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Die Chefriege der IG Metall hat sich entschieden, um eine öffentliche Debatte über eine radikale Neuverteilung der
Arbeit einen großen Bogen zu machen. Eine Mischung aus Wunderglauben an die von der Regierung vorgegebenen Hartz-Reformen, Ratlosigkeit
angesichts der Erfahrungen mit der letzten Arbeitszeittarifrunde und Hilflosigkeit gegenüber dem Geschrei von Unternehmern, Regierung und Medien
nach Flexibilisierung, längeren Arbeitszeiten und "Verbetrieblichung" der Gewerkschaftspolitik hat die Herren Zwickel, Peters, Huber, Gasse
und Co. dazu veranlasst, schon vor dem großen Streit die Waffen zu strecken.
Auch die Angst, neben der zweifelhaften Turboverhandelei über das neue
Entgeltrahmenabkommen (ERA) keine weitere Anstrengung verkraften zu können sowie die Sorge, über die Kündigung der
Arbeitszeittarifverträge auch den Vertrag zur "Beschäftigungsbrücke" zu riskieren, mögen die Zurückhaltung mit
begründet haben. Die Arbeitszeitpolitische Konferenz vom 24. bis 26.Oktober in Mannheim hat diesen Kurs jedenfalls ohne große Widerrede
akzeptiert.
Die IG Metall will sich stattdessen darauf konzentrieren, die tatsächliche Umsetzung der
35-Stunden-Woche in den Betrieben zu erreichen. "Gestaltung der Arbeitszeit" heißt das Motto, womit sowohl den individuellen
Bedürfnissen der Beschäftigten nach mehr eigenständiger Arbeitszeitverwaltung entsprochen als auch die wirkliche Verkürzung der
vertraglichen Arbeitszeit auf 35 Stunden pro Woche erreicht werden soll.
Ganz sicher ehrenwerte Ziele, denn nicht nur in den Bundesländern der ehemaligen DDR
wird vertraglich noch 38 Stunden pro Woche gearbeitet, auch in Nordrhein-Westfalen z.B. ist die tatsächliche vertragliche Arbeitszeit noch 36,1 Stunden
pro Woche, obwohl seit dem 1.10.1995 gemäß Manteltarifvertrag die 35-Stunden-Woche vorgeschrieben ist.
Grund für die Abweichung ist vor allem eine Ausnahmeregelung, nach der bis zu 18%
der Belegschaft auch heute noch bis zu 40 Stunden arbeiten dürfen. Diese Quote wird zudem regelmäßig überschritten, wobei
insbesondere Angestellte davon betroffen sind.
Unter den Angestellten ist sogar die Haltung verbreitet, länger arbeiten zu wollen, weil
viele sich dadurch bessere Karrierechancen versprechen oder um ihre Unentbehrlichkeit zu beweisen. Die "Quote" ist Sorgenkind fast aller
Betriebsräte, weil sie systematisch kollektive Regelungen zugunsten individualvertraglicher Festlegungen unterläuft.
Noch abschreckender wird das Bild bei Berücksichtigung der faktischen Arbeitszeit. Im Durchschnitt macht jeder westdeutsche Beschäftigte 3,2
Überstunden pro Monat und denen im Osten wird es nicht viel besser gehen. Bei fast 40 Millionen Erwerbstätigen türmt sich das zu den
sagenhaften 1,5 Milliarden Überstunden pro Jahr auf. Nur noch ein kleiner Teil wird davon mit den vorgeschriebenen Mehrarbeitszuschlägen
vergütet.
Sehr viele Überstunden werden gar nicht bezahlt und in fast allen mittleren und
großen Betrieben gibt es mittlerweile Arbeitszeitkonten, auf denen die Mehrarbeit als Normalstunde gutgeschrieben wird. Solche Konten sind ein sattes
Geschenk der Beschäftigten an die Unternehmer. Selbst wenn Mehrarbeitszuschläge auf solche Konten mit einfließen, wird aus dem
Geschenk immer noch ein kostenloser Kredit an den Unternehmer.
