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Sie hatten sich ins Fuldatal bei Kassel aufgemacht, um Pfade nach Utopia zu suchen und zu diskutieren. Sie, das waren etwa 40
überwiegend ältere Männer und eine Handvoll von Frauen. Gekommen waren sie auf Einladung der Loccumer Initiative kritischer
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihre zehnte Arbeitstagung abhielt.
Die Loccumer Initiative ist ein Zusammenschluss linker Intellektueller aus dem Umfeld der
linken Sozialdemokratie und der linken Gewerkschaftsszene. Zu ihren Organisatoren gehören u.a. Michael Krätke, Oskar Negt, Peter von Oertzen,
Joachim Perels und Jürgen Seifert. Jährlich im Herbst treffen sie sich, um, wie sie schreiben, "den öffentlichen Raum vorzubereiten
für alternative wissenschaftlich-politische Diskussionen und Interventionen". Gegründet im Winter 1994 aus Sorge "über die
geistig-politische Vorherrschaft konservativer und neoliberaler Ideologien im öffentlichen Leben" verstehen sie sich als explizit linkes Projekt ohne
Verpflichtung auf eine bestimmte Tradition oder Programmatik. Was sie bisher erarbeitet haben, lässt sich in mittlerweile sieben Büchern nachlesen,
die der Hannoveraner Kleinverlag Offizin (www.offizin-verlag.de) herausgibt.
Diesmal nun hatten sie sich, aufbauend auf der bisherigen Arbeit, das Problem "Von der
Utopie zur Wissenschaft, von der Wissenschaft zur Utopie" gewählt. Und kenntnisreich sowie engagiert diskutierten sie ein nicht gerade einfaches
linkes Thema.
Urs Müller-Plantenberg erinnerte an das Chile der 70er Jahre, in dem unter der
Militärdiktatur Pinochets der erste Großversuch neoliberaler Gesellschaftspolitik umgesetzt wurde. Das von den "Chicago-Boys"
durchgesetzte ökonomische Schockprogramm setzte konsequent auf die Liberalisierung der Preise und des Handels, die Öffnung der Märkte
für ausländisches Kapital, sowie die Ausdehnung der Marktimperative auf alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse. Dessen
"schwarze Utopie" von Milton Friedman offenherzig als "Konterrevolution" bezeichnet setzte konsequent und radikal an
jenem methodologischen Individualismus an, der seitdem das utopische Versprechen des Neoliberalismus prägt. "Jeder ist seines Glückes
Schmied", heißt es, jedes einzelne Individuum sei selbst verantwortlich für sein gesellschaftliches Schicksal, müsse und könne
sich entsprechend individuell fit machen für den Kampf aller gegen alle. Dass diesem verkehrten Bewusstsein, dieser Ideologie, eine utopische Kraft inne
wohnt, die den Neoliberalismus auch für Progressive attraktiv macht, das wurde in der anschließenden Diskussion sehr deutlich.
Peter von Oertzen erinnerte im Gegensatz dazu an die rote Utopie einer klassen- und
herrschaftslosen Gesellschaft. Verweisend auf umfangreiche ethnologische Arbeiten (von Malinowski, Sigrist u.a.) und politische Konzepte von Martin Buber
und Rudolf Bahro (Die Alternative) zeigte er auf, dass menschliche Gesellschaften auch ohne Herrschaft denkbar sind. Nicht das Fehlen von Zwang zeichne
solche Gesellschaften aus, sondern der egalitäre Charakter dieses Zwangs. Macht sei demokratisierbar, Herrschaft jedoch, die dauerhaft institutionalisierte,
auf der ultima ratio der Gewalt beruhende Macht, gehöre grundsätzlich abgeschafft. Nicht die gesellschaftliche Arbeitsteilung gelte es zu
überwinden, sondern deren Klassenstrukturierung.
Die Neigung des Menschen zu Konkurrenz und Eigennutz mache den Sozialismus nötig,
die Fähigkeit des Menschen zu Solidarität und Gemeinsinn mache den Sozialismus nötig. An dieser Aussage Oertzens entzündete sich
dann auch eine umfangreiche Debatte über das, was Eigennutz und was Gemeinsinn ist. Die gleichsam anthropologische Verschränkung der beiden
war leider auch in vielen der anwesenden linken Köpfe nicht sehr präsent.
