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"Du wirst eine neue Akte anlegen", erklärte Tan. "Berichte über den Klassenkampf und darüber, wie die 404. diesen
Tod herbeigeführt hat, um eine Ausrede für die Arbeitsverweigerung zu schaffen."
Diese Aufgabe wird Shan gestellt, einem ehemaligen Ermittler aus dem Pekinger
Wirtschaftsministerium, der nach Tibet zur Zwangsarbeit verbannt wurde. Die Baukolonne, in der er zusammen mit tibetanischen Mönchen Straßen
und Brücken bauen muss, hat eine enthauptete Leiche gefunden, ausgestattet mit westlicher Kleidung und reichlich Geld. Herauszubekommen, wer diese
tote Person ist und wer sie getötet hat, ist schon ein großes Problem.
Verschärfend aber wirkt die Weigerung der 404.Baukolonne, mit den
Straßenarbeiten fortzufahren, bevor nicht eine Zeremonie durchgeführt wird, mit der der "hungrige Geist" des Toten besänftigt
wird. Für Tan, einen alten Militärkader, der selbst in einem gewissen Verbannungszustand für die Ordnung im Distrikt zuständig ist, ist
es undenkbar, dem Wunsch der Mönche, den Ort zu reinigen, nachzugeben.
Der Fall soll schnell aufgeklärt und Ruhe und Ordnung wieder hergestellt werden, denn
die erste US-amerikanische Reisegruppe wird in wenigen Tagen im Distrikt Lhadrung erwartet. Und es muss eine plausible Erklärung gefunden werden,
mit der sich Peking zufrieden gibt.
Shan, der für einige Figuren der Nomenklatura zu erfolgreich in Korruptionsfällen
ermittelt hat, nimmt den Auftrag widerwillig an, in der Hoffnung, ein vorbereitetes Bauernopfer abwenden zu können und den sich steigernden Druck von
den Mitgliedern der 404. zu nehmen.
Begleitet von einem einheimischen Computerspezialisten und einem Aufpasser gerät er
an eine neue Generation von Partei- und Verwaltungskadern, an tibetanische Widerstandszirkel, an Klösterrivalitäten und US-amerikanische
Geologen.
Die Geschichte, Der fremde Tibeter, wird von Eliot Pattison spannend erzählt, erzeugt
allerdings beim Lesen ein frostiges Gefühl. Das liegt weniger an der geschilderten Landschaft und den eisigen Temperaturen. Die menschliche Kälte
erschüttert: die immer zu geringe Nahrung für die Zwangsarbeiter, der Nahrungsentzug und die Kältefolter als Strafe, die Durchsetzung des
"Fortschritts" durch Auslöschung oder Disneyisierung der Kultur. Und die ständige Angst: vor den Vorgesetzten, den Gefangenen, den
Aufstandsbekämpfungseinheiten, Peking, den Geistern.
Ein Funken Hoffnung bleibt dann doch, wenn unter starren Masken menschliche
Anständigkeit hervorschimmert und Solidarität Leben rettet. Die Lösung des "Falles" ist da eher Nebensache.
Udo Bonn