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Man könne nicht "die Zitrone bis zum Ende ausquetschen" mahnte der dänische EU-
Ratspräsident Anders Fogh Rasmussen die Regierungen der zehn überwiegend osteuropäischen Staaten, die 2004 der EU beitreten sollen.
Fragt sich nur, wer in der Endrunde der EU-Osterweiterung wen ausquetscht. Das "Angebot" der EU läuft auf einen Beitritt zweiter Klasse
hinaus.
Die neuen Mitgliedstaaten Ungarn, Tschechische Republik, Polen, Slowakei,
Slowenien, Lettland, Estland, Litauen, Malta und Zypern sollen ab 2003 zehn Jahre warten, bis sie die vollen Landwirtschaftsbeihilfen wie alle anderen
EU-Mitgliedstaaten erhalten. 2004 würden deren Bauern 25% des EU-Durchschnitts an Direktzahlungen erhalten, 2007 40% und erst 2013 die vollen
100%. Im Gegenzug sollen sie jedoch ab dem ersten Beitrittsjahr alle Beiträge zur Finanzierung des EU-Haushalts in voller Höhe entrichten und
damit auch die drastische Ermäßigung des Beitrags von Großbritannien zum EU-Haushalt mitfinanzieren.
Trotz anstehender Erweiterung ist der geplante EU-Haushalt für 2003 der niedrigste seit
15 Jahren. Die EU bietet lediglich 23 Milliarden Euro an Strukturfondsmittel für die Gesamtheit der Beitrittsstaaten für die ersten drei Jahre an und
bleibt damit noch 2,5 Mrd. Euro unter dem ursprünglichen Vorschlag der Kommission. Rasmussen hat sein Angebot für ein Finanzierungspaket am
Ende zwar noch um insgesamt 1 Mrd. Euro erhöht. Damit soll allerdings vorwiegend eine bessere Grenzüberwachung an den Außengrenzen
der neuen Mitgliedstaaten bezahlt werden.
Erinnern wir uns: Auf die Süderweiterung der damaligen EG (zuerst Griechenland, dann
Spanien und Portugal) folgte in den 80er Jahren immerhin eine Verdoppelung der Strukturfondsmittel. Um ihre Wirtschaft für den Wettbewerb im EG-
Binnenmarkt zu wappnen, räumte man ihnen Übergangsfristen von bis zu 15 Jahren bei wichtigen Binnenmarktvorschriften ein. Die EG-
Südländer starteten damals von einem Wohlstandsniveau von 5070% des durchschnittlichen EU-Bruttoinlandsprodukts pro Kopf.
Die heutige Marschrichtung der EU-15 lautet hingegen: Die Osterweiterung soll möglichst nichts kosten. Trotz der zu erwartenden Milliardentransfers
in die neuen Mitgliedsländer betont man in der Kommission, dass bis 2006 gerade einmal 0,14% des gesamten EU-BIP für die Erweiterung
ausgegeben würden. Verglichen mit dem, was die EU an ihre bisherigen Mitgliedsländer im gleichen Zeitraum ausschüttet, ist der
Gesamtbetrag von 40 Mrd. Euro für die neuen Mitglieder ausgesprochen gering. Allein für die Agrarpolitik in der EU der 15 werden zwischen 2004
und 2006 mehr als 120 Mrd. Euro ausgegeben, die Struktur- und Regionalbeihilfen summieren sich in dieser Zeit auf gut 90 Mrd. Euro.
Insbesondere in Fragen der Binnenmarktvorschriften und der Wirtschafts- und
Wettbewerbspolitik wird in den Beitrittsabkommen zudem eine recht strikte Umsetzung des bestehenden Gemeinschaftsrechts verlangt. Drastische
Schrumpfungsprozesse vor allem in Bergbau, Stahlindustrie, Schiffsbau, im Agrarsektor usw. vieler osteuropäischer Staaten mit entsprechend steigender
Erwerbslosigkeit und Verarmung sind zu erwarten.
