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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2003, Seite 7

Zurückgerudert und gegengesteuert

Otto-Brenner-Biografie wird neu geschrieben

Wenn es nur eine Wahrheit gäbe, könnte man nicht hundert Bilder über dasselbe Thema malen", meinte einst Pablo Picasso. Deshalb hätte der politisch nicht unerfahrene geschäftsführende Vorstand der IG Metall eigentlich vorher festlegen müssen, welches Bild er jungen Gewerkschaftern heute von seinem früheren Vorsitzenden Otto Brenner vermitteln will. Bei der Vergabe der Auftragsarbeit an Professor Rainer Kalbitz vom Institut für Soziologie an der Universität Dortmund wurde dies möglicherweise versäumt — oder auch nicht.
Wie dem auch gewesen sein mag, die vom Vorstand der IG Metall "abgesegnete", von der Hans-Böckler-Stiftung finanzierte und von der Otto-Brenner-Stiftung Ende 2001 herausgegebene Biografie Die Ära Otto Brenner in der IG Metall entpuppte sich als "reine Klatschgeschichte" über das tatsächliche oder vermeintliche Wirken und Denken des Gewerkschafters, die jedoch "ausweicht, sobald es politisch wird".
Dieses vernichtende Urteil fällte Jakob Moneta, der ehemalige Chefredakteur der Zeitung Metall, auf der überfüllten Eröffnungsveranstaltung der historisch-politischen Tagung "Vom Regen in die Traufe? Gewerkschafter im Herbst 2002" im November letzten Jahres im Frankfurter Gewerkschaftshaus.
Zusammen mit Hans Preiss und Georg Benz, die einst beide dem geschäftsführenden Vorstand der IG Metall angehörten, sprach er über "Otto Brenner und seine Zeit" — sowie das als "Machwerk" entlarvte Buch von Rainer Kalbitz, das "ein völlig falsches Bild von Otto Brenner" liefere.
Auch Georg Benz charakterisierte diese "Schmähschrift" als eine "Enthüllungsstory im Stil der Bild-Zeitung für die Spaßgesellschaft". Sie enthalte eine "durchgängige Diffamierung der IG Metall und Otto Brenners". Deshalb forderte er, dass der Vorsitzende der IG Metall von 1952 bis zu seinem Tod 1972 in einer neuen Biografie rehabilitiert sowie als Gewerkschafter, Sozialist und Mensch gewürdigt werden müsse.
In dieser Absicht hatte schon Hans Preiss die Diskussion mit den Hinweisen eingeleitet, dass Otto Brenner nach 1945 trotz aller Hoffnungen auf die demokratischen Errungenschaften und die Einflussmöglichkeiten der Einheitsgewerkschaft "keinen Frieden mit der Marktwirtschaft geschlossen" habe.
Als ehemals politisch Verfolgter sei er "Zeit seines Lebens misstrauisch geblieben", habe immer wieder gemahnt, die "Lehren der Weimarer Republik nie zu vergessen", und sich aus diesem Grund für die "sozialistische Einheit der Arbeiterklasse" eingesetzt.
Im Gegensatz zum heutigen "Virus der Entpolitisierung" in Gesellschaft und Gewerkschaften stehe das zu verteidigende Vermächtnis Otto Brenners für politische Grundsatztreue, Standhaftigkeit und Unbestechlichkeit. "Orientieren der Menschen, nicht irritieren", sei dessen Handlungsmaxime gewesen.
Wenn authentische Zeugen und namhafte ehemalige Funktionäre der IG Metall in einer Debatte derart zielgerichtet das Steuer übernehmen und in der Lage sind, einen Teil sowohl der politisch aktiven Mitgliedschaft als auch des Apparates der Gewerkschaft zu mobilisieren, dann bleibt auch der offiziellen Seite keine andere Wahl, sie muss schleunigst zurückrudern.
Noch auf der gleichen Tagung distanzierten sich IG Metall und Otto-Brenner-Stiftung von ihrer eigenen Schrift, weil sie dem "Anspruch an eine Biografie nicht gerecht" wird, "wissenschaftlichen Anforderungen nicht genügt", eher "einem Zettelkasten ähnelt" und seine Herausgabe mittlerweile als "unerfreulich" und "schädlich" zu betrachten ist.
Dem politischen Menschenverstand drängt sich die Frage auf: "Warum dachte niemand an Pablo Picasso, als die Auftragsarbeit vergeben wurde?" Auch dafür hat Michael Blank, der Geschäftsführer der Otto- Brenner-Stiftung, eine einfache Antwort: "Die verantwortlichen Leute" — und dazu zählt er selbstkritisch auch sich — "haben nicht aufgepasst". Jedenfalls sei der Verkauf der Biografie, die auf ein "überdurchschnittlich großes Interesse" gestoßen sei, weil sie einen "Einblick in das Innenleben der IG Metall" ermögliche, längst gestoppt worden.
Doch das Abbremsen und Zurückrudern allein reichte den früheren Mitarbeitern und Mitkämpfern Otto Brenners nicht aus, sie wollten einen Kurswechsel. Denn die Schrift von Rainer Kalbitz ist mehr als ein Versuch, den ehemaligen IG-Metall-Vorsitzendenzu diskreditieren, sie greift gleichzeitig die Linken in allen DGB-Gewerkschaften an. Das unabsichtliche oder gezielte Vorhaben ist an diesem Punkt (vorerst) kläglich gescheitert. Der IG-Metall-Vorstand und das Kuratorium der Otto-Brenner-Stiftung teilten Hans Preiss und Georg Benz in einem vertraulichen Gespräch am 8.Dezember 2002 mit, sie beabsichtigten einen "neuen Auftrag für eine wissenschaftlich fundierte Biografie" unter aktiver Mitwirkung der Kritiker zu vergeben. Ein kleiner Schritt rückwärts für die neoliberale gewerkschaftseigene Hofpublizistik, aber ein nicht unwichtiger Sieg für die Gewerkschaftslinke.

Horst Gobrecht

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