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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2003, Seite 16

Kaschmir

Vom Paradies zur Hölle

Wenn man den Jawarhar-Tunnel verlassen hat, der die 3700 Meter hohen Banihal-Berge durchschneidet und den Rest der Indischen Union mit dem Bundesstaat Jammu und Kaschmir (J&K) verbindet, steht auf dem Punkt, von dem man den ersten Blick auf das Kaschmir-Tal hat, am Straßenrand eine Tafel, auf der es heißt: "Halten Sie hier an. Sie sind jetzt im Paradies." Während das noch immer in gewissem Maße zutrifft, soweit es um die Landschaft und die Natur geht, ist das doch schon seit langem zu einer frechen Lüge geworden, soweit von der politischen und sozialen Lage die Rede ist.
Das Herz der Region ist das 110 km lange und 40 km breite Kaschmir-Tal mit seiner Hauptstadt Srinagar. Es gibt in Kaschmir fast keine Industrie. Angesichts der Tatsache jedoch, dass Kaschmir die wasserreichste und am wenigsten von den sintflutartigen Monsunregen betroffene Region des Himalaya ist, ist sie ein landwirtschaftliches Paradies. Im gesamten ehemaligen Fürstentum Kaschmir, das heute in indisch, pakistanisch und chinesisch besetzte Regionen aufgeteilt ist, leben über 10 Millionen Menschen, 7 Millionen allein in J&K.
Der von vielen Kaschmiri freiwillig angenommene Islam ist heute die Religion von etwa 80% der Bevölkerung im kaschmirischen Teil von J&K, von fast der gesamten Bevölkerung im euphemistisch "Azad Kashmir" (Freies Kaschmir) genannten pakistanisch besetzten Teil und des von Pakistan als "Northern Areas" bezeichneten Teils, und von rund 50% der Menschen im von Indien besetzten Ladakh, wo die andere Hälfte buddhistisch ist. In Jammu jedoch, dem südwestlichen Teil des Staates, zählen die Muslime nur 35% gegenüber 62% Hindus und 3% Sikhs.
Ein halbes Jahrhundert lang ist diese Region nun Schauplatz entweder eines latenten oder eines offenen nationalen Befreiungskampfes. Alleine die Periode des offenen Krieges seit 1989 hat zwischen 40000 und 85000 Tote gefordert. Gleichzeitig ist Kaschmir zweimal der Hauptvorwand für einen offenen Krieg zwischen Indien und Pakistan gewesen, mit häufigen blutigen Zusammenstößen an der Grenze für den Rest der Zeit. Da nun beide Länder seit 1998 über Atomwaffen verfügen, ist jederzeit ein Endkampf möglich, der die gesamte Region in Schutt und Asche zu legen droht.

