| SoZ Sozialistische Zeitung |
Leo Trotzki hatte die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Europas durch Nazideutschland im Dezember 1938
vorausgesagt, und die kleine Gruppe der IV.Internationale in Belgien hatte die jüdische Bevölkerung gewarnt, dass die Nazis ihre Drohungen wahr
machen würden woran damals viele nicht glauben wollten.
Doch findet sich zu diesem Thema in den Schriften des Belgiers Ernest Mandels1
jahrzehntelang wenig. Seine erste bekannte Veröffentlichung dazu ist ein Beitrag aus dem Jahr 1946: "Die jüdische Frage unmittelbar nach
dem Zweiten Weltkrieg". Mandel war 22 oder 23 Jahre alt.
Wie bei Isaac Deutscher und und vielen anderen ist sein Ausgangspunkt die Unbegreiflichkeit
des Ausmaßes der Katastrophe, die Überforderung der menschlichen Vorstellungskraft. "Die Vernunft weigert sich zuzugeben, dass mit kalter
Berechnung verfolgte materielle Interessen die Ausrottung dieser unzähligen schutzlosen menschlichen Wesen verursacht haben."
Dennoch stellt Mandel das Schicksal der Juden Europas in den allgemeinen Kontext der Krise
des Kapitalismus und vergleicht es mit anderen Schrecken des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit: Dem Abwurf der US-amerikanischen
Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, der britischen Brutalität gegenüber den Massen in Indien und auch der Vertreibung der deutschen
Bevölkerung aus osteuropäischen Ländern.
Er macht "alle Regierungen der Welt" für den Holocaust mitverantwortlich,
da sie dem jüdischen Volk nicht geholfen haben. Zu den Millionen ermordeten Juden kommen "60 Millionen Opfer des imperialistischen
Krieges". Im höheren Sinne verantwortlich ist der Kapitalismus in der Epoche seines Niedergangs: "Die barbarische Behandlung der Juden
durch den hitlerschen Imperialismus hat nur die üblichen barbarischen Methoden des Imperialismus unserer Epoche auf die Spitze getrieben … Weit
davon entfernt, vom Schicksal der Menschheit isoliert oder ihm entgegengesetzt zu sein, zeigt die Tragödie der Juden den anderen Völkern ihre
künftigen Geschicke für den Fall auf, dass der Kapitalismus seinen Niedergang im gegenwärtigen Rhythmus fortsetzt."
Der junge Mandel war mit Glück, Energie und Überzeugungskraft
(gegenüber seinen Wächtern) mehrmals den Nazischergen entkommen. Die Naziverbrechen einschließlich der Ermordung von Millionen
unschuldiger und wehrloser jüdischer Menschen waren für ihn Teil und Ausdruck der Todeskrise einer verurteilten Gesellschaftsordnung, des
imperialistischen Kapitalismus. Sie waren für ihn vergleichbar mit einer Reihe anderer zeitgenössischer Symptome der Barbarei.
Der junge internationalistische Revolutionär aus jüdischem Elternhaus spitzt seine
Argumentation in einer Weise auf die Verurteilung des kapitalistischen Systems zu, die zur Entlastung des deutschen nationalen Gewissens missbraucht werden
könnte. Eine im Rückblick als völlig verfehlt erscheinende Prognose gegen Ende des genannten Artikels verstärkt diesen Eindruck:
"Es ist nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich, dass eine US-amerikanische faschistische Bewegung in ihrer technischen
‚Perfektion die Brutalität des Antisemitismus der Nazis übertreffen würde. Wenn das nächste Jahrzehnt [!] nicht die
proletarische Revolution in den USA erlebt, hält es dem US-amerikanischen Judentum Hekatomben bereit, die die Schrecken von Auschwitz und
Maidanek in den Schatten stellen werden [!]."
Viele Jahre später, 1969, schrieb Mandel eine Einleitung zu Trotzkis Schriften
über Deutschland, die auch als eigenständige Broschüre im ISP-Verlag erschienen ist. In diesem Aufsatz geht es um die gesellschaftlichen
Ursachen und den Klassencharakter des Faschismus und des Nationalsozialismus und um das Versagen der großen Strömungen der
Arbeiterbewegung (SPD und KPD) im Kampf gegen Aufstieg und Machtergreifung der NSDAP. Die Funktion des Faschismus ist die Zerschlagung der
organisierten Arbeiterbewegung, mit der alle Dämme brechen für einen weiteren mörderischen Weltkrieg und für ungeheure
Verbrechen. Die Ausrottung der europäischen Juden wird in diesem Text an keiner Stelle erwähnt. Zehn Jahre später schrieb Mandel Trotzki.
Eine Einführung in sein Denken (1981 auf deutsch erschienen). Kapitel 8 trägt den Titel "Der Faschismus". Auf den betreffenden 14
Seiten ist wohl von der "Barbarei" die Rede und von der tödlichen Bedrohung großer Menschengruppen und der "menschlichen
Zivilisation" insgesamt. Die "Endlösung der Judenfrage" aber kommt nicht vor.
