SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 3

Rot-Grün — zweite Spielzeit

Welchen Kurs steuert die neue Bundesregierung?

Rot-Grün hat bei der Bundestagswahl 900000 Stimmen verloren, Schwarz-Gelb hat 1,6 Millionen dazu gewonnen. Knapp 1,4 Millionen Wahlberechtigte mehr als 1998 sind zu Hause geblieben, im Osten deutlich mehr als im Westen.
Die PDS, bisher im Bundestag eine kritische Stimme gegenüber Neoliberalismus und Neuer Mitte, hat vor allem in Ostdeutschland 600000 Stimmen verloren — überwiegend an die SPD — und ist damit parlamentarisch praktisch verstummt. Auch von der früheren "parlamentarischen Linken" in den Regierungsfraktionen dürfte nach den personellen "Bereinigungen" und weiter fortgeschrittenen Anpassungsprozessen an die Realitäten der Neuen Mitte nur wenig übriggeblieben sein. Der wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse gewachsene Disziplinierungsdruck trägt ein Übriges dazu bei, dass die parlamentarische Ebene des Bundestags für die Artikulation alternativer Politikansätze ausfällt. Das geht auf absehbare Zeit nur noch außerparlamentarisch.
Die SPD hat 1,7 Millionen Zweitstimmen verloren. Ein erheblicher Teil davon hat als "Leihstimmen" für den Zugewinn der Grünen von 800000 Stimmen gesorgt.
Einer der Punkte, an denen die Grünen versuchten, in den Koalitionsverhandlungen das verbesserte Kräfteverhältnis zu nutzen, war die Forderung nach einer Radikalisierung des Hartz-Konzepts durch Ausweitung der Billigjobs auf die Gesamtwirtschaft, wie das auch die Gelb-Schwarzen verlangen. Dass die SPD da dicht gemacht hat, hat weniger inhaltliche als machtstrategische Gründe. Denn sie weiß: Wer bei der Umsetzung von Hartz erfolgreich sein will, muss die Gewerkschaftsspitzen im Boot halten.
Vielleicht ist es auch strategischen Erwägungen zur Umsetzung von Hartz geschuldet, dass in der Gesundheitspolitik jetzt kein Großprojekt wettbewerbsstaatlicher Systemveränderung vorgesehen ist, wie wir das zuvor befürchtet haben. Vielleicht hat man dabei auch aus den präventiven Aktivitäten zur Gesundheitsreform 2003 aus einigen Gewerkschaften und von Attac, an denen wir uns beteiligten, den Schluss gezogen, dass da mehr Krach droht, als man gebrauchen kann, um die geplante Arbeitsmarktderegulierung nicht zu gefährden. Ich weiß das nicht, halte es aber für möglich.
Die "Punkt für Punkt"-Umsetzung von Hartz erscheint im Koalitionsvertrag als das zentrale Projekt für die neue Legislatur. Das geht so weit, dass die Finanzierung der versprochenen Verbesserung der Betreuung für Kinder unter drei Jahren aus den Einsparungen kommen soll, die den Kommunen durch die Umsetzung von Hartz entstehen.