Die Wahlen von 2002

Im September und Oktober 2002 fanden in J&K Wahlen zum Regionalparlament statt. Während die wichtigsten politischen Kräfte, die sich in Kaschmir und im geringeren Maße in Jammu gegenüberstehen, die bislang herrschende National Conference (NC) und die oppositionelle All Parties Hurriyat Conference (APHC) sind, spiegelt sich deren Kräfteverhältnis nicht auf der Ebene der Wahlen wider. Die APHC ist eine Koalition aus 23 Parteien und Organisationen, einige, wie die Jamaat e-Islam, propakistanisch und andere für die staatliche Unabhängigkeit, wie z.B. die Jammu Kashmir Liberation Front (JKLF).
Angesichts des Boykotts der Mehrheit der APHC waren die Hauptkonkurrenten bei den Wahlen die herrschende NC auf der einen und der Indian National Congress (INC) sowie die erst vor drei Jahren gegründeten Peoples Democratic Party (PDP) und "Unabhängige" auf der anderen Seite. Diese "Unabhängigen" haben 15 Sitze gewonnen, während der INC 20 gewann — meist in Jammu, wo die Hindu-Bevölkerung konzentriert ist — und die PDP 16. Vier weitere Sitze gewann die Panthers Party (PP), zwei die Communist Party of India/Marxist (CPI-M) und nur einen die in Neu-Delhi regierende hinduchauvinistische BJP — ebensoviel wie der regionale Zweig der hindu-faschistischen RSS.
Die BJP hat damit seit 1996 sechs Sitze im Regionalparlament eingebüßt. Die bis zu diesen Wahlen regierende NC hat immer noch 28 Sitze, aber das genügte nicht, um wieder eine Regierung zu bilden.
Nach vielem Gezerre, wer eine Koalitionsregierung führen werde, gab der INC der PDP Ende Oktober schließlich nach. Deren Chef, Mufti Mohammed Sayeed, wird die neue Regierungskoalition, zu der außerdem noch die CPI-M, die PP und "Unabhängige" gehören, die nächsten drei Jahre führen. Für die restlichen drei Jahre wird der Chief Minister dann ein INC-Mitglied sein.
Was auch immer die neue Regierung tun mag, es bleibt die Tatsache, dass der Anteil der Wähler die 46%-Marge nicht überschritten hat — ein Zeichen der Ablehnung des Wahlprozesses selbst, aber auch ein Zeichen des unmissverständlichen Drucks seitens nationalistischer, vor allem aber gewalttätiger islamistischer Gruppen. Schätzungen über die Zahl der in diesen Wahlen zu Tode Gekommenen variieren zwischen 300 und 600 Opfern. Während Indien die Wahlen natürlich als eine Bestätigung der Zugehörigkeit der Region zur Union betrachtet, ist die Realität weit davon entfernt, eine solche Behauptung zu stützen.

