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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Oktober 2002, Seite 12

Hüte dich

vor dem Biss der blauen Fliege

Wenn es jemanden gibt, der das globale Kapital herausfordern kann, dann sind es Lula und die Partei, die er führt, die brasilianische Arbeiterpartei (PT — Partido dos Trabalhadores). Lula hat ein Mandat der Bevölkerung für eine radikale Umverteilungspolitik, für Landreform, aktive und umfassendere Formen der Demokratie sowie die Ausweitung öffentlicher Investitionen. Und dies ist nicht nur ein formelles Wahlmandat: Hinter jeder dieser Forderungen stehen starke Massenbewegungen, die in der Lage sind, ihrem Parteiführer mittels direkter Aktion den Rücken am Verhandlungstisch zu stärken — die Landlosenbewegung; die Bürger der mittels Beteiligungshaushalten von der PT regierten Städte; die linke und strategisch orientierte Gewerkschaftsunion CUT. Mehr noch, die PT pflegt keinerlei Illusionen in Alleinmärsche: sie hegt und pflegt linke Bündnisse innerhalb Lateinamerikas und indem sie als Gastgeberin das Weltsozialforums eine Vision der auf sozialer Gerechtigkeit basierenden Globalisierung vorwärts gebracht hat.
Und nun? Die Zeichen stehen nicht gut, selbst angenommen, dass Lula gewinnt, was noch nicht ausgemacht ist. Die brasilianischen Eliten sind notorisch fähig, etwas zusammen zu schustern, um ihren Erzfeind zu stoppen. Lula hat bereits zugestimmt, die internationalen Schulden zu bezahlen, trotz Parteiprogrammatik und trotz jener postdiktatorischen Verfassung, die keine Rückzahlung ohne Schuldenstreichung vorsieht. (Ein großer Teil hatte sich unter der Diktatur angehäuft und unter der gegenwärtigen Regierung verdoppelt.) Ebenso schickt er versöhnliche Zeichen an den IWF.
Das Problem besteht jedoch weniger in dem, was Lulas will. Es ist vielmehr eines der Strategie in einem ökonomischen und politischen Krieg. Die Banken und die Finanzpresse versuchen bereits, ihn des finanziellen Chaos zu beschuldigen, obwohl Brasilien, unabhängig von der Frage, wer gewinnen wird, faktisch gezwungen sein wird, seinen Zahlungsverpflichtungen entweder nicht nachzukommen oder sie neu zu verhandeln. Lulas Berater scheinen eine Besänftigungsstrategie gegenüber dem internationalen Business zu fahren (ein Fass ohne Boden), die seine eigenen Wähler abschreckt. Die Aktivisten der PT versuchen, Lula zu drängen, die Opposition zu spalten, indem sie breite Unterstützung für eine ökonomische, soziale und moralisch unangreifbare Verhandlungsposition gegenüber dem IWF organisieren, die es einer neuen, von der Arbeiterpartei gestellten Regierung ermöglichen würde, das Land aus der abgefeimten Spirale der Schuldenrückzahlung zu befreien — die Rückzahlung bedarf zusätzlicher Kredite, die wiederum zu mehr Schuldenrückzahlung führen. Die Zahlungen zur Schuldentilgung verzehren bereits 90% der Exporteinkünfte des Landes.
Die gegenwärtige Richtung von Lulas Strategie wirft eine allgemeinere Frage auf, die auch andere vergleichbare Fälle (bspw. Ken Livingstone in London) betrifft. Auch Lula weiß, dass Parlamentssitze und Regierungsverantwortung keine ausreichende Macht sind, um Ziele sozialer Gerechtigkeit durchzusetzen. Deswegen ist das Problem, mit dem jene konfrontiert sind, die solche Posten erobern oder erobern wollen, wie sie die von ihnen kontrollierten Staatsapparate in einer prinzipienfesten und innovativen Art benutzen können, und ihren Wählerinnen und Wählern gleichzeitig die Wahrheit zu sagen über die Schranken, die ihnen gesetzt sind. Auf diesem Wege vermeiden sie die Falle, "ihren Leuten" vorzugaukeln, dass sie die Dinge stellvertretend für sie regeln könnten. Auf diesem Wege sind sie in der Lage, eine Koalition verschiedener Mächte — wahlpolitisch, moralisch und sozialökonomisch — zu bilden, um globale Konzerne, nationale Regierungen und — im Falle Brasiliens — internationale Organisationen wie den IWF herauszufordern.
Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass die Multis in den letzten zwanzig Jahren nicht alle Deregulierungskarten auszuspielen imstande waren. Sie brauchen noch immer Zugang zu nationalen Märkten und müssen noch immer die Menschen überzeugen, von ihnen zu kaufen. Sie sind auf öffentliche Infrastruktur angewiesen oder müssen öffentliches Land kaufen. Sie brauchen Arbeiter, umfassende Verträge öffentlicher Stellen und vieles mehr. Warum sonst benutzen Unternehmen in solchem Ausmaße Korruption, Lobbyarbeit und die Anbiederung an nationale und lokale Politiker sowie Verwaltungsträger, wenn sie sie nicht auf ihrer Seite benötigen würden?
Sobald Politiker ihre Hände an die Schalthebel bekommen, verlieren sie allzu oft ihren strategischen Blick.
In Brasilien gibt es eine blaue Fliege, deren Stich den Realitätssinn ihrer Opfer verändert. Es scheint so, als ob die Linke, sobald sie in die Nähe solcher Machtposten kommt, von dieser Fliege gestochen und entsprechend hypnotisiert wird, auf dass sie ihre Posten nur verwalten, anstatt sie als Teil einer breiteren Veränderungsstrategie zu begreifen. Man kann sich gegen solche Bisse impfen. Eine starke unabhängige und in Massenbewegungen verankerte Partei hat dem südbrasilianischen Gouverneur Olivio Dutra als Gegenmittel gedient, um Fords Investitionsbedingungen zu modifizieren. Weiterreichende Bedürfnisse zu ermutigen und Kampagnen- und Solidaritätsgruppen zu unterstützen sind andere Mittel. Hoffentlich vermögen es die Aktivisten der Arbeiterpartei und die Landlosenbewegung, Lula gegen die lautstark um seine Ohren surrenden blauen Fliegen zu impfen.

Hilary Wainwright

Hilary Wainwright ist Chefredakteurin des Londoner Monatsmagazins Red Pepper.




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