SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, November 2002, Seite 20

Pfade nach Utopia

Loccumer Initiative diskutiert schwarze und rote Utopien

Sie hatten sich ins Fuldatal bei Kassel aufgemacht, um Pfade nach Utopia zu suchen und zu diskutieren. Sie, das waren etwa 40 überwiegend ältere Männer und eine Handvoll von Frauen. Gekommen waren sie auf Einladung der Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihre zehnte Arbeitstagung abhielt.
Die Loccumer Initiative ist ein Zusammenschluss linker Intellektueller aus dem Umfeld der linken Sozialdemokratie und der linken Gewerkschaftsszene. Zu ihren Organisatoren gehören u.a. Michael Krätke, Oskar Negt, Peter von Oertzen, Joachim Perels und Jürgen Seifert. Jährlich im Herbst treffen sie sich, um, wie sie schreiben, "den öffentlichen Raum vorzubereiten für alternative wissenschaftlich-politische Diskussionen und Interventionen". Gegründet im Winter 1994 aus Sorge "über die geistig-politische Vorherrschaft konservativer und neoliberaler Ideologien im öffentlichen Leben" verstehen sie sich als explizit linkes Projekt ohne Verpflichtung auf eine bestimmte Tradition oder Programmatik. Was sie bisher erarbeitet haben, lässt sich in mittlerweile sieben Büchern nachlesen, die der Hannoveraner Kleinverlag Offizin (www.offizin-verlag.de) herausgibt.
Diesmal nun hatten sie sich, aufbauend auf der bisherigen Arbeit, das Problem "Von der Utopie zur Wissenschaft, von der Wissenschaft zur Utopie" gewählt. Und kenntnisreich sowie engagiert diskutierten sie ein nicht gerade einfaches linkes Thema.
Urs Müller-Plantenberg erinnerte an das Chile der 70er Jahre, in dem unter der Militärdiktatur Pinochets der erste Großversuch neoliberaler Gesellschaftspolitik umgesetzt wurde. Das von den "Chicago-Boys" durchgesetzte ökonomische Schockprogramm setzte konsequent auf die Liberalisierung der Preise und des Handels, die Öffnung der Märkte für ausländisches Kapital, sowie die Ausdehnung der Marktimperative auf alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse. Dessen "schwarze Utopie" — von Milton Friedman offenherzig als "Konterrevolution" bezeichnet — setzte konsequent und radikal an jenem methodologischen Individualismus an, der seitdem das utopische Versprechen des Neoliberalismus prägt. "Jeder ist seines Glückes Schmied", heißt es, jedes einzelne Individuum sei selbst verantwortlich für sein gesellschaftliches Schicksal, müsse und könne sich entsprechend individuell fit machen für den Kampf aller gegen alle. Dass diesem verkehrten Bewusstsein, dieser Ideologie, eine utopische Kraft inne wohnt, die den Neoliberalismus auch für Progressive attraktiv macht, das wurde in der anschließenden Diskussion sehr deutlich.
Peter von Oertzen erinnerte im Gegensatz dazu an die rote Utopie einer klassen- und herrschaftslosen Gesellschaft. Verweisend auf umfangreiche ethnologische Arbeiten (von Malinowski, Sigrist u.a.) und politische Konzepte von Martin Buber und Rudolf Bahro (Die Alternative) zeigte er auf, dass menschliche Gesellschaften auch ohne Herrschaft denkbar sind. Nicht das Fehlen von Zwang zeichne solche Gesellschaften aus, sondern der egalitäre Charakter dieses Zwangs. Macht sei demokratisierbar, Herrschaft jedoch, die dauerhaft institutionalisierte, auf der ultima ratio der Gewalt beruhende Macht, gehöre grundsätzlich abgeschafft. Nicht die gesellschaftliche Arbeitsteilung gelte es zu überwinden, sondern deren Klassenstrukturierung.
Die Neigung des Menschen zu Konkurrenz und Eigennutz mache den Sozialismus nötig, die Fähigkeit des Menschen zu Solidarität und Gemeinsinn mache den Sozialismus nötig. An dieser Aussage Oertzens entzündete sich dann auch eine umfangreiche Debatte über das, was Eigennutz und was Gemeinsinn ist. Die gleichsam anthropologische Verschränkung der beiden war leider auch in vielen der anwesenden linken Köpfe nicht sehr präsent.
