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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2003, Seite 13

Krise des Neoliberalismus

Sturm über Lateinamerika

Lateinamerika stürzt gerade kopfüber in den Abgrund. Das neoliberale Projekt, das der Region bis ins Detail von transnationalen Eliten und ihren lokalen Gegenparts auferlegt wurde, bricht jetzt zusammen, während die Region im wirtschaftlichen und politischen Tumult versinkt. Die Krisen brechen mit einer Geschwindigkeit aus, die vor einem Jahr noch niemand hätte vorhersagen können.
Die Revolte in Argentinien, Bauernaufstände in Bolivien, fehlgeschlagene Staatsstreiche in Venezuela und Haiti, Straßenunruhen in Paraguay, Uruguay und Peru, der Währungsverfall in Brasilien, ein eskalierender Bürgerkrieg in Kolumbien — das sind die Meldungen des Tages.
Die transnationalen Eliten des IWF und des US-Finanzministeriums hofften, die apokalyptische Krise, die in Argentinien im letzten Dezember ausbrach, auf dieses Land begrenzen zu können. Aber die meisten Beobachter sehen in den Volksaufständen, die zwischen Januar 2001 und Januar 2002 zum Sturz von fünf Regierungen führten, Vorboten für die Region. Ein Jahrzehnt neoliberaler Politik schwächte die argentinische Volkswirtschaft, ließ die Arbeitslosenquote von 3 auf 20% der Bevölkerung hochschnellen und erhöhte die Zahl der in Armut Lebenden von einer auf 14 Millionen Menschen.
Seitdem verbreiten sich sowohl organisierte öffentliche Proteste als auch Gewaltverbrechen in jeden Winkel des Landes, machen einige Regionen unregierbar und führen zu einem nie da gewesenen Machtvakuum. Präsident Eduardo Duhalde bemühte sich verzweifelt, die IWF-Anforderungen für eine neues Sparprogramm als Vorbedingung für neue Notstandskredite zu erfüllen. Er merkte aber schnell, dass seine gelähmte Regierung angesichts der Proteste jeden Augenblick hinweggefegt werden könnte. In den vergangenen Monaten musste er die Schuldenzahlungen einstellen, auf einen neuen Deal mit dem IWF verzichten und die Wahlen auf März verschieben — damit gibt er den Krisenstab an seinen Nachfolger weiter.
Während Argentinien für den völligen Bankrott des IWF-US-Finanzmodells steht, ist die Wahl von Luis Ignácio da Silva (Lula) und der linksgerichteten Arbeiterpartei (PT) in Brasilien wichtig, weil sie das Ende der herrschenden neoliberalen Ordnung, aber auch die Grenzen eines parlamentarisches Wechsels im Zeitalter des globalen Kapitalismus symbolisiert.
Lula wurde als ein einstiger Sozialist und militanter Gewerkschaftsführer in drei vorhergehenden Wahlen die Präsidentschaft verweigert. Diesmal konnte er die Wahl für sich entscheiden — zum einen wegen der zunehmenden Stärke der Bewegung, zum anderen wegen des sozialen und wirtschaftlichen Elends, das die neoliberale Politik der Vorgängerregierung unter Fernando Cardoso hinterlassen hat.
Aber er konnte den Sieg auch deshalb erringen, weil sein Parteiflügel direkt in das politische Zentrum vorgedrungen ist, eine soziale Verbindung zu den Mittelklassewählern aufgebaut hat und sich gegen politische Kräfte der Mitte und sogar des konservativen Lagers durchsetzen konnte. Diese können zwar kein linksgerichtetes Programm gutheißen, wollen aber auch den neoliberalen Niedergang nicht weiter tolerieren. Die PT ist diesen Kräften verpflichtet, von denen zu erwarten ist, dass sie ihren Einfluss nutzen werden, um radikale Initiativen der Regierung im Zaum zu halten. Hinter dem Block der Mitte und den Konservativen steht das transnationale Kapital.
Als Brasilien im August eine erneute Kapitalflucht und einen heftigen Verfall der Landeswährung erlebte, beruhigte Lula die globalen Finanzmärkte. Er versprach, die Schuldenzahlungen nicht einzustellen und gab einem 30- Milliarden-Dollar-Kredit den Segen, der die Regierung verpflichtet, Cardosos Strukturanpassungspolitik fortzuführen.
Auch Paraguay und Uruguay wurden vom argentinischen "Virus" erwischt. Die Entscheidung des US-Finanzministeriums, einen 1,5-Mrd.-Dollar-Überbrückungskredit an Uruguay zu vergeben, dessen Wirtschaft eng mit der Argentiniens verbunden ist, verdeutlicht, wie ängstlich Washington ist. Die USA befüchten, dass das kleine südamerikanische Land, das sich organisierten und zunehmend gewalttätigeren Protesten gegenüber sieht, denselben Weg geht wie sein wesentlich größerer Nachbar.
In Paraguay, wo die wirtschaftliche Krise vor sieben Jahren begann, zeichnet sich noch keine Erholung ab. Zunehmende Proteste des Demokratischen Volkskongresses (CDP) — eine breite Koalition von Gewerkschaften, Landarbeitern, Bauern, Indígenas, linken politischen Organisationen und anderen sozialen Bewegungen — zwang die Regierung um Präsident González Machhi im September letzten Jahres, vom neoliberalen Kurs abzuweichen, einschließlich der Privatisierungen öffentlicher Dienstleistungen und von Versorgungsbetrieben.
Weiter nördlich versinken die fünf Andenstaaten (Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Peru und Venezuela) ebenfalls im Chaos. In Bolivien verlor der radikale indigene Sprecher Evo Morales knapp die letzten, von den USA stark beeinflussten Wahlen. Aber die sozialen und indigenen Bewegungen in Bolivien werden es Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada unmöglich machen, auf dem neoliberalen Pfad weiter zu gehen. Auch in Peru und Ecuador bestimmen der ökonomische Niedergang, zunehmende soziale Unruhen und politische Konflikte sowie machtvolle indigene und Bauernbewegungen das Bild.
Auch wenn Mexiko und Zentralamerika alles andere als gegen Unruhen immun sind, sind Venezuela und Kolumbien derzeit die Länder Lateinamerikas, die die meiste Gewalt erleben.
In Venezuela sieht die Situation etwas anders aus als bei seinen Nachbarn. Präsident Hugo Chávez und seinem linksgerichteten populären Projekt schlägt der Widerstand nicht von den Armen, sondern von der Mittel- und Oberschicht des Landes entgegen — angeführt vom Unternehmerverband Fedecamaras, Armeeoffizieren und traditionellen politischen Bossen und mit Washingtons "feinfühliger" Rückendeckung. Die Situation ähnelt der in Chile unter der Regierung Allende (1970—73). Den ganzen Oktober lang geisterten Gerüchte über einen Generalstreik, Straßenunruhen und neue Verschwörungen durch die Hauptstadt Caracas. Der Putschversuch im April war innerhalb von 72 Stunden beendet worden, aber Gerüchte über einen neuen Putsch haben das Land schnell erneut polarisiert.
In der Andenregion könnte, nachdem Kolumbien unter seinem autoritären Präsidenten Alvaro Uribe bereits eine Ausdehnung des Bürgerkriegs erlebt, ein transnationaler militärischer Konflikt entbrennen, wenn auch Venezuela im Bürgerkrieg versinken sollte — eine Entwicklung, die zunehmend wahrscheinlicher wird.