Es gibt Kollegen, die ihre Konten auf mehrere hundert Stunden aufblähen. Viel zu selten
gibt es betrieblich vereinbarte Grenzen und Maßnahmekataloge zum Abbau der Konten ab einer bestimmten Plusmenge. Fast an einer Hand
abzuzählen sind Vereinbarungen darüber, was mit den Konten im Falle einer Insolvenz oder auch nur beim Betriebswechsel passiert.
Dennoch ermöglichen die Arbeitszeitkonten für viele Kollegen auch eine
Verbesserung der persönlichen Verwaltung ihrer Arbeitszeit, weil sie im gewissen Rahmen das "Abbummeln" mitbestimmen können.
Das ist der Grund neben der Tatsache, dass sie für weitergehende Lösungen von der Gewerkschaft allein gelassen wurden und werden
warum auch viele "fortschrittliche" Betriebsräte ihr "Ja" zu Arbeitszeitkonten geben.
Ein immer mehr ausuferndes Problem ist heute auch die schlichte Erfassung der realen
Arbeitszeit. Mehrarbeit wird stillschweigend geduldet und verrichtet und in vielen Betrieben wird unter dem Etikett "Vertrauensarbeitszeit" ein
ganzes System des "Arbeiten ohne Ende" und der Allzeitbereitschaft ausgebaut.
Gleichzeitig wächst die Arbeitsverdichtung an einzelnen Arbeitsplätzen, und rund
zwei Drittel aller Betriebe haben eine längere Betriebsnutzungszeit als die vertragliche Wochenarbeitszeit. Im Durchschnitt beträgt diese durch
Schicht-, Wochenend- und Gleitzeitmodelle erreichte Nutzungszeit 76,5 Stunden.
Alles zusammengenommen führt zu dem Ergebnis, dass die hart erkämpfte
Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden nicht nur durch die wirklichen Verhältnisse unterlaufen wird, sondern obendrein von den
Beschäftigten, selbst den gewerkschaftlich organisierten, nicht als ein Kampfergebnis erfahren und verinnerlicht wird, auf das sie stolz sein können.
Es gäbe im Sinne einer wirklichen Umsetzung der 35-Stunden-Woche in den Betrieben
also viel zu tun. Allen voran natürlich für die Kollegen und Kolleginnen in Ostdeutschland. Aber es ist vorherzusehen, dass dieses Ziel mit dem jetzt
von der IG Metall gewählten Ansatz nicht erreicht werden kann.
Weil sich die Verhältnisse von Betrieb zu Betrieb zwar ähneln, aber eben doch
jeweils sehr spezifisch sind, können neue tarifvertragliche Regelungen dabei nur wenig mehr konkrete Hilfe geben als die bisherigen. Es werden allenfalls
Rahmenabkommen möglich sein, die dann vom Geschick der Betriebsräte und deren Betriebsvereinbarungen abhängen.
Solche Betriebswuselei steht aber immer unter dem mächtigen Druck der jammernden
Unternehmer und ihrer Konjunkturlitaneien, und "produktivitätspaktgeile" Betriebsräte gibt es leider auch zuhauf. Gehen die geplanten
tarifvertraglichen Umsetzungsverträge allerdings weiter, wie die sofortige Angleichung der Arbeitszeiten in Ostdeutschland oder die von Peters ins
Gespräch gebrachten kollektiven Verkürzungen für Schichtarbeiter und andere Stressarbeitsbereiche, dann muss als Mobilisierungshilfe die
Kündigung der Arbeitszeittarifverträge benutzt werden.
Am wichtigsten ist aber: auch solche betrieblichen Verbesserungen werden nur
einigermaßen erfolgreich durchzusetzen sein, wenn sie von einer breiten gesellschaftlichen Debatte über eine neue Arbeitsverteilung begleitet
werden. Will die IG Metall aber arbeitszeitpolitische Erfolge haben, muss sie die unsäglichen Zeitgeister Henkel, Rogowski, Hartz, Rürup und wie
sie alle heißen, die heute die Medien, die Talkshows und die Stammtische beherrschen, erst einmal machtvoll davonscheuchen.
Die kapitalistische Marktwirtschaft und das Management eines jeden Betriebes machen es im Prinzip vor: wird die Arbeit auf Grund konjunktureller
Veränderungen und wissenschaftlich-technischer Fortschritte weniger, dann muss sie neu verteilt werden.
