SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 6

Die Union nach der Niederlage

Programmatische Krise

Wir haben die Wahl gewonnen", tönte Edmund Stoiber bei seinem Auftritt im Konrad-Adenauer-Haus nach Bekanntgabe der Hochrechnungen, wobei er sich wohl auf die Angaben der ARD verließ, die im Gegensatz zu den anderen Fernsehanstalten den ganzen Wahlabend lang die Union in der Poleposition sah. Ein gutes halbes Jahr lang war die Union in den Meinungsumfragen mit teilweise deutlichem Abstand vor den SPD gelegen, so dass sich der Kandidat wohl nicht vorstellen konnte, so kurz vor der Ziellinie noch abgefangen worden zu sein.
Die (wenn auch knappe) Wahlniederlage der Opposition mitten in einer Rezession, in der viele Beobachter zeitweise keinen Pfifferling mehr auf Schröder und Fischer wetten wollten, verlangt nach einer Erklärung, die über das Handeln des "Deichgrafen" Schröder während der Flutkatastrophe und seine Ablehnung eines militärischen Beitrags der Bundesrepublik bei einem möglichen Krieg gegen den Irak hinausgeht.

Bastion Bayern

Zunächst fällt auf, dass die Kandidatur von Stoiber der CSU in Bayern einen Zuwachs von fast 10% gebracht hat, was den Löwenanteil der Stimmengewinne der Union ausmacht. Die SPD verlor ihre traditionellen Wahlkreise im protestantischen Nordosten des Bayernlandes (Hof) und konnte nur ein einziges Direktmandat behalten — München-Nord.
Die CSU hat in den letzten Jahren — im Unterschied zu den andern Parteien, besonders der CDU und der SPD — keine Mitgliederverluste erlebt, sondern sogar noch leicht auf über 180000 Mitglieder zulegen können. Ihre starke Stellung ergibt sich aus der Tatsache, dass es keine Kommune in Bayern gibt, in der nicht ein Ortsverein der CSU bestünde, und dass die gut ausgebaute Zentrale in der Nymphenburger Straße in München engen Kontakt zu den Orts- und Kreisverbänden hält, um die Probleme vor Ort zu erfahren und politische Direktiven auszugeben, wohingegen die SPD auf dem Land häufig gar nicht organisiert vorhanden ist.
In Bayern konnte und kann sich Stoiber auf einen politischen Apparat und auf ein Beziehungsgeflecht stützen, das in dieser Dichte sonst nirgendwo in Deutschland besteht. Da die CSU aufs Engste mit dem bayrischen Regionalismus verbunden ist, vermag sie die Karte einer Oppositionsrolle ganz besonderer Art auszuspielen: Sogar zu Zeiten einer von der Union geführten Bundesregierung, in der sie selbst Minister stellte, tat sie häufig so, als sei sie eigentlich Opposition.
Dieser Spagat drückte sich nicht nur in den Auseinandersetzungen zwischen den "Männerfreunden" Kohl und Strauß aus, sondern auch in den Rempeleien zwischen Waigel und Stoiber. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten und der Umzug der Bundesregierung nach Berlin haben einerseits das Gewicht Bayerns im Bund reduziert, andererseits aber die alten Ressentiments gegen die "Preußen" wieder verstärkt, da sie nun populistisch unterfüttert werden können: "Jetzt müssen wir die armen Vettern im Osten auch noch durchfüttern — und in ihrer Undankbarkeit wählen sie mehrheitlich auch noch die falschen Parteien!"
Als sich die Union im Februar für den Kanzlerkandidaten Stoiber entschied, stand damals bei vielen CDU-Mitgliedern noch die Überzeugung im Hintergrund, dass die Union sowieso keine realistische Chance gegen Rot-Grün habe und Stoiber immerhin garantieren könne, dass die Union nicht in nennenswertem Umfang Stimmen an die Rechtsextremen verlieren würde. Denn damals drohte nach dem Hamburger Wahlerfolg von Schill die bundesweite Ausdehnung der Schill-Partei, die bei einer Kandidatur von Merkel wahrscheinlich einen gewissen Einbruch am schwarz-braunen Rand hätte erzielen können.
Nach dem Ende der Ära Kohl stellt die CDU weniger eine geschlossene Bundespartei als vielmehr eine Konföderation von Landesparteien dar, in denen die jeweiligen "Landesfürsten" eine erhebliche "Richtlinienkompetenz" beanspruchen. Im Frühjahr dieses Jahres hat diese Situation bewirkt, dass alle wichtigen Landesfürsten, von Teufel und Koch bis Vogel und Biedenkopf Angela Merkel harsch bedeutet haben, sie sei als Bundesvorsitzende augenblicklich ohne Konkurrenz — sollte sie jedoch ihren Hut als Kanzlerkandidatin in den Ring werfen, würde sie eine Niederlage kassieren.
Einzig Rüttgers aus Nordrhein-Westfalen unterstützte die Parteivorsitzende in ihrem Bemühen um die Kandidatur. Insofern fiel die Kanzlerkandidatur fast automatisch an den stärksten der Patriarchen in der Union. Das berühmte "Frühstück zu Wolfratshausen" hatte nur die Funktion, Merkels Niederlage nicht zu deutlich werden zu lassen.
Nach der Kür bestand für Stoiber die Schwierigkeit darin, dass ihm alle Berater von einer Strategie abrieten, den Wahlkampf in der Art eines Strauß von 1980 zu polarisieren, so wie dies von der SPD zunächst erwartet wurde. Denn eine solche Strategie hätte nicht nur Stimmen in der Mitte gekostet, sondern auch eine Koalition mit der FDP, die sich ja alle Optionen offen hielt, gefährdet.
Daraus wiederum ergab sich das Problem, dass der "Kreide fressende Stoiber" von der Beratungsmannschaft um den ehemaligen Springer-Journalisten Spreng fortwährend (und nicht nur rhetorisch) umgeschminkt werden musste. So berief er die 28- jährige Ostdeutsche und ledige Mutter Katharina Reiche als mögliche Familienministerin in sein hauptsächlich aus alten Herren bestehendes "Kompetenzteam" — was prompt zu einem Konflikt mit Teilen der katholischen Kirchenhierarchie führte.
Die angekündigte Auseinandersetzung um die "Zuwanderung" wurde (gegen die Ankündigung von Merkel und Mayer) nicht zu einem "zentralen Wahlkampfthema" gemacht, denn die in diesen Fragen stark zerstrittene Union (zwischen Beckstein oder Koch und Süßmuth oder Geißler gibt es hier kaum Gemeinsamkeiten) hätte nicht nur erhebliche interne Probleme bekommen, sondern sich auch noch mit den Kirchen angelegt.
Schließlich sollte einer der bundesdeutschen Vordenker der neoliberalen "Modernisierung", Lothar Späth, "Superminister" werden, dessen "Verdienst" darin bestand, mit Hilfe von 3—4 Milliarden Mark staatlicher Subvention 29000 der 30000 Arbeitsplätze von Zeiss Jena vernichtet zu haben, und der permanent (in Talkshows) für einen Rückzug des Staates aus wirtschaftlichen Tätigkeiten eintritt, wohingegen Stoibers Rezepte in Bayern — hier der Politik eines Clement in Nordrhein-Westfalen sehr verwandt — ja gerade in einer massiven Unterstützung von Gewerbeansiedlungen und Firmengründungen aus Mitteln der verscherbelten Staatsbetriebe bestand.
Weil schon unter der Regierung Kohl die meisten Staatsbetriebe verkauft worden waren und angesichts des Kursverfalls der T-Aktie wäre eine Regierung Stoiber, die die Telekom vollständig hätte privatisieren wollen, wohl auf ihrem Aktienpaket sitzen geblieben. Somit war für jeden kritischen Betrachter offensichtlich, dass ein "bayrischer Weg" in Berlin nicht gangbar gewesen wäre.
In der Steuerpolitik versprach Stoiber, von der naiven Vorstellung besessen, niedere Steuersätze würden quasi automatisch zu höherem Wirtschaftswachstum führen, gleichzeitig einen Abbau der Steuerbelastung und eine Reduzierung der Staatsverschuldung — also die Quadratur des Kreises.