Hinter den Unruhen

Hinter all diesen Unruhen stecken der Zusammenbruch des neoliberalen Modells und neue Bündnisse zwischen gesellschaftlichen und politischen Kräften in ganz Lateinamerika. In den 80er und 90er Jahren durchlebten die lateinamerikanischen Staaten unter dem neoliberalen Modell eine tiefgreifende "Strukturanpassung" und eine Integration in die Weltwirtschaft.
Aber dieses Modell war nicht in der Lage, die Entwicklungskrise der Region zu lösen. Und die schwachen bürgerlichen Regierungen, die die Macht von früheren Diktaturen übernommen haben, sind immer weniger in der Lage, die sozialen Konflikte und politischen Spannungen, die sich aus den polarisierenden Effekten des neoliberalen Modells ergeben, einzudämmen.
Jede wissenschaftliche Untersuchung hätte den Tumult in dieser Region vorhersehen können. Dennoch beharrten die Funktionäre internationaler Organisationen bis zur Argentinienkrise darauf, dass das neoliberale Modell auf den Weg gebracht sei und eine wirtschaftliche Erholung bringen werde. Sie verwiesen auf den massiven Kapitalzufluss in die Region und das wieder einsetzende Wirtschaftswachstum in den 90er Jahren.
Aber der überwiegende Teil des Zuflusses erfolgte nicht in Form von Direktinvestitionen, die hätten helfen können, die Produktionsbasis auszubauen, sondern in der Variante des "Kasinokapitalismus" in Verbindung mit der globalisierten Wirtschaft: Handel mit Aktien privatisierter Unternehmen, spekulative Investitionen in Finanzdienstleistungen (Pensionsfonds, Versicherungen) und neuen Krediten.
Die Auslandsverschuldung stieg kontinuierlich während der späten 80er und der 90er Jahre von 230 Mrd. US-Dollar (1989), auf 533 Mrd. (1994), auf über 714 Mrd. (1997), 793 Mrd. (1999) und schließlich auf über eine Billion US-Dollar zu Beginn des 21.Jahrhunderts.
Der Schuldendienst für diesen kolossalen Betrag ließ den öffentlichen Sektor zur Ader und verhinderte jegliche dauerhafte Erholung in den 90er Jahren. So machten allein Argentiniens Zinszahlungen im Jahre 1998 35,4% der Exporteinnahmen aus. Für Brasilien beläuft sich der Wert auf 26,7%, für Kolumbien auf 19,7%, für Ecuador auf 21,2%, für Nikaragua auf 19,3%, für Peru auf 23,7% und schließlich für Venezuela auf 15,3%.
Die vorhersehbare Abfolge ist klar: Wenn die Last des Schuldendienstes so hoch ist, dass Zahlungen ausgesetzt werden, und wenn Regierungen nicht länger dem Druck stand halten können, wenigstens minimale soziale Standards für die arme Mehrheit einzuhalten, setzt die Krisenspirale ein. Lokale Eliten sehen sich gefangen zwischen dem drohenden Abzug internationaler Investoren und den zunehmenden Unruhen der armen Mehrheit, die keine weitere Sparpolitik ertragen können.