Nicht demokratieverträglich

Aber erst einmal einige Erläuterungen zu den Hartz-Vorschlägen: Das Konzept bedeutet einen qualitativen Fortschritt im neoliberalen Umbau von Arbeitslosenversicherung, staatlicher Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung, im Systemwechsel vom welfare state zum workfare state, vom Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat. In der Tragweite steht das dem, was in der Rentenversicherung passiert ist, nicht nach.
Dabei geht es nicht allein um die unmittelbar betroffenen Erwerbslosen. Denn zu berücksichtigen ist, dass der Abbau der sozialen Sicherung bei Erwerbslosigkeit Wesentliches zur Disziplinierung der Beschäftigten beiträgt.
Je tiefer sich der Abgrund vor den Beschäftigten auftut, je größer der Schrecken wird vor dem, was einem passieren kann in der Belegschaft macht sich um so mehr ein Untertanengeist breit. Kaum ein Recht, zu dessen Verteidigung man sich noch aufbäumen mag, wenn die Alternative dazu, sich den Wünschen des Arbeitgebers zu beugen, nicht nur im Verlust des Arbeitsplatzes zu bestehen scheint, sondern auch mit wachsenden Risiken behaftet ist, in die Mühle der "aktivierenden" Politik des "Förderns und Forderns" zu geraten. Der Abbau der sozialen Sicherung bei Erwerbslosigkeit ist nicht demokratieverträglich.
Zu den Funktionen einer sozialstaatlichen Arbeitslosenversicherung zählt auch, Beschäftigte und Erwerbslose davor zu schützen, dass Arbeitgeber die Notlage der Erwerbslosigkeit zur Verschlechterung von Arbeits- und Entgeltbedingungen ausnutzen. Deshalb haben Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderungsrecht früher zur Sicherung sozialer Regulierungen in der Erwerbsgesellschaft beigetragen.
Mit Hartz wird auf diesem Feld ein Paradigmenwechsel vollzogen. Staatliche Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung erhalten die Funktion, eine Ausweitung von unterwertiger Substandardbeschäftigung zu organisieren. Den Frauen ist dabei — durchaus "traditionalistisch" vor allem prekäre Dienstbotenbeschäftigung in gut betuchten Privathaushalten zugedacht.
Dazu werden gegenüber den Erwerbslosen, und ganz besonders gegenüber den Langzeiterwerbslosen, die Schrauben weiter angezogen. Als erster Schritt zur Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe soll die Anrechnung von Partnereinkommen und -vermögen an die Sozialhilfe angeglichen werden. Dem Vernehmen nach sollen die Einsparungen zur Finanzierung anderer Hartz-Module dienen. Der Koalitionsvertrag sieht grundsätzlich vor, Einsparungen bei der Bundesanstalt für Arbeit zur Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu verwenden.
Die Angliederung der Arbeitsmarktpolitik an das Bundeswirtschaftsministerium unter dem neoliberalen Technokraten Wolfgang Clement bringt auf der Ebene der Administration zum Ausdruck, was Hartz konzeptionell vorweg genommen hat: den Wandel von Arbeitsmarktpolitik und Arbeitslosenversicherung von Instrumenten der Hilfe für Erwerbslose zu Instrumenten der Wirtschaftsförderung, für die Arbeitgeberkundschaft.
Mit den absehbaren Substitutionseffekten regulärer durch prekäre Arbeit werden der Sozialversicherung um so größere Einnahmeverluste beschert, je "erfolgreicher" die Umsetzung wird. Und mit dem "Bonussystem" bei den Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung droht auch ein neuer Angriff auf das Prinzip der paritätischen Finanzierung.