Diese Wirtschaftsweise bevorzugt allerdings die unmenschlichste, die am wenigsten
rückholbare und die mit Abstand teuerste Neuverteilung der Arbeit: immer weniger sollen immer mehr arbeiten, und für immer mehr heißt es:
überhaupt keine Erwerbsarbeit.
Die Kosten für diesen haarsträubend unvernünftigen Zirkus werden einfach
der Gesamtgesellschaft aufgebürdet. So werden rund 70 Milliarden Euro jährlich dafür geschätzt. Diesem Raubbau an menschlichen
und gesellschaftlichen Ressourcen muss die Gewerkschaft ihre eigenen Modelle einer neuen Verteilung der Arbeit gegenüberstellen.
Wie es schon der alte Marx vor 150 Jahren formulierte, muss im Kampf um die Arbeitszeit
"die politische Ökonomie der Arbeiterklasse gegen die politische Ökonomie der Bourgeoisie" ins Feld geführt werden. Man muss
nur eine beliebige Zeitung aufschlagen oder das Fernsehen anschalten, um festzustellen, wie brandaktuell diese Linie auch heute noch ist.
Nichts ist heute deshalb notwendiger als die allgemeine Verkürzung der täglichen
und der wöchentlichen Arbeitszeit. Verteilung der Arbeit auf alle ohne Einbußen im materiellen Lebensstandard, das ist die Losung der Stunde.
Diese Forderung wurde im Übrigen auch auf der Mannheimer Konferenz ebenso wie auf
allen ähnlichen Kongressen deutlich: immer wenn tapfere Sozialdemokraten die Arschbacken fest zusammenpressen und dennoch vorwärts
stürmen wollen, sprudelt aus ihrem Mund das nur für solche Zwecke geschaffene Zauberwort der deutschen Sprache: "Eigentlich..."
Eigentlich ist eine grundlegende Umverteilung der Arbeit erforderlich, aber immer spricht dieser oder jener betriebliche Grund jetzt dagegen.
Dabei gibt es in den Betrieben kein Thema, das attraktiver ist als die Forderung nach weniger
Arbeit ohne nennenswerte Einkommensverluste. Für die überwältigende Mehrheit der Beschäftigten ist eine
Arbeitszeitverkürzung bei gleichem Lohn nach wie vor faszinierend auch wenn sie meist schnell hinzufügen: "Zu schön, um
wahr zu sein."
Das traurigste Ergebnis der aktuellen Haltung der IG Metall die anderen
Gewerkschaften stehen aber auch nicht besser da ist allerdings, dass sie einmal mehr die Erwerbslosen im Regen stehen lässt und das zarte
Pflänzchen eines Bündnisses von Erwerbslosenbewegung und Gewerkschaftsbewegung zertritt.
Schon die fast kritiklose Unterstützung der Pläne der Hartz-Kommission trotz des
Aufschreis und des Protests bei den Erwerbslosengruppen, den Sozialverbänden und Arbeitswissenschaftlern machte deutlich, dass die IG Metall mit ihrer
bereitwilligen "Verbetrieblichung" der Tarifpolitik und ihrer Öffnung zu allen Formen der "Flexibilität" den Millionen
Erwerbslosen außerhalb der Betriebe nichts anzubieten hat.
Mit einer Arbeitszeitpolitik ausschließlich mit dem Ziel, die innerbetrieblichen
Verhältnisse zu humanisieren, werden wiederum die Erwerbslosen verprellt, denn Neueinstellungen sind auch jetzt nicht Ergebnis des politischen Willens
der gesellschaftlichen Mehrheit, sondern hängen wie immer vom Wohlwollen der Unternehmer ab. Will die vom Mitgliederschwund gebeutelte IG Metall
wieder zum Anziehungspol werden, dann sollten ihr, auch aus Eigeninteresse, die Millionen Erwerbslosen nicht egal sein.
