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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2003, Seite 14

Venezuela

Der andere Krieg ums Öl

Die Lektüre der Mainstreampresse verleitet zu der Annahme, dass Venezuelas Präsident Hugo Chávez derart unpopulär wurde, dass sich seine Regierung mit einer Revolte der Werktätigen konfrontiert sieht. Doch im Zentrum der jüngsten Ereignisse in Venezuela steht die Schlacht um die Kontrolle des größten Ölfelds außerhalb des Mittleren Ostens. Auf der einen Seite steht die wohlhabende kapitalistische Elite, die sich seit Jahrzehnten durch Profite aus dem Öl bereichert hat; auf der anderen Seite befinden sich die Regierung Chávez und ihre werktätigen Unterstützer, die darauf hoffen, die Öleinnahmen benutzen zu können, um die Armut zu beseitigen, von der 80% der Bevölkerung betroffen sind. Dies ist die Achse, um die sich eine noch größere Schlacht dreht — die Schlacht darüber, welche Klasse das Land regieren wird.

Die Ölindustrie liefert 50% der Einnahmen der Regierung und macht ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus. Venezuela ist der fünftgrößte Ölproduzent der Welt und der drittgrößte Mineralöllieferant der USA.
Die Ölproduktion wurde 1974 verstaatlicht, aber die neue staatliche Ölgesellschaft Petroleos de Venezuela (PDVSA) wurde von denselben Managern geführt, die sie schon an der Spitze standen, als sie noch in privater Hand war. Wenngleich nominell verstaatlicht wird PDVSA wie eine private Gesellschaft außerhalb der Kontrolle der Regierung verwaltet und belässt die Ölprofite in den Händen nicht rechenschaftspflichtiger Vorstandsmitglieder.
Der Diebstahl von Öleinnahmen durch diese Clique hat in den vergangenen 30 Jahren drastisch zugenommen. 1974 gingen 80% der PDVSA-Einnahmen an die Regierung, während das Unternehmen 20% für die Betriebskosten einbehielt. Zur Zeit der Wahl Chávez‘ zum Präsidenten Venezuelas 1998 wurden nur 20% der PDVSA-Einnahmen an die Regierung abgeführt, der Rest angeblich für "Betriebskosten" verwandt, in Wirklichkeit jedoch auf die geheimen Bankkonten und in private Investitionen der Familien der Spitzenmanager der Gesellschaft geleitet.
Die Chávez-Regierung machte den Plänen des PDVSA-Managements für eine vollständige Privatisierung der Gesellschaft ein Ende und führte ein Gesetz ein, das verlangt, dass alle PDVSA-Einnahmen unter die Kontrolle der Regierung gestellt werden.
Dies hilft zu erklären, warum Venezuelas großkapitalistische Familien so verzweifelt versuchen, Chávez los zu werden. Diese Familien werden auch von der US-Regierung unterstützt, die die Profite der US- Ölgesellschaften schützen will.
Was jedoch in vieler Hinsicht die venezuelanischen Kapitalisten und ihre US- Hintermänner am meisten erschreckt, ist die massive Radikalisierung der Lohnabhängigen und der Bauern, die von der Chávez-Regierung ermutigt wurde. Die proletarische Mehrheit, überwiegend schwarzer oder indigener Abkunft, will nicht länger von einer wohlhabenden Elite regiert werden, die in unterschiedlicher Weise das politische Leben des Landes seit der spanischen Eroberung beherrscht hat.
Trotz der Kontrolle über die privaten Medien hat die Unterstützung für die Elite unter der Bevölkerung seit dem gescheiterten Militärputsch im April nachgelassen, während die werktätige Bevölkerung sich weiter radikalisiert und organisiert.
Ein Problem für die Elite besteht darin, dass sie ihre antidemokratische politische Tagesordnung während des Putschversuchs enthüllte, als sie die Verfassung, den Obersten Gerichtshof und den Kongress abschaffte. Hat ein Wolf erst einmal seinen Schafspelz abgelegt und seine Klauen entblößt, wird es für ihn schwierig, wieder die Illusion zu erzeugen, er sei ein Schaf.

"Generalstreiks"

