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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Februar 2003, Seite 18

PDS-Linke

Plädoyer für einen ‘Geraer Dialog‘

Das folgende, hier leicht gekürzte Dokument wurde von 126 Mitgliedern und Sympathisanten der PDS unterzeichnet, die sich gegen die Entwicklung zu einer zweiten sozialdemokratischen Partei wenden. Zu den Unterzeichnenden gehören u.a. 112 PDS-Mitglieder, 18 Delegierte des Geraer Parteitags und 15 PDS-Mandatsträger.

Die unterzeichnenden PDS- und solid-Mitglieder und die unterzeichnenden Freundinnen und Freunde in Solidarität mit der PDS sehen auch nach dem Parteitag von Gera die PDS in einer schweren Krise. Während Rekordwerte der Massenerwerbslosigkeit verzeichnet werden, während ein neuer Krieg droht, während Millionen Menschen, die SPD und Grüne gewählt haben, sich enttäuscht von diesen Parteien abwenden, ist die PDS primär von lähmenden internen Machtkämpfen und Erpressungsversuchen geprägt.
Darüber hinaus wird in einigen östlichen Bundesländern so getan, als habe es in Gera nicht eine kritische Bilanz des Tolerierens und Koalierens bei Verlust des sozialistischen Profils gegeben. Überall dort, wo sich die PDS in der Praxis (Schwerin und Berlin) oder bei der Orientierung auf eine zukünftige Teilhabe an Landesregierungen als profilloser Partner der SPD präsentiert, ist zu erwarten, dass sie im Rahmen der wachsenden Unzufriedenheit mit der SPD noch mehr an Ansehen und Wahlunterstützung verliert.
Eine zweite sozialdemokratische Partei in unserem Land ist überflüssig. Die 1,9 Millionen Menschen, die am 22.9.2002 PDS gewählt haben, erwarten von der PDS eine konsequente Politik gegen neoliberale Angriffe und gegen Kriege. Die große Mehrheit der PDS-Mitglieder erwartet von der PDS eine authentische, sozialistische Politik. Es ist höchste Zeit für ein breites Bündnis all derjenigen in der PDS, die bereit sind, den sozialistischen Charakter unserer Partei zu verteidigen und den in Gera beschlossenen sozialistischen Neuanfang zu verwirklichen.