Die Wurzeln des Konflikts

Die Saat des heute scheinbar unlösbaren und endlosen Konflikts war von den britischen Kolonialherren in zwei Schritten gelegt worden. Zuerst, im Jahre 1846, installierten die Briten die Hindu-Dynastie der Dogra als Herrscher über ein halb unabhängiges kaschmirisches Fürstentum. Dann, nach dem Zweiten Weltkrieg, als sie ihr Weltreich nicht länger zusammenhalten konnten, benutzten sie die Strategie des Teilens und Herrschens und ermutigten den muslimischen Teil der indischen Bourgeoisie, sich loszutrennen und einen separaten Staat, Pakistan, auf religiös-kommunalistischer Basis zu gründen.
Als Indien auf diese Weise im August 1947 geteilt wurde, wurde Pakistan ein rein islamischer Staat unter Führung der Muslim League, einer Partei aus reichen Landbesitzern und konservativen Intellektuellen.
Die Indische Union ihrerseits kam unter die Herrschaft der mehrheitlich hinduistischen Großbourgeoisie, deren stärkste Partei, die Kongress-Partei (INC), behauptete, im Namen aller religiösen und ethnischen Gemeinschaften einen säkularen Staat zu regieren.
Die Wahrheit ist, dass sich Indien im Laufe seiner Existenz als unabhängiger Staat — oder genauer seine herrschende Bourgeoisie — als unfähig erwiesen hat, die Versprechen seiner nationalen Revolution zu erfüllen. Mit sich verschärfenden Klassengegensätzen und wachsender Abhängigkeit vom Imperialismus ist Indien heute eine Brutstätte ethnischen und religiösen Haders — so sehr, dass in 17 von 25 Provinzen abgesehen von Kaschmir separatistische und religiös-sektiererische Bewegungen, neben einer Zahl von radikalen Guerillabewegungen mit oft maoistischem Hintergrund, tätig sind.
Die Teilung war begleitet von einem riesigen Blutbad und wechselseitiger Vertreibung: 8,8 Millionen Hindus wurden aus Ost- und Westpakistan vertrieben und 8,5 Millionen Muslime aus Indien.
Aus sowohl ideologischen wie strategischen Gründen war das Schicksal Kaschmirs eine entscheidende Frage. Für die Muslim League würde es ihren Anspruch auf einen eigenen Staat auf der Basis der Religion untergraben haben, einen Bundesstaat mit überwiegend muslimischer Bevölkerung innerhalb der Indischen Union zu belassen. Für den INC bedeutete dieser Anspruch eine Negierung ihres nichtsektiererischen Selbstverständnisses; Kaschmir auf dieser Grundlage gehen zu lassen, würde die Saat für weitere irredentistische Bewegungen in der Zukunft bereiten.
Zusätzlich zu diesen ideologischen Beweggründen für die Verteidigung ihrer Herrschaft über Kaschmir kommt der Wille der indischen Bourgeoisie, über eine Region zu herrschen, die fast die gesamte Wasserzufuhr für Pakistan kontrolliert.
Das war der Grund, weshalb Indien unter Führung von Jawaharlal Nehru, dessen brahmanische Familie aus Kaschmir stammte und der hier mit der britischen Kolonialmacht zusammenarbeitete, die unter Missachtung des Willens seiner Untertanen getroffene Entscheidung des Hindu-Maharajas von Kaschmir, Hari Singh, begrüßte, sich im Oktober 1947 der Indischen Union anzuschließen.
Die daraufhin folgende militärische Intervention Pakistans führte zur heutigen Grenzziehung. Diese Grenze ist von den Kaschmiri niemals anerkannt worden, und sie war auch nicht wirklich zufriedenstellend für Indien oder Pakistan. Indien jedoch bemüht sich, nachdem es den besten und größten Teil Kaschmirs an sich gebracht hat, generell den Eindruck zu erwecken, dass es sich in der Defensive befindet, während die pakistanische Seite — mit Hilfe einer Reihe kaschmirischer und in jüngerer Zeit internationaler muslimischer Jihad-Gruppen — aktiver interveniert und versucht hat, die Grenzen neu zu ziehen. Im Sommer 2002 führten erneute Zusammenstöße an der Grenze zu wechselseitigen Drohungen mit einem offenen Krieg zwischen den beiden inzwischen über Atomwaffen verfügenden Staaten.
1951, ein Jahr nachdem Neu-Delhi Kaschmir einen Sonderstatus verliehen hatte, sich aber weiter weigerte, sein Versprechen bezüglich einer Volksabstimmung zu erfüllen, fanden in Indien die ersten freien Wahlen statt. In Kaschmir errang die National Conference Sheikh Abdullahs, des Vaters der kaschmirischen Nationalbewegung, einen überwältigenden Sieg, und er wurde daher Ministerpräsident.
In dieser Eigenschaft führte er eine Landreform durch, die die lokalen Großgrundbesitzer entmachtete und die festlegte, dass nur Kaschmiri in Kaschmir Eigentümer von Land sein können. Zwei Jahre später jedoch wurde Abdullah von der Zentralregierung abgesetzt, weil er nicht auf seine Pläne für ein Referendum über die Unabhängigkeit des Staates verzichten wollte.
1954 ratifizierte die Verfassunggebende Versammlung Kaschmirs dessen Beitritt zur Indischen Union. Inzwischen war jedoch Pakistan ein Eckstein der US-Pläne für die Umzingelung der UdSSR durch eine Reihe regionaler Militärbündnisse (CENTO, SEATO) geworden. Indien, unterstützt von der UdSSR, blieb eine Säule der Bewegung der Blockfreien. 1965 und 1971 kam es zwischen Pakistan, das irrtümlich dachte, die Kaschmiri wollten sich anschließen, und Indien erneut zu Kriegen, in denen letzteres siegte.

