SoZ Sozialistische Zeitung

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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Januar 2003, Seite 20

Mord und Totschlag

Jean-Pierre Gattegno, Der vertauschte Mantel, btb taschenbuch, 2000, 256 S., 8 Euro.

Bill James, Tote schreien nicht, Rotbuch, 2002, 264 S., 9,90 Euro.

Meistens war das Abfragen einer Klasse für mich, als würde ich in der Metro betteln. Ich sah mich Blicken gegenüber, die ins Leere starrten, irgendwohin, die nicht zu entziffern, ja, manchmal sogar feindselig waren. Nicht Schüler saßen mir gegenüber, sondern Verkehrsteilnehmer. Sie verlangten nichts anderes von mir, als ohne Zwischenfälle zur nächsten Stunde gefahren zu werden — gegebenenfalls zur Endstation: 18 Uhr, alles aussteigen!"
Dies ist kein Leidensbericht eines deutschen Pädagogen in der GEW-Zeitung im Jahre 1 nach PISA, sondern die gleichfalls frustrierte Reflexion von André Jefferson, der Hauptperson in dem Roman Der vertauschte Mantel. Was ihn viel stärker als das Desinteresse seiner Schüler stört, ist, nicht dem dandyhaften Lebensstil seines Vaters, eines verstorbenen britischen Diplomaten, nachfolgen zu können, und in seinen Versuchen, diesen wenigstens durch Kleidung zu kopieren, auf
Schnäppchenjagden in Edelboutiquen angewiesen zu sein. Eines Abends, beim Korrigieren von Schülerarbeiten, erhält er von der Mutter eines seiner Schüler einen Anruf. Es gibt ein Treffen und wider Erwarten geht es nicht um Noten, sondern um Geld, das anderen gehört. Natürlich soll das auf nichtlegale Weise beschafft werden, aber für jemanden, dessen Vater seinen Job durch Beteiligung an kriminellen Machenschaften verloren zu haben scheint, ist die Aussicht auf echten englischen Tweed und handgefertigte Schuhe Motiv genug, in den Deal einzuwilligen. Damit geht der Schlamassel los und unser Lehrerlein hat alle Schwierigkeiten, nicht unter die Räder zu kommen. In die Rolle des Verbrechensschüler geschlüpft muss er feststellen: das Studium der Frauen ist schwer.
Bill James‘ Krimi Tote schreien nicht spielt im Süden Englands, irgendwann Ende der 90er Jahre in einer Kleinstadt, in der die Nachwirkungen der Ära Thatcher noch zu spüren sind. Das System des lokalen Drogenhandels ist ins Rutschen gekommen, weil die zentrale Figur gestorben ist. Die Polizei und die kleinen Gangster fürchten die Übernahme des Marktes durch die harten Profis aus London oder Manchester. Nicht durch Gewalt geschieht dies heutzutage, sondern durch günstige Preise für die Kleindealer. Eine von ihnen, eine ältere Dame, die ihr einträgliches Geschäft mit den Yuppieendverbrauchern auf einem gestyleten Partyschiff am modernisierten Hafen betreibt, hat wohl solch ein Angebot erhalten. Sie weigert sich gegenüber ihren Zwischenhändlern ihre liberale Interpretation der Marktgesetze aufzugeben. Um ein Zeichen gegen den Verdrängungswettbewerb zu setzen, ermordet er sie und lässt letzte Spuren von Colin Harpur, dem Chef der Kriminalpolizei, beseitigen.
Der, ohne Abstimmung mit seinen Vorgesetzten, bewegt sich, als scheinbar korrumpierter Beamter, im Milieu, um Beweise gegen die Drogenringe zu sammeln. Der Mord, gedacht als Reviermarkierung, erweist sich als auslösendes Moment, das das ganze kleinstädtische Gefüge des Verbrechens, wo jeder jeden kennt und mit jedem irgendwie verbündelt ist, durcheinanderbringt. Mörder, Dealer, Großhändler, aber auch die Polizisten, blasen zwar andauernd ihre Backen dick auf, versuchen sich an vorzeigbaren Rollenmustern und sind doch nichts anderes als die ungebildeten Nachbarjungs, denen die Gesellschaft keine Chance zum gewöhnlichen Verkauf ihrer Arbeitskraft gegeben hat und die ihre Familie doch durchbringen müssen.
Ganz anders die Frauen in diesem Roman: sie sind die wirklich tragenden Figuren dieses Romans, obwohl sie im Hintergrund agieren. Es ist weniger ihre schulische oder universitäre Ausbildung, die die Distanz zu den Männern herstellt. Eine viel größere Rolle spielt ihre Lebensklugheit und der unbekümmerte Witz der Mädchen. Und wenn dann doch einmal Frauen in kriminelle Aktionen verstrickt sind, stecken sie die Männer links und rechts in die Taschen.

Udo Bonn


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