Einschnitt 22.9.2002

Die Bundestagswahl vom 22. September 2002 stellt einen tiefen Einschnitt dar. Die Wahlniederlage der PDS war einerseits Resultat unterschiedlicher Faktoren wie der Konfrontation Stoiber-Schröder und der Hoffnungen, SPD und Grüne würden sich gegen einen Krieg im Irak stellen. Sie war jedoch auch Ergebnis einer Anpassungspolitik.
Zum ersten Mal seit 1990 ist die PDS im Bundestag nicht mehr als Gruppe oder Fraktion präsent. Die Wiederwahl von Schröder und die Stärkung von CDU/CSU bedeuten zugleich, dass der antisoziale Kurs und die Militarisierung verschärft und die Bundesrepublik im drohenden Irak-Krieg erneut Kriegspartei ist. Für die PDS ist diese Zäsur umso größer, als es der alte PDS-Bundesvorstand versäumt hat, bei der öffentlichen Wahrnehmbarkeit der PDS neue Wege der gesellschaftlichen Wirksamkeit zu gehen, wie dies beispielsweise der gesellschaftlichen Bewegung der Globalisierungskritiker gelungen ist.
Hinsichtlich des Eigenanteils an der Wahlniederlage sehen wir den entscheidenden Grund darin, dass das sozialistische Profil der PDS in erheblichem Maß abgeflacht und die PDS in der Wählerschaft zunehmend als eine Partei begriffen wurde, die von der SPD kaum zu unterscheiden war.
Mit der Politik der Anpassung wurde der Beschluss des PDS-Parteitags in Rostock, wonach die PDS "als oppositionelle Partei gegenüber der jetzigen Politik … in den Bundestagswahlkampf und in die neue Legislaturperiode" geht, missachtet. Im Rahmen dieses Anpassungskurses sollte laut Gabi Zimmer sogar unsere Antikriegsposition in Frage gestellt werden: "Im Januar [2002] sollte uns ein drohender Stoiber-Schröder-Wahlkampf zum Einschwenken auf die Option Regierungsbeteiligung veranlassen. Dafür hätten wir sogar von den außen- und sicherheitspolitischen Positionen der PDS abrücken sollen." (Rede G.Zimmers in Gera.)
Die Wahlergebnisse unterstreichen: Die PDS wurde in erster Linie wegen dieses Anpassungskurses abgestraft. Deutlich überproportionale Wahlverluste gab es überall dort, wo die PDS ohne Profil mitregierte (z.B. in Mecklenburg-Vorpommern mit —7,3 Prozentpunkten) oder wo bewährte Kader des Anpassungskurses kandidierten (D.Bartsch in Schwerin- Ludwigslust: —10 Prozentpunkte).
Der Geraer Parteitag eröffnete die Chance für einen sozialistischen Neuanfang — durch eine ungeschminkte Bilanz des Wahldesasters und durch eine personelle Erneuerung des Parteivorstands.
In Gera standen sich klare Alternativen gegenüber. Auf der einen Seite gab es die Position des "Weiter so!", was auch mit den Personen, die zuvor im Wesentlichen an der Spitze des Parteiapparats gestanden hatten, unterstrichen wurde. Auf der anderen Seite formulierte Gabi Zimmer eine weitreichende Kritik am Kurs der Anpassung: "Es geht um den Unterschied: Wollen wir die PDS als sozialistische Partei oder als zweite sozialdemokratische Partei profilieren?" Die Parteivorsitzende legte offen, dass es im Wahlkampf einen "Machtkampf" gegeben hat, mit dem die Umsetzung der Rostocker Beschlüsse hintertrieben wurde.
Der Parteitag beschloss mit gut zwei Drittel der Delegiertenstimmen einen Leitantrag mit einer weitreichenden Kritik an der Anpassungspolitik. So heißt es dort: Es ist "für viele Menschen nicht nachvollziehbar, dass in Berlin Steuergelder in Milliardenhöhe an vermögende Zeichner von Immobilienfonds fließen, während die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst auf wohlerworbene Ansprüche verzichten sollen, während im Sozialbereich … gespart wird, ‚bis es quietscht‘".
Auf dieser Grundlage wurde in Gera ein neuer Parteivorstand gewählt. Ein großer Teil derjenigen, die bisher maßgeblich im Apparat von Partei und Fraktion waren, trat erst gar nicht zur Wiederwahl an (so der ehemalige Bundesgeschäftsführer) bzw. einzelne Kandidierende aus diesem Kreis fanden bei den Delegierten nicht die erforderliche Unterstützung (z.B. R.Claus mit 24% und M.Nelken mit 30,7%).
Damit wurde in Gera die Voraussetzung für einen personellen und inhaltlichen Neuanfang geschaffen.

