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Andrew Motion, seines Zeichens Hofdichter bei der britischen Queen Elizabeth, hat jüngst ein Berufsgeheimnis
gelüftet. Er benötige zum Dichten ein "Gefühl des milden Selbstmitleids", und um dies zu erzeugen, müsse er täglich
ein "allgemein erhältliches Mittel gegen Erkältungen" einnehmen. Die so erzeugte leichte Erkrankung erlaube ihm die "für
das Dichten absolut notwendige Introspektion". Für den Schreiberling einer historisch der Belanglosigkeit anheim gefallenen Klasse reichen
scheinbar simple Mittel zur Einstimmung. Wir fragen uns jetzt, was haben wohl die Poeten der vor Kraft kaum Gehen könnenden herrschenden Klasse in
Deutschland eingeworfen, um ihren Auftragsgebern die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen von SPD und Grünen zu kommentieren?
Kaum war der Kater abgeklungen, den das Gros der bürgerlichen Ideologen sich aus
Frust über die vergeigte Machtübernahme der "Schwarz-Gelben" herbeigesoffen und -geschrieben hatte, galt es eine neue Schlacht
gegen "Ökosteuer", "Mindeststeuer für Unternehmen", "Spekulationssteuer" und wachsende
"Verschuldung" zu gewinnen. Mehr noch als 1998, als während der ersten hundert Tage nach dem Wahlsieg Lafontaine in die Rente
geschrieben und der SPD die letzten Unbotmäßigkeiten bei der Führung des allgemeinen Geschäftsausschusses des Kapitals
ausgetrieben wurden, gerieten die Chefautoren bei FAZ, Handelsblatt, Wirtschaftswoche und Co. in den letzten Tagen außer Rand und Band.
Für das gemeine Volk begleitete die Bild die Kampagne: "So retten Sie Ihr
Geld", titelte sie am Tag der Koalitionsvereinbarungen. Der Kölner Express war nicht weniger eifrig: "Gerhard Schröder-
Schröpf" fiel ihm als Klassenkampfkalauer ein. Vollends berauscht tönte der Chefredakteur des Handelsblatts: "Die neue Regierung
sollte sich nicht darauf verlassen, dass sich der Sturm der Empörung über diese Politik bis zur nächsten Wahl legt. Die Konsequenzen ihres
Handelns werden lange zu spüren sein. Den Leistungsträgern dieser Gesellschaft kann man fast nur noch raten: Wer ins Ausland gehen kann, der
sollte es tun."
Schon ins mittlere "Introspektions"-Delirium geriet der Leiter des Hamburger
Weltwirtschaftsarchivs, Thomas Straubhaar: "Mit Klagen über verpasste Chancen lässt sich das wirtschaftspolitische Steuer in Deutschland
nicht herumreißen. Was jetzt notwendiger denn je wird, ist eine Mobilisierung der öffentlichen Meinung zugunsten weit reichender Reformen. Sie
muss von jenen vielen Deutschen ausgehen, die nicht aufgeben, weiterhin an die Zukunft Deutschlands zu glauben, obwohl sie oft an der
Reformunfähigkeit des Wirtschaftssystems verzweifeln … Kurzum: es braucht eine Allianz der Reformwilligen, die mit Pfannendeckeln,
Kochtöpfen und Trillerpfeifen auf die Straße gehen, um mit Montagsmärschen und Lichterketten die Öffentlichkeit zu
überzeugen, dass eine Zukunft ohne Reformen keine Zukunft hat!"
Die Soldschreiber des Kapitals wissen, was ihre Aufgabe ist: Noch vor der Jahreswende
werden sämtliche dem Kapital unbequeme Absprachen aus den Koalitionsverhandlungen, plus etliche Dinge, die darin gar nicht verkündet wurden,
unternehmergerecht zurechtgeschnitten werden, notfalls mittels der berüchtigten "Kanzlerworte". Was bleibt, sind die wirklichen
Schweinereien gegen die Erwerbslosen, die Rentenbezieher und Lohn- und Gehaltsempfänger. So macht man Politik.
Wie man es nicht macht, zeigt stattdessen der neue Chef des DGB, Michael Sommer. Schon
damit gestraft, auch optisch wie ein devoter Hund unter all den strahlenden Märchenerzählern der Bourgeoisie auszusehen, verkündet er in die
Mikrofone: "Die Richtung stimmt" und "Wir machen mit". Aber auch das ist noch zu toppen: der vom Edelkommunisten zum
Spätheimkehrer in die Gemeinschaft der neoliberalen Geschichtenerzähler mutierte Wolf Biermann ließ sich dieser Tage bei einer kuriosen
Enteignungsaktion erwischen. Auf der Frankfurter Buchmesse trat er als Bücherklauer in Aktion. Seine Beute: ein Band mit Grimms Märchen.
Das Leben ist schön.
Thies Gleiss