SoZ Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 15

Frieden in Bethlehem

Ein Reisebericht aus Palästina

Der früher belebte Checkpoint zwischen Bethlehem und Jerusalem, der vor der Abriegelung durch Tausende von Palästinensern bevölkert war, die nach Jerusalem zur Arbeit oder zum Einkaufen fuhren, ist bei unserer Ankunft wie ausgestorben. Zwei Panzer dominieren das Bild. Von den palästinensischen Häusern und Werkstätten auf palästinensischer Seite sind nur noch die Trümmer sichtbar. Die Bulldozer der israelischen Armee haben alles in der Nähe des Checkpoint niedergewalzt. Der palästinensische Taxifahrer, der uns auf der leeren, vierspurigen Straße nach Bethlehem entgegenkommt und unser Gepäck aufladen will, wird gerade von einer militärischen Patrouille gestoppt. Unsere internationalen Pässe ermöglichen ihm nach einem Disput die Abfahrt.
Im Zentrum von Bethlehem und Beit Jalla erinnert kaum mehr etwas an die Besetzungaktionen im Frühling. Nur die von den Panzern niedergefahrenen Straßenschranken und Verkehrsampeln sind Spuren der über einen Monat dauernden Besetzung und Ausgangssperre. Seit August hat sich die israelische Armee aus dem unmittelbaren Stadtgebiet zurückgezogen und konzentriert sich auf die Abriegelung der palästinensischen Wohngebiete an den Grenzen der beiden Städte. Die Menschen haben in Windeseile ihre Häuser repariert. Die Gemeinde hat sogar die umgefahrenen Alleebäume wieder neugepflanzt. Die Geschäfte sind alle geöffnet, das Internetcafe ist von jungen Frauen belebt. Sogar die letzten palästinensischen Polizisten in Uniform regeln den Verkehr.

Situation in Gefängnissen

Am Abend werden wir das erste Mal damit konfrontiert, dass das friedliche Bild trügt. Um die Wohnung surrt es wie bei einem Modellfliegerwettberwerb. Unsere Gastgeberin und ihr Sohn machen Sprüche, ob sie denn noch nicht genügend gute Aufnahmen von ihnen hätten. Wir verstehen die Szene nicht. Sie klären uns auf: das Surren kommt von den unbemannten Überwachungsdronen der israelischen Armee, die über den Dächern die Bewohner der palästinensischen Städte überwachen. Das Surren begleitet uns fast jeden Abend.
Auf unserem Weg zur NGO Badil, einer Organisation für die Rechte der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr, werden wir vom Wächter der palästinensischen Gefangenenorganisation auf einen Kaffee eingeladen. Der hagere Mann kommt aus dem Flüchtlingslager Deheisha in der Nähe von Bethlehem. Seit zwei Jahren kann er nicht mehr nach Israel zur Arbeit. Seit der Initifada macht die israelische Polizei auch verstärkt Jagd nach schwarzarbeitenden Palästinensern in Israel. Über 10000 wurden in den letzten zwei Jahren verhaftet und die Angehörigen müssen für ihre Freilassung bis zu 5000 Shekel bezahlen (gut zwei Monatslöhne). Für die meisten unbezahlbar. Die Mehrheit der Bevölkerung lebt mit 2 Dollar am Tag und ist von den Nahrungsmittelverteilungen der internationalen Hilfswerke abhängig geworden. Der Wächter klagt, dass er das Schulgeld seiner zwei Kinder nicht mehr bezahlen kann.
Wir vereinbaren einen Termin für den nächsten Tag, um mit einem englisch sprechenden Vertreter der Gefangenenorganisation über ihre Arbeit zu sprechen. Basim S. empfängt uns mit einem Tee. Er arbeitet als Fernsehjournalist und hilft als Freiwilliger bei der NGO aus. Die Gefangenenorganisation Palestinian Prisoner Society betreut die 9000 Gefangenen in israelischen Gefängnissen. Die Mehrheit sind Minderjährige.
Nach den ersten Verhören im Internierungslager in der Nähe von Ramallah, werden sie in Gefängnisse und Lager innerhalb der grünen Grenzen eingesperrt. Die Verwandten aus den besetzten Gebieten haben deshalb kaum die Möglichkeit, ihre Angehörigen in den Gefängnissen zu besuchen. Die meisten Gefangenen haben nie einen Haftrichter gesehen und die Gefangenhilfsorganisation ist auf die Unterstützung von Organisationen in Israel angewiesen, die die gesammelte Nahrung, Kleider und Decken in den Gefängnissen und Lagern verteilen.
Die israelische Armee hat die "Administrativhaft" wieder eingeführt. Sie erlaubt die Inhaftierung ohne konkreten Verdachtsmomente für sechs Monate. Die Administrativhaft kann ohne Richter und konkrete Verdachtsmomente sechsmal um ein halbes Jahr verlängert werden. Die Gefangenhilfsorganisation schätzt, dass 90% der Gefangenen Folterungen ausgesetzt sind. Basim drückt uns ihre englische Dokumentation in die Hand, in denen 40 namentliche Fälle von Ermordungen nach der Verhaftung aufgelistet sind. 35000 Personen wurden in den letzten zwei Jahren verhaftet. In allen Familien gibt es deshalb Angehörige, die kurze oder längere Zeit von den Massenverhaftungen betroffen sind. Die Angst davor ist zur Alltagsrealität geworden.

Kriegsspiele

Die Kinder wollen mit uns immer und immer Krieg spielen. In ihrem Alltag ist er auch in Bethlehem allgegenwärtig. Als die israelischen Kampfflugzeuge diesen Frühling die Kaserne der palästinensischen Polizei zerstörte, lagen die beiden Städte in einer weißen Staubwolke. Wenn die Apachehelikopter und die Kampflugzeuge über der Stadt kreisen und einen Angriff signalisieren, dann öffnen die palästinensischen Bewohner ihre Fenster und Türen, damit nicht die Scheiben in Bruch gehen.
Die Kinder gehen wieder in die Schule, die früher begonnen hat, weil die Lehrer wieder mit Ausgangssperren rechnen. Die Jugendlichen sollen trotzdem ihr Schuljahr ganz abschließen können. Gestern wurde in Beit Jalla wieder ein angeblich Verdächtiger von der israelischen Armee auf offener Straße liquidiert. Die Nachricht machte schnell die Runde. Die Bedrohung ist nicht nur in den Spielen der Kinder allgegenwärtig.
Im israelischen Radio und Fernsehen, das auch in den besetzten Gebieten empfangen werden kann, wird offen und regelmäßig über die Notwendigkeit des "Transfers" der palästinensischen Bevölkerung aus den besetzten Gebieten debattiert. Nicht nur Rechte in der Regierung Peres/Sharon verlangen die Vertreibung der Palästinenser aus den besetzten Gebieten nach Jordanien, auch der neue israelische Generalstabschef hat im September die Vollendung des Unabhängigkeitskriegs von 1948 im Falle eines Irakkriegs angekündigt. Die Gefahr der Vertreibung liegt bei unserem Abschied wie Blei auf dem so friedlich erscheinenden Bethlehem.

Urs Diethelm


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