Neue Gefahren

Nach dem Parteitag von Gera wird seitens des neuen Parteivorstands die Chance für einen sozialistischen Neuanfang nicht wahrgenommen. Die erneute Stärkung der abgewählten Parteirechten bedroht die PDS existenziell.
In Berlin beschloss die SPD-PDS-Koalition, aus dem Arbeitgeberverband auszutreten, den Flächentarifvertrag im öffentlichen Dienst aufzuheben und in diesem Sinn im Bundesrat initiativ zu werden. Damit spielt der Berliner SPD-PDS- Senat eine Vorreiterrolle beim Versuch, bundesweit das Lohn- und Gehaltsniveau zu senken.
Es gibt bisher kaum nach außen gerichtete, größere PDS-Initiativen. Das Engagement der PDS in der Antikriegsbewegung ist unzureichend. Das angekündigte offensive Vorgehen gegen die Hartz-Vorschläge findet bislang nicht statt; eher wirkt die PDS z.B. in Schwerin als Moderatorin bei der Umsetzung dieser unsozialen Konzeption. Eine Mitarbeit der PDS im Berliner Anti- Hartz-Bündnis und in der Initiative zum Bankenskandal findet so gut wie nicht statt.
Diejenigen, die für den Kurs der Anpassung und für die Wahlniederlage verantwortlich zeichnen, wollen die Beschlüsse von Gera durch öffentlichen Druck zunichte machen. So erklärte Gregor Gysi, die Niederlage bei der Bundestagswahl wäre für die PDS "reparabel und verkraftbar, ihr Geraer Parteitag wohl kaum". Ausgerechnet in einer Situation, in der ein beschleunigter Sozialabbau praktiziert und ein neuer Krieg vorbereitet wird, beschäftigt sich die gewählte Führung der PDS primär mit einem innerparteilichen Kleinkrieg. Damit besteht die Gefahr, dass die PDS von der notwendigen Neuorientierung abgehalten wird. Die Parteivorsitzende gibt dabei — ähnlich wie im 2002er Wahlkampf — offensichtlich erneut denjenigen Kräften nach, die für den Kurs der Anpassung und für den Weg der PDS ins politische Aus stehen.

Was tun?