Mandel erklärt "den Faschismus" als Phänomen, mit dem alle
kapitalistisch-imperialistischen Länder schwanger gehen, und das unter bestimmten gesellschaftspolitischen Bedingungen wieder ausbrechen kann. Eine
Betonung dieser oder jener nationalen Besonderheit in diesem Zusammenhang lehnt er als "unangemessen" ab. Norman Geras2 kommentiert den
irritierenden Eindruck, den diese Haltung gerade auf Menschen macht, die die Ansichten von "Trotzkis Faschismustheorie" weitgehend teilen, wie
folgt: "Ich habe aus einem bestimmten Blickwinkel keine Einwände gegen diese Idee, und dennoch entmutigt diese Sichtweise von vornherein jede
Aufmerksamkeit für eine spezifische Besonderheit des deutschen Nationalsozialismus."
Ohne mir alle Schlussfolgerungen des bemerkenswerten Aufsatzes von Geras zu eigen zu
machen, bin ich doch sicher, dass er einen guten Ausgangspunkt für eine kritische Reflexion des politischen Erbes von Ernest Mandel darstellt, vor allem
in Deutschland. Der Einfluss von Mandel und seinen Schriften auf die politische Erziehung der Mitglieder der IV.Internationale in Deutschland (bis 1986 in der
Gruppe Internationale Marxisten [GIM] organisiert) war bedeutend. Die politische Bildungs- und Schulungsarbeit der GIM zum einschlägigen Thema
konzentrierte sich weitgehend auf das Versagen der traditionellen Massenströmungen und -organisationen der Arbeiterbewegung, von ADGB, SPD und
KPD angesichts des Aufschwungs der Nazibewegung und der Machtergreifung Hitlers sowie auf die Notwendigkeit der Einheitsfront einerseits und der
Verbindung von antifaschistischem Kampf und sozialistischer Perspektive andererseits. Bei der gesellschaftspolitischen Analyse des "Faschismus"
spielten die gravierenden Unterschiede zwischen dem italienischen Original und dem deutschen Nationalsozialismus so gut wie keine Rolle.
Spätere Schriften von Ernest Mandel zeigen ein wachsendes Problembewusstsein in
Bezug auf das Thema der Einzigartigkeit ("Singularität") der Naziverbrechen und ein zunehmendes Bemühen um Differenzierung, ohne
die ursprünglichen Argumentationsmuster außer Kraft zusetzen: Die Anklage konzentriert sich auf das kapitalistische System, die Verteidigung der
Interessen der Arbeiterklasse und der sozialistischen Perspektive. Mandels Buch Der Zweite Weltkrieg , das 1991 (im Original 1986) erschienen ist,
dokumentiert ebenso die Weiterentwicklung wie die Kontinuität seiner Position.
Für Mandels Erklärungsversuch des Zweiten Weltkriegs (der bezeichnender
Weise mit der lapidaren Feststellung beginnt: "Kapitalismus bringt Konkurrenz mit sich"!) ist charakteristisch, dass er in ihm eine Kombination
verschiedener Kriege sieht: einen imperialistischen Weltkrieg um Weltherrschaft und Einflusszonen nach dem Bild des Ersten Weltkriegs, einen gerechten
Verteidigungskrieg der Sowjetunion gegen die Naziaggression, gegen den Versuch, sie in eine Kolonie zu verwandeln und die verbliebenen Errungenschaften
der Oktoberrevolution zu zerstören (Staatseigentum an den Produktionsmitteln, Planwirtschaft und Außenhandelsmonopol), einen gerechten
antiimperialistischen Befreiungskrieg der chinesischen Massen, der auch zum Bruch mit dem Kapitalismus führte, den antikolonialen Befreiungskrieg
verschiedener asiatischer Völker um nationale Selbstbestimmung, die teils auch zum Bruch mit dem kapitalistischen Weltsystem führten (Indochina)
und einen gerechten nationalen Befreiungskrieg in den von Nazideutschland besetzten Ländern, der in den Fällen Jugoslawiens und Albaniens
ebenfalls zum Bruch mit dem Kapitalismus führte, während Bürgerkriege mit ähnlicher Tendenz in Griechenland und Norditalien
ausbrachen.
Diese Sichtweise beinhaltet eine Abgrenzung von jener Art von "Antifaschismus",
hinter dem sich die Klasseninteressen der imperialistischen Bourgeoisie (oder auch reaktionärer Bürokratien) verbergen, der daran gelegen ist, den
Handlungsspielraum und das politische Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse einzuengen und sie für die eigenen Ziele einzuspannen.