Orientierungslos

Die Union verlor die Bundestagswahl im Norden und Osten, in den protestantischen Gebieten, in den meisten Großstädten und bei den Frauen. Eine strukturelle Mehrheit hat sie nur noch in den ländlichen katholischen Gebieten und bei den alten Menschen.
Dass es ihr sogar in Zeiten einer tiefen Rezession nicht gelang, die amtierende Bundesregierung abzulösen, ist auf die tiefe programmatische Krise zurückzuführen, die nach dem Abtritt der Mannschaft um Kohl endgültig offenkundig geworden ist. Die programmatischen Pfeiler der Union lagen von Adenauer bis Kohl in der Westbindung, im Antikommunismus und im Ausbau des Sozialstaats auf der Grundlage der Soziallehren der beiden Kirchen.
Gerade der im Gefolge des "Wirtschaftswunders" vergleichsweise gut ausgebaute Sozialstaat hatte nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, aber auch in der Systemkonkurrenz mit dem Ostblock entscheidende Bedeutung für die Integration der Gesellschaft, vor allem aber der Arbeiterbewegung. Der Übergang zu harten und brutalen neoliberalen Positionen, wie sie (nicht nur) von der Konservativen der angelsächsischen Welt vertreten und umgesetzt werden, würde hierzulande zu heftigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen führen, die den inneren Zusammenhalt der verschiedenen Strömungen in der Union gefährden und zentrifugale Wirkungen entfalten dürften.
Deswegen sprach Stoiber die Folgen der Krise, die Massenarbeitslosigkeit und die Firmenpleiten, überall in beschwörenden Worten an, hütete sich jedoch wohlweislich, außer den Erleichterungen für den "Arbeitsplätze schaffenden Mittelstand" konkretere Punkte der geplanten Schleifung des Sozialstaats auszuführen. Die Angst beider Lager, die von ihnen geplanten "sozialen Grausamkeiten" dem Wähler und der Wählerin zu unterbreiten, brachte eine starke Konzentration der (medialen) Aufmerksamkeit auf die Spitzenkandidaten mit sich, die der "Medienkanzler" Schröder schließlich für sich entschied.

Paul Kleiser


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