Die Beschlüsse von Gera müssen umgesetzt und mit Leben erfüllt werden. Offensichtlich ist dies nur möglich, wenn dafür eine breite innerparteiliche Unterstützung organisiert und somit die neuerliche Dynamik der Anpassung an rechts gestoppt wird. Hierzu werden sechs Konkretisierungen vorgeschlagen.
1. Notwendig ist die Stärkung der innerparteilichen Demokratie: Beschlüsse des Parteitags und Beschlüsse der gewählten Organe — so diejenigen des Parteivorstands — sind verbindlich und müssen umgesetzt werden. Der Parteirat, der die Einhaltung dieser Beschlussfassungen kontrollieren und dem Parteivorstand beratend zur Seite stehen soll, muss in seiner Funktion gegebenenfalls statuarisch gestärkt werden. Er wurde in der "Wachbuchaffäre" erneut ignoriert, wie dies zuvor bereits mehrfach geschehen ist (z.B. als der Parteirat im Jahr 2001 verlangte, alle Programmentwürfe gleichberechtigt zu veröffentlichen).
2. Die Fortsetzung der PDS-Regierungsbeteiligungen ohne erkennbare neue Profilierung im Sinne sozialistischer Politik (in Schwerin) und bei einer Verschärfung der Teilhabe an neoliberaler Politik (in Berlin) muss zum Thema der gesamten PDS werden. Von den negativen Folgen dieser Politik ist die PDS als Ganzes betroffen. Die in diesen Bundesländern verfolgte PDS-Politik widerspricht der Aussage Gabi Zimmers auf dem Geraer Parteitag, wonach wir eine "andere Art des Mitregierens als Teil des Widerstands gegen die Höllenmaschine des Neoliberalismus" zu realisieren hätten. Sinnvoll könnte hier eine breit angelegte und vom Bundesvorstand der PDS moderierte bundesweite Arbeitskonferenz sein, auf der eine Bilanz der bisherigen Politik des Mitregierens und Tolerierens der PDS gezogen und — unter Einschluss von einzuladenden gewerkschaftlicher Kräfte und von Erwerbsloseninitiativen — Alternativen diskutieren werden.
3. Das politische und programmatische Profil der PDS muss gestärkt und konkretisiert werden! Für uns lautet ein entscheidendes Kriterium für die Brauchbarkeit eines neuen Programmentwurfs: Dieser muss einerseits unsere prinzipiellen Positionen, insbesondere auch in der Antikriegsfrage, wiedergeben. Er muss andererseits so gefasst sein, dass sich alle in der PDS vertretenen, relevanten Strömungen mit der generellen Linie dieses neuen Programms identifizieren können. Dazu gehört auch die Legitimität der Vertretung marxistischer Grundsätze. Strikt abzulehnen ist eine Art der Programmdebatte, die auf eine Ausgrenzung linker Strömungen abzielt.
4. Die PDS muss verstärkt die sich erweiternde soziale Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland thematisieren. Die doppelte soziale Spaltung in unserem Land — zwischen "oben und unten" und zwischen Ost und West — ist Grundlage der breit angelegten Entsolidarisierung, der permanenten Absenkung der Sozialstandards und der Brutalisierung der Gesellschaft. Sinnvoll wären Projekte der PDS bzw. der uns nahe stehenden Stiftung, mit denen die Entwicklung dieser Kluft kontinuierlich dokumentiert wird und Vorschläge unterbreitet werden, wie dieser zu begegnen sei (eine Art "Rotbuch der sozialen deutschen Spaltung").
5. Erforderlich ist, unsere Arbeit nach aussen und in den gesellschaftlichen Bewegungen zu stärken: Die bereits ergriffene Initiative zum Thema "Wiedereinführung der Vermögensteuer" ist gut, aber unzureichend: Indem ein beschränkter SPD- Vorschlag aufgegriffen wurde, hängt diese Initiative in der Luft, nachdem die SPD dazu ihre "eigene Lösung" fand. Wir sollten feststellen: Das gesamte Steuersystem ist auf Umverteilung ausgelegt — siehe die weit größeren Ausfälle bei der Körperschafts- und Einkommensteuer! Denkbar wäre, das Thema der "unsozialen Republik" umfassend ins Zentrum eines neuen Betriebs- und Gewerkschaftskongresses zu rücken. Dieser sollte von vornherein in Zusammenarbeit mit Kräften aus der Erwerbslosenbewegung und aus den Gewerkschaften organisiert werden. Ein zweiter Schwerpunkt unserer Arbeit nach außen ist das verstärkte Engagement gegen den Krieg.
6. Die PDS muss sich der Diskussion mit anderen Strömungen öffnen! Spätestens der Rückschlag am 22.9.2002 hat verdeutlicht, dass es kein lineares Wachstum der PDS bis hin zum Erreichen einer Mehrheit in der Gesellschaft geben wird. Die PDS muss ihre Vorstellungen von der Antwort auf den neoliberalen Angriff und der Perspektiven für eine neue, sozialistische Gesellschaft in eine breite gesellschaftliche und internationale Debatte einbringen. Eine erste Möglichkeit dafür bietet sich mit der PDS-Programmdebatte an, zu der bewusst andere sozialistischen Strömungen eingeladen werden sollten. Hier wäre die Organisation einer entsprechenden Arbeits- und Diskussionskonferenz sinnvoll. Insbesondere muss sich die PDS in die Debatten der globalisierungskritischen Bewegungen mit Kompetenz und ohne jedes Parteisektierertum einbringen. Der vielfache verbale Bezug auf junge Menschen macht nur Sinn, wenn wir uns als Teil dieser neuen Debatten verstehen, um auch selbst von diesen Bewegungen zu lernen.
Viele von uns haben vor Ort die Erfahrung gemacht, dass die Ergebnisse des Parteitags von Gera überwiegend positiv aufgenommen wurden. Die beschriebenen innerparteilichen Vorgänge nach dem Parteitag rufen jedoch erneut Agonie und Ablehnung hervor.
Wir mahnen die in der PDS Verantwortlichen, sich den in Gera demokratisch herbeigeführten Beschlüssen verpflichtet zu sehen, in deren Geist politisch aktiv zu werden und jeden erpresserischen Druck zurückzuweisen.
Wir mussten in den Wochen nach Gera die Lehre ziehen, dass es für die Realisierung der Geraer Beschlüsse erforderlich ist, innerparteilich aktiv zu werden. Wir fordern alle Kräfte in PDS und solid, die eine vergleichbare Bilanz ziehen, dazu auf, gemeinsam in diesem Sinn aktiv zu werden.

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