Je mehr die Beiträge in die Arbeit einer konkreten Utopie einstiegen, desto deutlicher wurden die realen Probleme der im allgemeinen doch recht derangierten Linken.
Rolf Schwendter brachte seine Gedanken einer demokratischen Wirtschaft ein und musste gleich zu Beginn einräumen, dass seine Beschäftigung mit diesen Themen seit fast einem Vierteljahrhundert stagniere. Entsprechend nachhaltig wurden seine Thesen vom Publikum mit einem Fragezeichen versehen. Seine Betonung des Widerspruchs von kapitalistischer Zentralisierung und notwendiger Dezentralisierung, so wurde überzeugend argumentiert, wäre in Zeiten der auf einer Dialektik von Zentralismus und Dezentralismus beruhenden Globalisierung nicht mehr ganz so überzeugend. Unklar sei auch, inwieweit die alte Idee der Genossenschaftsbewegung nach den praktischen Erfahrungen mit den grün-alternativen Bewegungen der letzten 30 Jahre noch trägt.
Am Schluss seines Beitrages räumte Schwendter denn auch ein, dass seine Ausführungen zum Thema weniger eine Utopie des Jenseits des Kapitalismus seien, sondern auf die Demokratisierung desselben hinauslaufen.
Auch Joachim Beerhorst hinterließ mehr Fragen als Antworten. Überzeugend stellte er dar, dass die gewerkschaftliche Arbeiterbewegung ihrer historischen und politisch-sozialen Substanz nach eine Sozialbewegung mit explizit das Kapital überschreitenden Möglichkeiten und Zielvorstellungen sei. Arbeitermacht sei per se Kapital begrenzende und Kapital zurückdrängende Macht. Und die Abschaffung der Klassenherrschaft, der "Lohnknechtschaft" durchziehe die exponierten Selbstverständnistexte der Arbeiterbewegung seit Mitte des 19.Jahrhunderts.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich die Idee langsam durchgesetzt — zuerst in der Sozialdemokratie und schließlich, in den 80er und 90er Jahren auch in der Gewerkschaftsbewegung —, dass es weniger um eine Überwindung des Kapitalismus gehe, als vielmehr um dessen Modernisierung.
Der reale Zukunftsdiskurs der Gewerkschaften sei nicht sehr utopisch, Thematisierung und Dethematisierung laufen parallel nebeneinander her, so Beerhorst. "Her mit dem schönen Leben", diese Parole ist auch bei Gewerkschaftern sehr beliebt. Wie sie zu füllen ist, ist dagegen noch reichlich unklar.
Margareta Steinrücke schließlich erinnerte daran, dass es im utopischen Denken vor allem um eine neue Ökonomie der Zeit gehe. Den Utopien in Arbeit und Familie auf der Spur, stellte sie dar, wie auf der einen Seite Deregulierung, Flexibilisierung und Arbeitsverdichtung die "tote und leere Zeit" ausweiten und zu Stress und Krankheit führen. Das Bedürfnis nach Zeitsouveränität und Autonomie wird damit nur scheinbar befriedigt. Und so komme es andererseits darauf an, an diesen Bedürfnissen anzuknüpfen.
Zu kurz kam jedoch auch hier die Frage, wie man auf diesem Wege verhindern kann, von der neoliberalen Ideologie vergleichbar aufgefressen zu werden, wie die Grün-Alternativen der 80er und 90er Jahre.
Insgesamt deutlich wurde am Wochenende vom 18. bis 20.Oktober, wie eng die Frage nach einer emanzipativen "roten" Utopie mit der kritischen Analyse der "schwarzen" neoliberalen Utopie verschränkt ist. Deutlich wurde aber auch, dass der Neoliberalismus gerade in seiner nichtreaktionären, libertären Form noch nicht ausreichend als solcher wahr genommen wird. Trotzdem: Dass und wie die Loccumer diese zentralen Fragen angehen, zeigt, dass sich hier eine neue Generation zorniger alter Männer entwickelt, deren Knowhow und Leidenschaft wir dringend gebrauchen können.

Christoph Jünke

www.gfp.linkloc.de;
E-Mail: loccumer.initiative@gmx.de.


zum Anfang