Wie weiter?

Aber welches Modell kann die bestehende politische Ordnung ersetzen? Eines könnte das brasilianische sein. Dort scheint der Preis für den Wahlsieg und finanzielle Stabilität die Abschwächung eines radikalen Programms zugunsten der unteren Klassen zu sein.
Ein anderes ist Venezuela unter der Regierung Chávez, das eine neue Form von Populismus darstellt — eine Richtung, in die sich auch Argentinien entwickeln könnte und das sich auch andeswo durchsetzen könnte, wenn die verzweifelten Eliten versuchen, wieder Legitimität zu erlangen.
Die Linke ist tief gespalten, durch interne Kämpfe angeschlagen und bestenfalls in der Lage, eine oberflächliche und unvollständige Alternative zum Neoliberalismus zu entwickeln. Aber Basisbewegungen von Lohnabhängigen, Bauern und Armen gewinnen an Bedeutung, und zunehmend organisiert sich Widerstand gesellschaftlicher Kräfte, die sich gegen den Raubzug des globalen Kapitalismus in der Region richten.
Wie sich die Krise des Neoliberalismus lösen lässt, ist keineswegs klar. Aber wir können sicherlich eine neue Runde politischer und militärischer Interventionen der USA in der Region unter dem Deckmantel des "Kampfes gegen den Terror" und gegen den Drogenhandel erwarten.
Die Aufrüstung war bereits Ende des 20.Jahrhunderts mit starker Unterstützung der USA im vollen Gange, angefangen vom 1,3 Mrd. US-Dollar umfassenden Plan Colombia, über den Verkauf von modernen Kampfjets an Chile, die Einrichtung einer US-Militärbasis in Ecuador, umfangreiche Waffenlieferungen, Lieferung von Ausrüstungen zur Aufstandsbekämpfung und Durchführung von "Anti-Terror"-Trainingsprogrammen in Mexiko bis hin zu neuen multilateralen Interventionsmechanismen und einer neuen Runde gemeinsamer Militärübungen und Trainingsprogramme in der gesamten Region.
Die eine oder andere Regierung in der Hemisphäre hat die Landlosenbewegung (MST) in Brasilien, die Zapatistas in Mexiko, die Guerrillabewegung von FARC und ELN in Kolumbien, die FMLN in El Salvador, die Sandinistas in Nikaragua und andere legitime Widerstandsbewegungen als "Terroristen" gebrandmarkt.
Die CIA hat die indigenen Bewegungen, die sich — 510 Jahre nach Beginn der Eroberungen — in der Hemisphäre ausbreiten, als "neue Herausforderung für die innere Sicherheit" eingestuft. Washington konzentriert sich zurzeit auf die entfernteren Länder im Mittleren Osten und Südasien. Aber Kolumbien könnte mit hoher Wahrscheinlichkeit der Ausgangspunkt direkter US-Intervention und eines regionalen Kampfes gegen Aufstände in Südamerika werden.

William I. Robinson

William I. Robinson ist Soziologe an der Santa-Barbara-Universität von Kalifornien und ein Globalisierungs- und Lateinamerikaspezialist.



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