Je mehr die Beiträge in die Arbeit einer konkreten Utopie einstiegen, desto deutlicher
wurden die realen Probleme der im allgemeinen doch recht derangierten Linken.
Rolf Schwendter brachte seine Gedanken einer demokratischen Wirtschaft ein und musste
gleich zu Beginn einräumen, dass seine Beschäftigung mit diesen Themen seit fast einem Vierteljahrhundert stagniere. Entsprechend nachhaltig
wurden seine Thesen vom Publikum mit einem Fragezeichen versehen. Seine Betonung des Widerspruchs von kapitalistischer Zentralisierung und notwendiger
Dezentralisierung, so wurde überzeugend argumentiert, wäre in Zeiten der auf einer Dialektik von Zentralismus und Dezentralismus beruhenden
Globalisierung nicht mehr ganz so überzeugend. Unklar sei auch, inwieweit die alte Idee der Genossenschaftsbewegung nach den praktischen Erfahrungen
mit den grün-alternativen Bewegungen der letzten 30 Jahre noch trägt.
Am Schluss seines Beitrages räumte Schwendter denn auch ein, dass seine
Ausführungen zum Thema weniger eine Utopie des Jenseits des Kapitalismus seien, sondern auf die Demokratisierung desselben hinauslaufen.
Auch Joachim Beerhorst hinterließ mehr Fragen als Antworten. Überzeugend
stellte er dar, dass die gewerkschaftliche Arbeiterbewegung ihrer historischen und politisch-sozialen Substanz nach eine Sozialbewegung mit explizit das Kapital
überschreitenden Möglichkeiten und Zielvorstellungen sei. Arbeitermacht sei per se Kapital begrenzende und Kapital zurückdrängende
Macht. Und die Abschaffung der Klassenherrschaft, der "Lohnknechtschaft" durchziehe die exponierten Selbstverständnistexte der
Arbeiterbewegung seit Mitte des 19.Jahrhunderts.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe sich die Idee langsam durchgesetzt zuerst in der
Sozialdemokratie und schließlich, in den 80er und 90er Jahren auch in der Gewerkschaftsbewegung , dass es weniger um eine Überwindung
des Kapitalismus gehe, als vielmehr um dessen Modernisierung.
Der reale Zukunftsdiskurs der Gewerkschaften sei nicht sehr utopisch, Thematisierung und
Dethematisierung laufen parallel nebeneinander her, so Beerhorst. "Her mit dem schönen Leben", diese Parole ist auch bei Gewerkschaftern
sehr beliebt. Wie sie zu füllen ist, ist dagegen noch reichlich unklar.
Margareta Steinrücke schließlich erinnerte daran, dass es im utopischen Denken
vor allem um eine neue Ökonomie der Zeit gehe. Den Utopien in Arbeit und Familie auf der Spur, stellte sie dar, wie auf der einen Seite Deregulierung,
Flexibilisierung und Arbeitsverdichtung die "tote und leere Zeit" ausweiten und zu Stress und Krankheit führen. Das Bedürfnis nach
Zeitsouveränität und Autonomie wird damit nur scheinbar befriedigt. Und so komme es andererseits darauf an, an diesen Bedürfnissen
anzuknüpfen.
Zu kurz kam jedoch auch hier die Frage, wie man auf diesem Wege verhindern kann, von der
neoliberalen Ideologie vergleichbar aufgefressen zu werden, wie die Grün-Alternativen der 80er und 90er Jahre.
Insgesamt deutlich wurde am Wochenende vom 18. bis 20.Oktober, wie eng die Frage nach
einer emanzipativen "roten" Utopie mit der kritischen Analyse der "schwarzen" neoliberalen Utopie verschränkt ist. Deutlich
wurde aber auch, dass der Neoliberalismus gerade in seiner nichtreaktionären, libertären Form noch nicht ausreichend als solcher wahr genommen
wird. Trotzdem: Dass und wie die Loccumer diese zentralen Fragen angehen, zeigt, dass sich hier eine neue Generation zorniger alter Männer entwickelt,
deren Knowhow und Leidenschaft wir dringend gebrauchen können.
Christoph Jünke
www.gfp.linkloc.de;
E-Mail: loccumer.initiative@gmx.de.