Alle Anpassungslasten der marktliberalen Strategie sollen die Beitrittsstaaten möglichst
aus eigener Kraft schultern, obwohl ihr Entwicklungsrückstand zur EU-15 enorm ist. Das Bruttosozialprodukt pro Kopf liegt in den meisten
osteuropäischen Beitrittsstaaten unter 40% des EU-Durchschnitts. Den Wirtschaften der EU-15, insbesondere jenen Deutschlands und Österreichs,
sollen hingegen die Vorteile verbesserter Exportmöglichkeiten und der Durchdringung der osteuropäischen Ökonomien durch
westeuropäische multinationale Unternehmen zugute kommen.
Vor einem erhöhten Migrationsdruck als absehbarer sozialer Folge des beschleunigten
marktradikalen Strukturwandels der osteuropäischen Wirtschaften haben sich insbesondere Deutschland und Österreich durch eine
siebenjährige Übergangsfrist geschützt, die die Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit aus den osteuropäischen
Beitrittsstaaten einschränkt. Dies ist eine in sich konsistente, wenngleich zynische Strategie zur Vollendung des Europas der 25. Die Stärkung des
EU-Projekts basiert so auf einer dauerhaften Peripherisierung Osteuropas.
Das marktliberale EU-Erweiterungsprojekt wird von Rechts bis Mitte-Links vollständig
im Konsens getragen. Zwar bedienen Einzelne aus der verbliebenen Minderheit von Mitte-Links-Regierungen in der EU gelegentlich noch die "alte"
Rhetorik von Solidarität, Stärkung des sozialen Zusammenhalts und von der Angleichung und Verbesserung der Lebensverhältnisse.
Bezeichnender für die praktische Politik ist jedoch, dass gerade Gerhard Schröder als Bundeskanzler einer rot-grünen Regierung das
Finanzpaket des Rechtskonservativen Rasmussen für die Erweiterung als zu generös geißelte.
Wer etwa erwartet hat, dass nach der erneuten Mehrheitsübernahme der Rechten im
Europäischen Rat nach dem Sommer 2002 politische Kontroversen sich entlang der Scheidelinie zwischen Rechts und Mitte-Links entwickeln
würden, kann sich derzeit nur wundern. Die zahlreichen Initiativen der neuen Mehrheit von Rechtsregierungen unter den spanischen und dänischen
Ratspräsidentschaften zur Terrorismusbekämpfung, Verstärkung der Grenzüberwachung, "Bekämpfung illegaler
Einwanderung" und zum Ausbau der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) passierten den Rat in fast völliger
Harmonie.
Über den Ausbau der EU zu einer Militärunion und einer militärgestützten europäischen Ordnungsmachtpolitik besteht
weitgehend Konsens. Dies umfasst weitere Anstrengungen zum Aufbau der Europäischen Schnellen Eingreiftruppe, einer Europäischen
Rüstungsagentur und Entwicklung einer europäischen Rüstungspolitik, zur schrittweisen Schaffung eines europäischen
Rüstungsmarkts sowie zur Ausweitung der "Petersberg-Aufgaben" (militärische "Friedensmissionen" außerhalb der
EU) auf die Ziele: Kampf gegen Terrorismus, Kontrolle der Seewege im Mittelmeer, zivile Verteidigung gegen ABC-Einsätze.
Der Europäische Rat in Brüssel Ende Oktober 2002 erreichte das lange
angestrebte Abkommen zwischen EU und NATO, dass die Europäische Schnelle Eingreiftruppe bei ihren Missionen auf Kapazitäten der NATO
zurückgreifen kann. Die Führung der EU im Makedonieneinsatz konnte auf dieser Grundlage gesichert werden.
Es liegt in der Logik dieser Entwicklung, dass die EU künftig aufrüsten wird. So
fordert Italiens Außenminister Gianfranco Fini, Europa müsse mehr finanzielle, aber auch technologische Ressourcen zur Verfügung stellen,
um einer europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik Glaubwürdigkeit zu verleihen und den technologisch-militärischen Abstand
zwischen Europa und den USA zu verringern.
Außenminister Joschka Fischer und sein französischer Kollege Dominique de
Villepin fordern in einem gemeinsamen Beitrag für den Europäischen Konvent darüber hinaus, dass die ESVP "zu einer
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungsunion" fortentwickelt wird, "die auch zur Stärkung des europäischen Pfeilers der
Allianz beitragen soll" (CONV 422/02). Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion (ESVU) würde damit die bisher von der NATO
gewährleistete Verteidigung des Territoriums der EU-Mitgliedstaaten und den "Kampf gegen den Terrorismus" als eigenständige
Aufgabe übernehmen.
