SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2002, Seite 9

Vom Kampf der Barbareien

Gilbert Achcars kühle Analyse der Ursachen und Folgen des 11.9.

Gilbert Achcar, Der Schock der Barbarei. Der 11.September und die "neue Weltordnung", Köln: Neuer ISP-Verlag 2002, 131 Seiten, 12 Euro

Der russische Linksoppositionelle Boris Kagarlitzki veröffentlichte 1999 auf englisch einen so ehrgeizigen wie von der deutschen Linken einmal mehr nicht wahrgenommenen Versuch der Erneuerung sozialistischer Theorie und Praxis in Zeiten der Globalisierung. Der erste seiner drei ausgesprochen erfrischenden Bände trägt den Titel New Realism, New Barbarism und ist ein Wortspiel auf den damals noch medial gefeierten neuen Realismus des sozialdemokratischen "Dritten Weges" und seinen Zusammenhang zur zunehmenden Verrohung des herrschenden Neoliberalismus.
Für Kagarlitzki waren der Völkermord in Rwanda, die Kriege in Ex-Jugoslawien und Tschetschenien Zeichen einer neuen Barbarei, die auf Massenarmut, Wirtschafts- und Finanzkrisen, auf Mafia-Ökonomie, Rassismus und Neofaschismus, auf Katastrophen und Enttäuschungen aufbaut. Die Zivilisation gebäre Barbaren, schreibt er, die wiederum die Zivilisation zerstören, weil die Linke aufgrund ihres Zustands nicht in der Lage sei, Alternativen zu beiden anzubieten. "The dark ages begin" ("Die dunklen Jahre beginnen"), schrieb er voll pathetischem Schrecken, und mahnte uns, dass solche Zeiten Radikalismus verlangen und nicht Mäßigung, dass erneut die Alternative stehe: Sozialismus oder Barbarei.
Der damals für uns Metropolenlinke vielleicht noch abstrakte Schrecken hat mit dem 11.September 2001 seine Abstraktheit und sein Pathos abgestreift. Und das neue Buch des Pariser Politikwissenschaftler Gilbert Achcar kann als gelungene Aktualisierung der Thesen Kagarlitzkis gelesen werden. Für Achcar ist das, was sich in den einstürzenden Zwillingstürmen und dem anschließenden Krieg gegen den Terror symbolisiert, ein Kampf nicht zwischen Kulturen, nicht zwischen Zivilisation und Barbarei, sondern ein Kampf zweier Barbareien, den zu überwinden er die internationale sozialistische Linke aufruft.
Mit kühlem Kopf analysiert Achcar die geo- und machtpolitischen Neuordnungsstrategien des US- Imperialismus der letzten Jahrzehnte und interpretiert die Anschläge als barbarische Reaktionsform einer spezifischen politischen Strömung, des islamistischen Fundamentalismus, gegen den weltweiten Hegemon. Dass auch die US-amerikanische Neuordnungspolitik zutiefst barbarisch ist, macht er an zwei Aspekten deutlich, an der Reaktion auf die Anschläge und an der Tatsache, dass der barbarische islamistische Fundamentalismus ein ureigenstes Produkt der "Herren der Welt" ist.
Zum ersten: Die Tatsache, dass und wie die Anschläge vom 11.9. dazu benutzt wurden, ein Klima geistiger Einschüchterung zu erzeugen, sie zum Superverbrechen, zum Bösen schlechthin hoch zu stilisieren und jeden Versuch einer Erklärung oder Ursachenforschung umgehend als vermeintliche Rechtfertigung zu präventiv kriminalisieren, ist für Achcar ein herrschaftliches Mittel der Verhinderung kritischer Reflexion und demokratischer Diskussion. Die Rede vom Bösen schlechthin ist ihm selbst Teil eines christlichen Fundamentalismus, der mit zweierlei Maß misst und Elend und Terror jenseits der industrialisierten Metropolen verdrängt.
Herausragend und singulär ist der Terrorakt vom 11.9. nicht in seinen quantitativen Dimensionen, sondern, so Achcar, in der Wahl seiner Ziele. Dass mit dem World Trade Center das Symbol des globalisierten Lifestyle getroffen wurde, erkläre "die außergewöhnliche Intensität der durch die Zerstörung der Zwillingstürme von Manhattan weltweit hervorgerufenen Emotionen". "Man ist weit mehr über die Unglücksfälle bewegt, die Gleichartige treffen, als über jene von Menschen in anderen Lebensverhältnissen; es geht einem das Los der New Yorker weit mehr nahe als das der Iraker, der Rwander oder der Afghanen", führt er aus und nennt dies eine "narzisstische Anteilnahme".