Am 2.Dezember versuchte die reiche Elite ihren vierten "Generalstreik" in weniger als zwölf Monaten zu organisieren — faktisch eine Aussperrung durch die Bosse. Doch die meisten Arbeiterorganisationen verkündeten im Voraus, dass sie sich daran nicht beteiligen würden. Sogar die Kapitalistenklasse war sich nicht einig: zwei regionale Verbände der größten Unternehmervereinigung, Fedecamaras, wandten sich öffentlich gegen den "Streik".
Zu den an diesem Versuch, Venezuelas Ökonomie zu sabotieren, beteiligten Unternehmen gehören McDonald‘s, Wendy‘s, Pepsi-Cola und British Petroleum. Die Arbeiter in einer Pepsi-Fabrik antworteten auf den Versuch des Managements, sie auszusperren, mit einer Betriebsbesetzung.
Mit ihrem "Streik" forderten die Bosse Chávez‘ sofortigen Rücktritt und vorgezogene Wahlen. Regierungsanhänger sehen das wirkliche Ziel in der Schaffung einer Krise, die die Grundlage für einen neuen Putschversuch legen soll.
Bei einer gewaltsamen Neuauflage der Ereignisse vom April eröffnete am 6.Dezember ein Heckenschütze das Feuer auf Anhänger der Opposition und tötete 3 und verwundete 20 Personen. Die Führer der Opposition machten prompt die Regierung dafür verantwortlich. Als Schütze wurde ein Portugiese verhaftet, der zugab, dass ihm über 30000 US-Dollar von einer zentralen Figur der Opposition gezahlt worden seien.
Angesichts des Scheiterns ihres "Streiks" und der bislang fehlenden offenen Unterstützung von Teilen der Armee gingen die großen Kapitalisten dazu über, ihren größten Trumpf auszuspielen. Etwa 10000 Manager, Verwaltungsfachleute und privilegierte Techniker von PDVSA traten in den Streik und machten die Ölindustrie dicht.
Die Revolte der PDVSA-Techniker und -manager wurde von einer Reihe von Öltankerkapitänen unterstützt, die sich weigerten ihre Schiffe zu bewegen. Die meisten der 30000 Ölarbeiter wandten sich gegen den Ausstand, doch ist die Ölindustrie in hohem Maße computerisiert.
Die drastische Entscheidung, die Sabotage auf die Ölindustrie auszuweiten, enthüllt die Schwäche der Opposition. Aber die Auswirkungen sind drastisch und bedrohen die Regierung mit dem Bankrott. Die Regierung hat davor gewarnt, dass sie sich möglicherweise verschuldet, und hat Haushaltskürzungen in Aussicht gestellt. Unfähig, die Schlacht um die öffentliche Meinung zu gewinnen, geht die Elite zu wirtschaftlicher Erpressung über.
Wenn die Eliten diese Schlacht verlieren und die Regierung die Kontrolle über die Industrie wiedererlangt, was jedoch wahrscheinlich nicht so schnell und so leicht geschehen wird, wird die Regierung eine Rechtfertigung dafür haben, die Ölindustrie zu säubern und ein für allemal unter staatliche Kontrolle zu bringen. Chávez hat erklärt, dass jeder, der sich zu arbeiten weigert, entlassen wird, und bereits den Rausschmiss einiger Topmanager öffentlich angekündigt.

Internationale Solidarität

Brasilien hat der Regierung im Austausch gegen künftige Lieferungen von Rohöl mit 520000 Barrel Benzin ausgeholfen, um Engpässe zu überwinden. Venezuela hat mit anderen Ländern ähnliche Vereinbarungen abgeschlossen. Brasilien wird auch eine Anzahl von Spezialisten als Ersatz für die Streikenden schicken.
Als Akt der Solidarität haben Gewerkschaften der Ölarbeiter Kolumbiens und Ecuadors der venezolanischen Regierung ihre Hilfe angeboten, die Aussperrungen zu durchbrechen. Der kolumbianische Verband USO (15000 Mitglieder) erklärte: "In Kolumbien gibt es eine Menge Sympathie für die Bolivarische Revolution."
Das ermutigendste Resultat der Generalaussperrung war der Anblick von Millionen venezolanischer Lohnabhängiger und Bauern, die auf die Straße gegangen sind, um Chávez zu unterstützen. Am 7.Dezember kamen in Caracas 2 Millionen Anhänger zu einer Demonstration der Stärke zusammen. Als Antwort auf die ständigen Lügen der privaten Medien mobilisierten die Armen am 10.Dezember zu einer Belagerung der Fernsehstationen. Die Armen umzingelten auch den Flughafen, um Oppositionsführer an der Flucht zu hindern.
Als klar wurde, dass die Werktätigen die Schlacht auf den Straßen gewonnen hatten, traten die Mittel- und Oberschichtanhänger der Opposition den Rückzug an.
Berichte von Augenzeugen deuten an, dass die Stimmung der Massen zutiefst revolutionär ist. Sie sind nicht mehr bereit, die alten Gleise zu akzeptieren und richten zunehmend radikalere Forderungen an eine Regierung, die sie als die ihre betrachten. Al Giordano vom Narco News Bulletin berichtete, dass die Volksorganisationen Briefe an die Regierung sandten, worin sie forderten, die privaten Medien dicht zu machen. Als die Regierung nicht handelte, strömten sie auf die Straße.
Während Chávez die Organisierung ermutigte und vielfach dabei half, seine Anhänger zu mobilisieren, hält er jedoch dem Druck, solche Maßnahmen zu ergreifen, stand. Marta Harnecker, eine linke chilenische Autorin, die vor kurzem Chávez interviewt hat, erklärte, dass Chávez "einen Aufstand führen" könnte, wenn er dies wollte. Sie äußerte jedoch, dass er sich bewusst dafür entschieden hätte, bislang nicht gegen die Verfassung zu verstoßen. Auf diese Weise zwänge er seine Opponenten, die Regeln der Verfassung zu brechen, und erschwert es der US-Regierung, offen zu intervenieren.
Doch der Zeitpunkt für entscheidende Schläge gegen die Opposition kann nicht unbegrenzt hinausgezögert werden. An jedem neuen Tag stellt sich die Frage, wer die politische Macht erringen wird — die Armen oder die Reichen —, in verschärfter Weise.

Stuart Munckton

Aus: Green Left Weekly (Sydney), Nr.521, 15.1.2001.


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