Die ESVU soll zudem über das Instrument der "verstärkten
Zusammenarbeit" zügig entwickelt werden. Fischer und de Villepin plädieren damit für eine militärisches "Kerneuropa-
Konzept". Mit qualifizierter Mehrheit im Rat (statt bisher einstimmig) und einem beschleunigten Entscheidungsverfahren sollen Beschlüsse
über die Aufstellung und Einsatz multinationaler Streitkräfte mit integrierten Führungskapazitäten, über Rüstungspolitik,
die Verwaltung der militärischen Humanressourcen und die Erarbeitung gemeinsamer Doktrinen schneller und leichter gefasst werden können.
Initiativen zur "verstärkten Zusammenarbeit" in der Sicherheitspolitik sollen
künftig auch möglich sein, wenn weniger als die Mehrheit der Mitgliedstaaten daran teilnehmen will. In der Militärpolitik zögerliche
EU-Mitgliedstaaten könnten damit die Vorhaben der anderen nicht mehr blockieren oder bremsen.
Ironie der Geschichte: Ausgerechnet die "rot"-grüne Bundesregierung und
ihr grüner Außenminister werden damit zum Vorreiter eines "Euromilitarismus", den die Grünen unter Petra Kelly in den 80er
Jahren mit großer Weitsicht vehement bekämpft hatten.
Das Projekt einer ESVU baut natürlich ein Spannungsfeld auf: Wie eigenständig oder wie ergänzend zu den Initiativen von USA und
NATO wird die EU auf dem Gebiet der Militär- und Sicherheitspolitik künftig agieren? Dies hängt offensichtlich von der Fähigkeit der
EU ab, mit den USA in militärisch-technologischer Hinsicht einigermaßen gleichzuziehen was noch ein weiter Weg wäre. Solange
dies nicht der Fall ist, werden die USA die NATO weiterhin leicht als Instrument ihrer Hegemonie über Europa nutzen können siehe etwa
das Projekt einer NATO-Eingreiftruppe, das den Aufbau einer EU-Eingreiftruppe belasten würde, oder die Ankündigung der Bush-Regierung, das
geplante europäische Satellitennavigationssystem Galileo mit Störfunk zu belegen, wann immer die USA in militärischen Interventionen
engagiert sind.
So oder so die teils ablehnende und mehrheitlich zögerliche Haltung einer Reihe
europäischer Regierungen gegen einen Militärschlag gegen den Irak ist nicht Ausdruck einer alternativen "europäischen
Friedenspolitik", sondern von Differenzen über den zu erwartenden Ausgang der Operation. Die rot-grüne deutsche Bundesregierung moniert
ja lediglich, dass die USA über kein Konzept für eine Stabilisierungspolitik im Nahen und Mittleren Osten nach einem solchen Krieg verfügen
und man sich deshalb zunächst auf die Konsolidierung des Erreichten in Afghanistan konzentrieren solle.
Logistische Unterstützung für einen US-Krieg gegen den Irak wird man zur
Verfügung stellen. Der Dissens in dieser Frage verläuft in Europa nicht zwischen Mitte-Links und Rechts steht doch gerade die britische
New-Labour-Regierung bislang als einzige Gewehr bei Fuß, auch Truppen für den Krieg gegen den Irak zu entsenden, während die Bush-
Freunde Aznar und Berlusconi bislang nur rhetorische Unterstützung der Linie des US-Präsidenten signalisiert haben.
Unterm Strich bleibt: Der militärische, rüstungswirtschaftliche und
militärtechnologische Vorsprung der USA ist für die EU in den nächsten Jahrzehnten nicht aufholbar. Die Militarisierungspolitik der EU wird
im Gegenteil die Dominanz von USA und NATO eher ergänzen und verstärken. Sie geht einher mit der Untergrabung der zentralen Rolle der UNO
und der OSZE für die internationale Sicherheit und den Frieden. Sie bedeutet die weitere Schwächung des Völkerrechts. Sie befördert
aktiv die Dominanz militärischer Sicherheitspolitik, militärischer Antworten auf die Herausforderungen in den internationalen Beziehungen der
Gegenwart und auf internationale und regionale Konflikte. Mit internationaler oder europäischer Friedenspolitik haben die gegenwärtigen
Differenzen zwischen einzelnen EU-Staaten und den USA nichts zu tun.