Um weitere kollektive Arbeitszeitverkürzungen gesellschaftlich durchzusetzen, wird eine mächtige Mobilisierung notwendig sein. Der
Zwölfstundentag war das Ergebnis der französischen Revolution, der Achtstundentag das Ergebnis der deutschen Revolution von 1918. Der Einstieg
in die Siebenstundenregelung von 1985 wurde nur auf dem Hintergrund einer sehr politischen und breit angelegten Tarif- und Streikbewegung erreicht.
Dann ist klar: auch die nächste Arbeitszeitverkürzung für alle und bei
vollem Lohnausgleich benötigt eine umfassende gesellschaftliche Mobilisierung, weit über die Betriebe hinaus. Irgendetwas zwischen der
Novemberrevolution und dem Streik von 1984/85 muss und wird es sein, je nachdem, wie radikal die nächsten Verkürzungsschritte ausfallen.
Die nächste allgemeine Arbeitszeitverkürzung muss in einem großen Schritt
erfolgen. Nur auf diese Weise sind die beiden überragenden und unschlagbaren Argumente für die Arbeitszeitverkürzung in Stellung zu
bringen: für die Beschäftigten die Perspektive, endlich spürbar weniger Stress ohne Einkommensverluste zu haben, und für die
Beschäftigungslosen die Gewissheit, ein gewaltig gesteigertes Angebot an Arbeitsplätzen zu erleben.
Eine Kampagne für Arbeitszeitverkürzung müsste dabei von Anbeginn
ihren politischen Willen zum Ausdruck bringen, viel mehr als in den 80er Jahren darauf zu achten, dass wirklich Arbeitsplätze geschaffen werden. Statt
"30-Stunden-Woche" oder "25-Stunden-Woche", wie in den meisten linken Gewerkschaftszirkeln zu hören, wäre eine
Losung "Aus vier mach sechs der Lohn bleibt gleich!" viel überzeugender. Aus vier vorhandenen Arbeitsplätzen werden in
Zukunft sechs. Das lenkt die Diskussion sofort auf konkrete betriebliche Umsetzungsprobleme. Eine solche Kampagne darf auch nicht wie leider
teilweise 1984 der Fall die Illusion erzeugen, sie wäre "kostenneutral" für die Unternehmer.
Die Unternehmer haben seit der ersten Million Erwerbsloser in der Bundesrepublik 30 Jahre
Zeit gehabt, mit ihren Methoden für Vollbeschäftigung zu sorgen. Ihre Bilanz ist wohlwollend gerechnet eine Vervierfachung des
Problems. Jetzt ist es nur billig, es gegen die Unternehmerpolitik zu versuchen.
Das Geschrei der neuen und alten Mitte wird natürlich mächtig sein. Wir sind
auch sicher, dass einige tausend Klein- und Mittelbetriebe sagen werden, wir können unsere Belegschaft nicht um 25% oder 30% aufstocken. Ohne
gesamtgesellschaftliche Regulierung geht dies sicher nicht.
Wir schlagen als Übergang vor, dass die Bundesanstalt für Arbeit diesmal wirklich
reformiert und zu einer tatsächlichen Anstalt für Arbeit wird. Alle sich für unfähig erklärenden Betriebe und nicht wie
bisher, die für unfähig erklärten Erwerbslosen werden unter ihre Kontrolle genommen, um mit Hilfe der betrieblichen und
gewerkschaftlichen Vertretungen die nötigen Umstrukturierungen durchzuführen.
Gleichzeitig müssten die Gewerkschaften mehr noch als 1984/85 das Bündnis mit
anderen gesellschaftlichen Kräften suchen. Die Erwerbslosenbewegung, die globalisierungskritischen Gruppen wie Attac warten nur auf entsprechende
Signale. Schließlich muss eine Kampagne für Arbeitszeitverkürzung von Beginn an die Gewerkschaften in den anderen EU-Ländern
mit einbeziehen, ungeachtet irgendwelcher EU-Vorgaben.
"Aus vier mach sechs der Lohn bleibt gleich!" wird also zu einer
Machtprobe zwischen Kapital und Arbeit. Aber das waren und sind 4 Millionen Kündigungen der heutigen Erwerbslosen und Lehrstellensuchenden auch.
Sie wurden nur 4 Millionen mal verloren. Grund genug, es einmal anders zu versuchen.
Thies Gleiss