Mandel belegt daher mit Zitaten, dass sich etwa führende US-amerikanische Politiker
ihrer imperialistischen Motive im Gegensatz zu den offiziellen antifaschistischen Begründungen bewusst waren. (So Staatssekretär
Cordell Hull im Jahr 1942: "Die Führung eines bevorstehenden neuen Systems internationaler Handelsbeziehungen und anderer ökonomischer
Angelegenheiten wird aufgrund unserer großen ökonomischen Stärke hauptsächlich den USA übertragen werden. Wir sollten
diese Führungsstellung und die damit einhergehende Verantwortung hauptsächlich aus Gründen eines rein nationalen Eigeninteresses
anstreben.")
Die in vielerlei Hinsicht anregende ökonomische, gesellschaftliche, politische und
militärstrategische, auf reichhaltiges Material gestützte Analyse des Zweiten Weltkriegs von Ernest Mandel enthält von 172 Seiten (ohne
Anmerkungen und Nachweise) nur 6 zum Holocaust. Im Vergleich mit den früheren Schriften fällt hier der multidimensionale
Erklärungsansatz auf, der vor dem Hintergrund des Todeskampfs des kapitalistischen Systems verschiedene soziale, ideologische und psychologische
Momente einbezieht.
Der Rassismus, auch der exterminatorische pseudobiologische Rassismus der Nazis, entspringt
letztlich dem schlechten Gewissen und der versuchten Selbstrechtfertigung von Kolonialisten, Ausbeutern und Plünderern. Auch spricht Ernest Mandel
hier von der "Einzigartigkeit" des Massenmords an 6 Millionen europäischen Juden, ohne seine Übernahme dieser Begrifflichkeit
genauer zu begründen. Stattdessen bildet wieder die Einordnung des Holocaust in die Geschichte (und Perspektive) abscheulicher Verbrechen zur
Durchsetzung kapitalistischer und imperialistischer Interessen den Schwerpunkt der ganzen Passage. In der heutigen Debatte würde sich diese
Argumentation dem Vorwurf der "Kontextualisierung" oder gar der "Relativierung" der Naziverbrechen aussetzen.
1990 erschien ein Aufsatz von Ernest Mandel in französischer Sprache:
"Materielle, gesellschaftliche und ideologische Vorbedingungen des Nazivölkermords" (siehe SoZ 18/96). Letzterer ist der "bislang
höchste Ausdruck der der bürgerlichen Gesellschaft innewohnenden destruktiven Tendenzen". Mandel wehrt sich gegen die angebliche
"Unerklärbarkeit" des Holocaust, worin er eine Mystifizierung sieht, die dem antifaschistischen Kampf nur schaden kann. Der biologische
Rassismus der Nazis liegt dem Holocaust zu Grunde, doch dieser Rassismus selbst ist Produkt der für den Imperialismus typischen ideologischen
Entmenschlichung der unterdrückten Völker durch ihre Unterdrücker. Und typisch für den Kapitalismus überhaupt ist die
Kombination äußerster technischer Rationalität und Perfektion im Einzelnen mit völliger Irrationalität im Ganzen.
Im Buch über den Zweiten Weltkrieg findet sich als "Anhang" der Text
"Zum Historikerstreit", in dem sich Ernest Mandel mit dem "Geschichtrevisionismus" von Ernst Nolte und Konsorten auseinandersetzt.
Eine ausführliche kritische Würdigung dieses theoretisch gesprochen "letzten Wortes" von Ernest Mandel zum Thema
steht noch aus. Norman Geras hält die "formelle Ähnlichkeit" der "kontextuellen Relativierung" des Holocaust durch Mandel
mit der apologetischen Relativierung durch die konservativen deutschen Geschichtsrevisionisten fest die besteht, obwohl Mandel hier gegen diese
Apologetiker polemisiert, den Konformismus der Mitwisser und Mittäter anprangert und seine eigene Position zu präzisieren versucht, indem er den
totalen und modern-industriellen Charakter des Massenmords an der europäischen jüdischen Bevölkerung hervorhebt.
Die Motive Noltes und Mandels sind natürlich entgegengesetzt ähnlich
wie Rosa Luxemburg, die sich "überall zu Hause" fühlte, "wo es Wolken, Vögel und Tränen gibt" und die in
ihrem Herzen "keinen besonderen Winkel" für die Leiden des jüdischen Volkes reservieren wollte, ging es Ernest Mandel, dem
belgischen Staatsangehörigen, der sich als "flämischen Internationalisten jüdischer Herkunft" bezeichnete, um Universalität
und allgemeine Emanzipation. Vielleicht auch weil er sich von Haus aus gerade der deutschen Arbeiterbewegung und ihrem äußersten linken
Flügel besonders verbunden fühlte, hinterlässt er uns den Eindruck einer tragischen Unterbelichtung des Holocaust, der spezifischen Ursachen
des Antisemitismus und der Angewiesenheit aller deutschen sozialen Emanzipation auf die schonungslose Abrechnung mit der geschichtlichen Rolle der eigenen
Nation.
Manuel Kellner