Wie der Ausgang des EU-Gipfels von Sevilla im Juni 2002 gezeigt hat, herrschen auch beim Ausbau der "Festung Europa" Einigkeit und
Harmonie zwischen Mitte-Links und Rechts. Zwar verhinderte Schweden, dass allzu wilde Vorschläge der spanischen Regierung für
Wirtschaftssanktionen gegen Nicht-EU-Staaten angenommen wurden, die nach Meinung der EU ungenügende Vorkehrungen gegen illegale Einwanderung
in die EU treffen. Allerdings wird solchen Staaten durchaus damit gedroht, dass ihr ungenügender Wille zur Zusammenarbeit "die Aufnahme engerer
Beziehungen zwischen solchen Ländern und der EU behindern könnte".
Die dänische EU-Ratspräsidentschaft hat die Beschlüsse von Sevilla
Überprüfung und Verschärfung der Visabestimmungen für und zügiger Abschluss von
Rückübernahmeabkommen mit Drittländern, beschleunigte Ausweisung von illegalen Einwanderern und Rückführung von
Flüchtlingen (insbesondere nach Afghanistan), Umsetzung des Plans für den Grenzschutz an den EU-Außengrenzen beharrlich und
erfolgreich vorangetrieben.
Nach den Attentaten vom 11.September 2001 sahen einige EU-Mitgliedstaaten die
günstige Gelegenheit, ihre auf nationaler Ebene getroffene Antiterrorgesetzgebung jetzt auf europäischer Ebene durchzusetzen und damit zugleich
gegenüber innenpolitischen Kritikern abzusichern. Andreas Wehr schildert die Hintergründe:
"Die europäische Antiterrorismuspolitik wird von einigen interessierten Staaten
bestimmt, zu denen neben Spanien auch Großbritannien, Frankreich, Italien, Portugal und Deutschland gehören. Es handelt sich dabei um
Länder, in denen in früheren Jahren, vor dem Hintergrund terroristischer Herausforderungen, tiefgreifende Veränderungen der Strafgesetze
und Strafprozessordnungen vorgenommen wurden ... Nach den Attentaten von New York und Washington besteht die Chance, Bedenken aus den
Öffentlichkeiten jener Länder zur Seite zu räumen, in denen solche Gesetze bislang nicht existieren. Sie kamen bislang sehr gut mit den
herkömmlichen Normen aus. Dabei handelt es sich immerhin um 9 der 15 Mitgliedstaaten ... Dies betrifft Länder wie Finnland, Schweden,
Luxemburg, die Niederlande und Dänemark, um nur einige zu nennen, die Terrorismus aus ihrer Nachkriegsgeschichte gar nicht kennen, sich aber jetzt
dennoch solche speziellen Gesetze zulegen müssen." (Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr.7, 2002.)
Der EU-Rahmenbeschluss zur Bekämpfung des Terrorismus wurde im November 2001
auf den Weg gebracht und im April 2002 endgültig verabschiedet. Er begründet eine für alle EU-Mitgliedstaaten in ihre nationalen
Gesetzgebung umzusetzende Definition terroristischer Straftaten, eine Maximalstrafe von 15 Jahren Haft für Rädelsführerschaft in einer
terroristischen Gruppe und von 8 Jahren für wissentlich begangene Handlungen, die als Unterstützung krimineller Aktivitäten einer
terroristischen Gruppe (Informationsbeschaffung, finanzielle und materielle Unterstützung) angesehen werden können. Die Auslieferung
Terrorismusverdächtiger in einen antragstellenden Mitgliedstaat wird auf Grundlage des Europäischen Haftbefehls ermöglicht.
Ein ständig per Ratsbeschluss aktualisierter Anhang zum Rahmenbeschluss
enthält eine Liste als terroristisch erachteter Organisationen und Personen. Deren Konten und Vermögen sind einzufrieren, sie sind von allen
öffentlichen Beihilfen (z.B. Sozialhilfe, Wohngeld, Steuervorteilen etc.) auszuschließen. Jede und jeder macht sich strafbar, der Personen oder
Organisationen auf dieser Liste mit Zuwendungen hilft. Das Schengen-Informationssystem (Schutz der EU-Außengrenzen) wird auf Identifizierung und
Abwehr Terrorismusverdächtiger ausgebaut. Ebenso werden in EU-Abkommen mit Drittländern nun Klauseln über die
"Terrorismusbekämpfung" aufgenommen.
