Überlegenheit von Israel, sondern bedeutet auch das Scheitern der Führung der palästinensischen Befreiungsbewegung PLO oder was davon noch besteht.
Seit 1993 hat die PLO kein Eigenleben mehr. Die Bewegung wurde vielmehr auf die Autonomiebehörde reduziert. Die Politik wurde weitgehend von Arafat und seinem Klientel bestimmt.
Die zweite Intifada ist Ausdruck der durch die Osloer Zustände erzeugten Verarmung, Verzweiflung und Frustration breiter Teile der palästestinensischen Bevölkerung und ist charakterisiert durch das Fehlen einer kohärenten Widerstandsstrategie auch der kleinen linken Teile der Befreiungsbewegung.
Arafat und seine weitgehend durch Korruption und kleine Privilegien zusammengehaltene Klientel hat das Vertrauen verloren. Die Strategielosigkeit wird von linker und rechter Seite durch martialische Durchhalteparolen übertüncht, wie "Kampf bis zum Sieg" (Fatah). Die Militarisierung der Intifada mit den reaktionären, ethnisch-nationalistischen Selbstmordattentaten gegen Zivilpersonen in Israel hat die Beteiligung breiter Bevölkerungskreise am aktiven Widerstand auf Zuschauerrollen verbannt.
Die Massendemonstrationen gegen die Zerstörung des Amtssitzes und die faktische Gefangennahme von Arafat, zeigen aber, dass der Widerstandswille der Bevölkerung trotz Abriegelungen und Arafats Anpasssungskurs ungebrochen ist. Die nächsten Monate werden zeigen, ob sich dieser Widerstandswille sich trotz des Besatzungsregimes in einer neuen politischen Organisierung ausdrücken kann.

Urs Diethelm


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