Die gegenwärtige Lage

Neben der Bitternis, die sich in vielen Jahren aufgebaut hatte, war der Zusammenbruch der stalinistischen Staaten Ende der 80er Jahre ein wesentlicher Faktor, der die Kaschmiri ermutigte, ihren Widerstand gegen Indien zu verstärken. Damals bestand die Nationalbewegung noch überwiegend aus säkularen Kräften, die für nationale Selbstbestimmung und einen eigenen Staat statt für den Anschluss an einen pakistanischen Staat kämpften, der meistens von religiös-obskurantistischen Militärregierungen und halbfeudalen Grundbesitzern beherrscht wurde.
Der Aufstieg der islamistischen Bewegung jedoch, der mit der iranischen Revolution von 1979 begann, aber mit dem Krieg gegen die russische Besetzung Afghanistans deutlichen Auftrieb erhielt, musste sich schließlich auch auf Kaschmir auswirken. Sowohl die Militärdiktatur von Zia ul-Haq bis 1988 als auch die darauf folgende Zivilregierung von Benazir Bhutto hatten saudische Petrodollars und CIA-Hilfe benutzt, um eine starke islamistische Bewegung aufzubauen — sowohl um die Linke im eigenen Land zurückzudrängen als auch die prorussische Regierung in Afghanistan zu stürzen. Die gleichen Kräfte kämpften natürlich auch dafür, dass Kaschmir ein Teil der Islamischen Republik Pakistan würde.
Als die kaschmirische Nationalbewegung gleichzeitig alle Hoffnungen auf eine friedliche Lösung der nationalen Frage und des Widerstands gegen die wachsende politische Korruption und Verarmung weiter Teile der Bevölkerung verlor, musste sie sich an Pakistan um Hilfe — militärische Basen, Ausbildung und Waffen — wenden. Die inzwischen in JKLF umbenannte Jammu Kashmir National Liberation Front (JKNLF), wie sie zunächst hieß, als sie aus Sheikh Abdullahs Bewegung hervorging, sandte 1988 ihre ersten Kämpfer zur Guerilla-Ausbildung in das von Pakistan besetzte Azad Kashmir.
Da es ihr an jeglichem Netzwerk in J&K fehlte, musste sich der pakistanische militärische Geheimdienst ISI zunächst auf die JKLF stützen, um einen Aufstand vorzubereiten. Letztlich jedoch zog er die propakistanischen Islamisten vor und half, eine Reihe von Jihad-Gruppen zu schaffen. Auf diese Weise verlor die JKLF schon vor Jahren allen Einfluss als militärische Kraft.
Die überaus sektiererischen und terroristischen Methoden der Jihad-Gruppen haben nicht nur den Antagonismus zwischen den religiösen Gruppen der Region, die in der Vergangenheit für ihre religiöse Toleranz bekannt war, angeheizt, sondern auch einen wachsenden Teil der muslimischen Bevölkerung gegenüber dem bewaffneten Befreiungskampf überhaupt desillusioniert gelassen.
Dennoch ist J&K heute wohl der Teil der Welt mit der höchsten Dichte von Militärpersonal. Die islamistischen Guerilleros haben nicht nur Mitglieder konkurrierender Organisationen umgebracht, sondern auch die Zivilbevölkerung gezwungen, ihnen Unterstützung zu gewähren, und in Dörfern, die sich weigerten (nicht zuletzt auch aus Angst vor der brutalen Reaktion der indischen Counterinsurgency-Kräfte), blutige Massaker verübt.
Mehrfach wurden Dörfer auch gezwungen, angebliche islamische Gesetze und Sitten zu befolgen, die in diesen Regionen nie zuvor praktiziert worden waren. Diese Guerilleros sind oft sehr viel stärker daran interessiert, ihre Art von Islam aufzuzwingen, als die Kaschmiri vom indischen Joch zu befreien, von sozialer Unterdrückung erst gar nicht zu reden.
Im Zuge des von den USA ausgerufenen "Krieges gegen den Terrorismus" wurde die pakistanische Militärregierung unter General Musharraf genötigt, einige Maßnahmen gegen die islamistischen Gruppen zu ergreifen, die als Surrogate von Al Qaeda betrachtet werden. Es ist aber ein offenes Geheimnis, dass die Zentralregierung nicht die Mittel hat, diese Kräfte wirklich zu stoppen, und sie kann auch keine Schritte tun, die als Verrat an der kaschmirischen Sache interpretiert werden könnten.
Unzweifelhaft wird eine wahre Befreiung der Massen in Kaschmir nur als Teil einer sozialistischen Föderation Südasiens möglich sein, eine Forderung, die in Kaschmir selbst z.B. von der Awami Party erhoben wird. Kaschmir jedoch mag dafür zum Funken werden, angesichts seiner ländlichen sozialen Struktur kann ein solches Projekt jedoch letztlich nur auf die zahlreiche Arbeiterklasse in Indien und Pakistan gestützt verwirklicht werden.

Anton Holberg


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