Die aktuelle Liste Terrorismusverdächtiger enthält auch Organisationen und
Personen, bei denen das Etikett "terroristisch" durchaus fragwürdig ist. So steht etwa die kolumbianische FARC ebenso auf dieser Liste wie
die Kommunistische Partei der Philippinen. Im August 2002 wurde Professor José Maria Sison von der National Democratic Front auf Betreiben der USA
und der damals noch regierenden niederländischen Rechtskoalition auf die Liste genommen.
Sison lebt in Den Haag als anerkannter Flüchtling und wirkte als Berater an den
Waffenstillstandsverhandlungen zwischen der philippinischen Regierung und der New Peoples Army mit. Diese Verhandlungen wurden von der früheren
sozialliberalen Regierung der Niederlande und den Regierungen Norwegens und Belgiens aktiv unterstützt. Die philippinische Regierung hatte 1998
anlässlich seiner Einreise in die Niederlande bestätigt, dass gegen ihn keinerlei Verfahren anhängig sind. Es ist gleichermaßen
bemerkenswert wie absurd, dass wohl auch die Vertreter der Bundesregierung im Rat der Auflistung Sisons als Terrorismusverdächtiger zugestimmt haben
obwohl Sison nichts anderes getan hat, als den Friedensprozess zwischen Guerilla und Regierung in seinem Herkunftsland zu unterstützen.
Der Rahmenbeschluss des Rats enthält keinerlei Vorkehrungen, wie Personen, die der
Unterstützung des Terrorismus verdächtig sind, sich über ein schnelles und faires rechtsstaatliches Verfahren vor ungerechtfertigter
Sanktionierung und Verfolgung schützen können. Ausgerechnet die Europäische Union, die von ihren Kandidatenstaaten die Achtung
rechtsstaatlicher Prinzipien und Verfahren als Beitrittskriterium verlangt, hat mit ihrer Terrorismus-Initiative eine eklatante rechtsstaatliche Lücke
geschaffen, die staatlicher Willkür Tür und Tor öffnet.
Auch in Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik sind Mitte-Links und Rechts in der EU
weitgehend einig: Nach dem Scheitern der Lissabon-Strategie werden die Weichen für verschärfte neoliberale "Reformen" gestellt. Wir
erinnern uns: Der Lissaboner EU-Gipfel vom März 2000 versprach Vollbeschäftigung bis 2010 mit "Qualität der Arbeit"
(besserer Arbeits- und Gesundheitsschutz, angereicherte Arbeitsinhalte, bessere Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben, bessere Qualifizierung und
Weiterbildung am Arbeitsplatz). Dies sollte durch den Ausbau der "New Economy" und der Internet-Wirtschaft sowie mit einem durchschnittlichen
jährlichen Wirtschaftswachstum von 3% möglich werden.
Diese rosige Perspektive hat sich durch den Absturz der New Economy und die Stagnation der
Weltwirtschaft seit März 2000 erledigt. Zwar sah die EU seitdem in jedem Jahr zum Frühjahr oder Herbst bereits die Rückkehr des
Aufschwungs kommen doch die Hoffnungen haben sich nie verwirklicht.
Verbal wird noch an der sozialen Rhetorik der Lissabon-Strategie festgehalten, doch inhaltlich
wird vieles umgedeutet. Qualität der Arbeitsplätze und Stärkung des sozialen Zusammenhalts treten als Ziele in den Hintergrund.
Vollbeschäftigung soll nun vorrangig durch eine umfassende Deregulierungsstrategie erreicht werden. Wirtschaftliche Dynamik und die Stimulierung des
Wirtschaftswachstums erwartet man vom Fortgang der Marktliberalisierung bei Energie, Luftverkehr oder dem zweiten Liberalisierungspaket für die
Eisenbahnen. Mehr Beschäftigung soll durch autoritäres "Fördern und Fordern", Lohnspreizung nach unten und umfassende
Flexibilisierung der Arbeit erreicht werden.