Widerspruch kaum wahrnehmbar

Angesichts der systemverändernden Qualität der Hartz-Vorschläge ist es ein enormes Problem für die außerparlamentarische Opposition, dass die Gewerkschaftsspitzen sie — wenn auch nicht im Detail, so aber doch in der grundsätzlichen Richtung — praktisch schon abgenickt haben. Dadurch ist Widerspruch in der veröffentlichkeiten Meinung kaum wahrnehmbar.
Die veröffentlichte Hartz-Debatte ist einseitig bestimmt von denen, die Hartz neoliberal radikalisieren wollen, die weitergehende Deregulierungen des Arbeitsmarkts und weitergehende Steuer- und Abgabensenkungen für die Wirtschaft einfordern.
Damit zeichnet sich sowohl ein neokorporatistischer als auch ein parteienübergreifender Konsens darüber ab, dass Hartz umgesetzt werden soll. Nicht unbedeutend in diesem Zusammenhang sind auch die Ankündigungen einer Neuauflage des "Bündnisses für Arbeit" als Konsensrunde der Spitzenpersonen, gleichsam nach dem Modell der Hartz-Kommission. Damit würde der Gewerkschaftspolitik eine noch stärkere Entdemokratisierung und Entöffentlichung drohen, als dies im Bündnis bisher schon der Fall war.
Andererseits hat Hartz eine wichtige Achillesferse in der öffentlichen Glaubwürdigkeit: Schon jetzt traut kaum jemand dem Versprechen, die Erwerbslosigkeit bis 2005 zu halbieren.
Ich sehe da die außerparlamentarische Opposition insgesamt in der Verpflichtung, zu grundsätzlichem Widerspruch und Gegenwehr beizutragen. Der Prozess der Umsetzung von Hartz dürfte vor allem in Zusammenhang mit den erforderlichen Gesetzgebungsverfahren auch weiterhin die öffentliche Debatte prägen. Meines Erachtens wäre zu überlegen, wie wir da vielleicht mit einer neuen Version unseres Arbeitsplätzeaufrufs, die unsere Alternativen deutlich gegen Hartz konturiert intervenieren. Allerdings werden die Chancen, etwas zu bewegen, in hohem Maße davon abhängen, ob das Thema auch in den Gewerkschaften erkennbar streitig gestellt werden kann.
In der Gesundheitspolitik lehnt der Koalitionsvertrag die offene Risikoprivatisierung durch Grund- und Wahlleistungen ab. Hier dürfte sich der neoliberale Umbau eher graduell fortsetzen, insbesondere mit weiteren Schritten zur Vermarktlichung der ambulanten Versorgung, verbunden mit Akzeptanz fördernden Versprechungen von Qualitätsverbesserungen.
Im Unterschied zur offenen Risikoprivatisierung nach dem Beispiel Rente sind Bedeutung und Tragweite des Umbaus sozialer Infrastrukturen nach dem Vorbild ökonomischer Wettbewerbsmärkte auch in der außerparlamentarischen Opposition nach meinem Dafürhalten noch nicht hinreichend verstanden. Ich fände es deshalb gut, wenn wir uns damit noch näher befassen könnten, vielleicht auch im Rahmen gemeinsamer Veranstaltungen mit Attac.
Im Bereich Pflege bahnt sich in Folge der postsozialstaatlichen Konstruktion der Pflegeversicherung seit längerem eine soziale Katastrophe an. Nachdem die Regierung in der letzten Wahlperiode vor dem verteilungspolitischen Kern des Problems in Symbolhandlungen ausgewichen ist, hat der neue Koalitionsvertrag dazu nichts zu sagen — außer den Billigjobs von Hartz zur Altenhilfe in gut situierten Privathaushalten. Auch dies könnte in den kommenden Jahren zu einem öffentlich virulenten Problem werden.
In der Finanz- und Steuerpolitik zeichnen sich gewisse begrenzte Lockerungen und Korrekturen ab. Da ist nicht nur die Debatte über die Stabilitätskriterien von Maastricht, sondern auch die Ankündigung einer "faktischen Mindestbesteuerung" von Großkonzernen und einer besseren Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht.
Dies hat allerdings nichts mit einer politischen Kurskorrektur zu tun, sondern ist eine Frage dringlicher Gefahrenabwehr für die öffentlichen Haushalte und liegt sozusagen auf der Linie von Stoibers Kritik an der bisherigen rot-grünen Steuerpolitik. Das so weiter laufen zu lassen, könnte die Akzeptanz der Regierungspolitik insgesamt gefährden.
Die von einigen SPD-Ministerpräsidenten nach der Wahl inszenierte Debatte über die Vermögen- und Erbschaftsteuer findet im Koalitionsvertrag keinerlei Niederschlag. Dafür wird ein weiteres Sparpaket angekündigt.
Die Richtung der Regierungspolitik in der zweiten Spielzeit wird insgesamt die gleiche bleiben wie bisher. Allerdings wird die schwarz-gelbe Opposition, wenn sie sich neu aufgestellt hat, ihren Druck auf die Regierungspolitik entsprechend der veränderten parlamentarischen Kräfteverhältnisse verstärken können. Und einzelne Maßnahmen, die dem Kapital unangenehm sind — etwa Korrekturen in der Steuerpolitik oder die angekündigte Anhebung der Versicherungsfluchtgrenze in der GKV — werden dort Gegenwehr auslösen.

Verteilungsfrage

Die Risiken, dass der Druck der Gegenseite zu weiteren Beschleunigungen des wettbewerbsstaatlichen Umbaus führt, scheinen daher eher gewachsen zu sein. Das könnte durchaus auch die Gesundheitspolitik erfassen, wenn sich dort neue Szenarien der Finanzierungskrise auftun.
Nach meinem Verständnis sollte unser Bestreben vorrangig auf politische Initiativen gerichtet bleiben, die eine Zusammenführung gesellschaftlicher Oppositionspotenziale über einzelne Politikbereiche hinweg ermöglichen.
Hier wäre meines Erachtens auch zu prüfen, ob und inwieweit die Verteilungsfrage als übergreifendes Schlüsselproblem für soziale, ökologische, friedenspolitische und emanzipatorische Alternativen politisiert werden könnte.

Daniel Kreutz

Rede auf der Veranstaltung der Initiative für einen Politikwechsel am 19.10.2002 in Frankfurt.




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