Dass die Bilder der Zerstörung immer und immer wieder medial verbreitet werden — die zweite wirkliche Singularität des Ereignisses —, hat deswegen auch ein politisches Kalkül, eine Kriegslogik, die Achcar an einem Zitat des Kriegstreibers Tony Blair verdeutlicht: "In jeder Beziehung sind die Gerechtigkeit und das Recht auf unserer Seite und wir haben eine Strategie umzusetzen. Es ist wichtig, dass wir nie vergessen, warum wir dies tun. Es ist wichtig, dass wir nie vergessen, was wir gefühlt haben, als wir die Flugzeuge in die Zwillingstürme rasen sahen."
Zum zweiten: Kenntnis- und aufschlussreich zeigt Achcar, wie nicht nur Terror-Chef Bin Laden, sondern der gesamte islamistische Fundamentalismus als zeitgenössische politische Bewegung ursächlich verwoben sind mit der US-Politik seit Mitte des 20.Jahrhunderts. Dass Bin Laden der Zauberlehrling des CIA und ein Abfallprodukt des Kalten Krieges gegen die UdSSR in Afghanistan ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Dass Saudi-Arabien als historisches Gebilde, als spezifische Staatsform und Brutstätte des islamistischen Fundamentalismus ohne die direkte und jahrzehntelange Unterstützung der USA nicht überleben hätte können, lässt sich bei Achcar detailliert nachlesen.
All die verschiedenen Fundamentalismen waren Mittel der USA im weltweiten Kampf gegen die nach dem zweiten Weltkrieg mächtige Linke und den arabischen Nationalismus. Und nachdem diese Kampfaufgabe erfolgreich beendet war, füllte der politische Islam das politisch- ideologische Vakuum der aufbegehrenden Massen.
Schlüssig zeigt Achcar auch auf, dass der islamistische Fundamentalismus, klassenanalytisch gesehen, eine Bewegung des Kleinbürgertums, die reaktionäre Protesform radikalisierter Mittelklassen und pauperisierter Plebejer gegen die sozialen und politischen Folgen der Globalisierung ist. Wir haben es deswegen durchaus nicht mit einem Aufstand der Armen zu tun. Trotzdem lässt sich der islamistische Fundamentalismus ohne die ökonomische Krisensituation des Weltkapitalismus und die durch sie ausgelösten sozialen Anomien nicht verstehen.
Es ist dieser Hintergrund struktureller Weltwirtschaftskrise und geopolitischer Neuordnungspolitik, der die schlummernde Barbarei auf beiden Seiten weckt. Auf der einen Seite der menschenverachtende und unpolitische Terror der "Heiligen Krieger", der mit unversöhnlichem Hass den Welthegemon und seine lokalen Statthalter angreift.
Auf der anderen Seite jener Hegemon und seine Verbündeten, die die ungleiche, asymetrische Dominanz ihrer Weltherrschaft mittels "Krieg gegen den Terror" zementieren und noch weiter ausbauen wollen. Auf der einen Seite der vermeintlich "Heilige Krieg" und auf der anderen Seite jene, die den "gerechten Präventivkrieg" — den Bruch mit dem bestehenden Völkerrecht — propagieren und ihr außenpolitisches Faustrecht nach innen mit Entdemokratisierung und Militarisierung fortsetzen. "Die Bewunderer der Kamikaze vom 11.September haben beim Anblick der zusammenbrechenden Zwillingstürme gejubelt und forderten eine Zugabe. Die Bewunderer der amerikanischen Streitkräfte haben sich am Schauspiel der Zerstörung Afghanistans ergötzt und fordern ebenfalls eine Zugabe."
Achcar konstatiert "eine unruhige Zukunft", ein "anomisches Abgleiten" in die Barbarei und plädiert für "eine fortschrittliche und glaubwürdige Alternative zum neoliberalen Kapitalismus, die in der Lage ist, den reaktionären Rückzügen den Boden zu entziehen und die gesellschaftliche Unzufriedenheit in die Richtung des Kampfes um Demokratie und Gerechtigkeit zu lenken". Damit wären wir dann wieder bei Boris Kagarlitzki und enden mit einem genossenschaftlichen Gruß nach Moskau.

Christoph Jünke


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