Der EU-Gipfel in Barcelona vom März 2002 hat in großer Eintracht die Weichen
gestellt:
Steuersenkungen, um Niedriglohnbeschäftigung zu fördern;
"Überprüfung" der Anreize der Arbeitsmarktpolitik: Anspruchsberechtigung, Leistungsdauer, Lohnersatzquote und -
ergänzungsleistungen etc. werden an verschärfte Auflagen gebunden;
Löhne und Gehälter sollen entsprechend der Entwicklung der Produktivität und der Qualifikationsunterschiede differenziert
werden;
die Kosten in Zusammenhang mit der Formulierung und Beendigung von Arbeitsverträgen sollen überprüft werden (gemeint ist
eine "Flexibilisierung des Arbeitsvertragsrechts" und der Abbau von Schutzrechten wie z.B. die Lockerung des Kündigungsschutzes);
die faktische Lebensarbeitszeit soll im EU-Durchschnitt um 5 Jahre verlängert werden (mit dem Ausstieg aus
Frühverrentungsprogrammen und "Anreizen" fürs Arbeiten bis zur Rentenaltersgrenze will die EU verhindern, dass ein hoher Anteil von
Menschen schon aus dem Berufsleben ausscheidet, bevor sie das gesetzliche Rentenalter erreicht haben);
angesichts der Überalterung der Bevölkerung muss die Zahlungsfähigkeit der europäischen öffentlichen Haushalte
sichergestellt werden (deshalb zwei Verfahren der "offenen Koordination" im Bereich der Rentenreformen und des Gesundheitswesens mit dem Ziel
der Kostendämpfung und Teilprivatisierung der entsprechenden sozialen Sicherungssysteme).
Also insgesamt ein Programm, womit das "europäische Sozialmodell" jenem
der USA angeglichen wird, obwohl das bewunderte US-Modell inzwischen ökonomisch abgestürzt ist.
Die Debatte über die Lockerung des Stabilitäts- und Wachstumspakts weckt
andererseits bei manchen die Hoffnung, eine keynesianische Wende in der EU-Wirtschaftspolitik sei nun nicht mehr zu verhindern. In der Tat wird der Pakt
gelockert werden allein schon, weil die EU nicht auf Dauer gegen die Interessen ihrer größten Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich und
Italien Politik machen kann.
Zunächst wird es wohl bei einer rein zeitlichen Verschiebung des Datums bleiben, zu
dem die Mitgliedstaaten ausgeglichene Haushalte vorlegen müssen (2006 statt 2004). Wenn das nicht hilft, wird sich die Diskussion um die "goldene
Regel" (soviel Verschuldung erlauben, wie in die Ausweitung der Investitionen gesteckt wird) und um die Herausrechnung bestimmter Haushaltsposten
aus der Defizitquote intensivieren.
Und da haben sich etwa Frankreich und Italien schon festgelegt: Im Interesse der angeblich
notwendigen Modernisierung ihrer Streitkräfte soll der Verteidigungsetat von der Berechnung des Haushaltsdefizits ausgenommen werden!
Makroökonomisch ist bei der EU bestenfalls ein pragmatisches Durchwursteln angesagt, nicht jedoch eine klarer Kurswechsel.
Fazit: Der gemeinsame Nenner zwischen Rechts und Mitte-Links in der EU besteht in der
Stärkung repressiver Staatlichkeit auf europäischer Ebene (Militär, Polizei, Inneres und Justiz) und in der fortgesetzten neoliberalen
"Modernisierung" für das große Markteuropa; es sind zwei Seiten derselben Medaille. Der ehemalige Berater Margaret Thatchers, John
Gray, hat vor seinem Tod diese Dichotomie des Neoliberalismus treffend auf den Punkt gebracht:
"Gesellschaften neigen gleichsam automatisch dazu, die Märkte zu zähmen,
während freie Märkte nur durch die Machtmittel eines zentralisierten Staates geschaffen werden können. Als dessen Schöpfungen sind
freie Märkte nicht in der Lage, ohne starken Staat zu bestehen ... Demokratie und freier Markt sind keine Partner, sondern Konkurrenten ...
Gewöhnlich nämlich werden den freien Markt begünstigende Maßnahmen nicht von einer stabilen demokratischen Politik getroffen,
sondern von einer wechselhaften und unbeständigen Politik der Unsicherheit."
Klaus Dräger