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SoZ: Während in Meinungsumfragen noch immer die Mehrheit der israelischen Bevölkerung einen Frieden mit den
Palästinensern und die Bildung eines autonomen palästinensischen Staates unterstützt, hat gerade jener rechte Block von national-
konservativem Likud, ultraorthodoxer Shas-Partei und Siedlerparteien eine klare Mehrheit errungen, der in den letzten Jahren erheblich zur Destabilisierung und
Eskalation der Gewalt beigetragen hat. Wie kann man diesen Widerspruch verstehen?
Moshe Zuckermann: Man muss unterscheiden zwischen proklamierter Ideologie, zwischen einer zuweilen auch vorbewussten oder unbewussten
Motivation und realer Tathandlung. Man kann sehr wohl proklamieren, dass man Frieden will. Wenn es aber in der Tathandlung dazu kommen soll, dass man
den Preis realiter zu zahlen hat, erweist sich, dass dem nicht unbedingt so ist.
In dieser Hinsicht meine ich, dass 6070% der israelischen Bürger Frieden
wollen oder es gar zu einem Palästinenserstaat kommen lassen wollen. Sie meinen dies auch abstrakt, nehmen allerdings nicht in Kauf und haben sich nie
wirklich Rechenschaft darüber abgelegt, was dies historisch realiter zu bedeuten hat. Denn wenn es zu dem käme, was mit dem Frieden einher gehen
müsste, also die Räumung der besetzten Gebiete, der Abbau der Siedlungen und andere Momente, würden die Umfragen ganz anders
aussehen, als sie es gegenwärtig tun.
SoZ: In vielen Beiträgen auch in Deutschland haben Sie immer wieder betont, dass Israel am Scheideweg steht, vor einer Weggabelung
historisches Ausmaßes. Können Sie das erläutern?
Moshe Zuckermann: Wenn man den Frieden ernst nimmt, muss man dort ansetzen, wo die Gespräche in Camp David und Taba, die
Gespräche zwischen Barak und Arafat zusammengebrochen sind. Dort hat sich herausgestellt, dass es zukünftig schlechterdings keinen Frieden gibt,
wenn nicht vier zentrale Punkte ausgehandelt und implementiert werden: die Räumung nahezu aller besetzten Gebiete der Westbank und des Gaza-
Streifens; der Abbau nahezu aller Siedlungen; die Lösung der Jerusalemfrage im Sinne der Zweistaatlichkeit sowie die zumindest symbolische
Anerkennung des Rückkehrrechts der Palästinenser ins Kernland Israels, d.h. die politische Anerkennung des historisch begangenen Unrechts
ohne dass dies bedeutet, dass nun eine halbe Million oder eine Million Palästinenser in dieses historische Kernland zurückkommen. Ohne
diese vier Punkte ist Frieden schlechterdings nicht zu haben.
Israel steht, diese These habe ich in der Tat schon mehrfach geäußert, vor einer
historischen Weggabelung, einem Scheideweg, bei dem auf der einen Seite die Gebiete zurückgegeben werden müssten. Nun wissen wir, dass es im
Falle einer Räumung eine Infrastruktur in der Westbank gibt, die heute 220000 Siedler umfasst. Milliarden von Dollar sind über die Jahre in die
Infrastruktur dieser Siedlungen investiert worden, vor allem betrieben und abgesegnet von Sharon.
Wenn diese Gebiete zurückgegeben werden sollten, könnte es dazu kommen,
dass von diesen 220000 Siedlern ein bestimmter Anteil ob es nun 1000, 2000 oder 5000 sind, spielt dabei eine eher untergeordnete Rolle sich
verbarrikadieren und sich aus religiösen Gründen ("Land der Urväter") weigern würden, sich aus den Gebieten
zurückzuziehen. Sollte dies passieren, müsste das staatliche Machtmonopol gegen diese Leute angewendet werden. Es könnte dann zu
Schießereien zwischen der Staatsgewalt und diesen stark bewaffneten Siedlern kommen, die als Hardliner zutiefst davon überzeugt sind, dass es
einem Gottessakrileg gleich käme, wenn sie bspw. Hebron verlassen müssten.
Ein solches Szenario käme einer Spaltung der israelischen Bevölkerung gleich,
einer Katastrophenvorstellung von bürgerkriegsähnlichen Situationen. Es muss dabei nicht unbedingt zum Bürgerkrieg kommen, aber im
Vorbewusstsein eines jeden zionistischen Israeli steckt heute diese Vorstellung, dass es bei Räumung der Gebiete zu einem Bürgerkrieg kommen
könnte.
Gehen wir auf der anderen Seite davon aus, dass die Gebiete nicht zurückgegeben
werden. In diesem Fall gibt es drei idealtypische Versionen. Die eine wird von dem israelischen Beobachter Meron Benvenisti schon seit nahezu 15 Jahren
vertreten und besagt, dass die Infrastruktur und der Siedleranteil so verfestigt, eingewurzelt, und auch politisch breit getragen sind, dass wir es bereits mit einer
irreversiblen Situation, mit einer binationalen Struktur zu tun haben. Bei der zweiten idealtypischen Variante müssen die Palästinenser nieder
gekämpft werden und auf dem Zahnfleisch angekrochen kommen. Die Okkupation, so diese Position, müsse weiter getrieben werden und sei es mit
anhaltender Gewalt. Die palästinensische Gegengewalt in Form des Terrors müsse dabei in Kauf genommen werden.
"In aller Ewigkeit sich auf das Schwert stützen" ist zum aus den Heiligen
Schriften entlehnten Slogan vieler geworden. Die dritte, in Israel selten bezogene, aber in Form der demografischen Gefahr mutatis mutandis mit diskutierte
Variante, ist die von palästinensischer Seite zuweilen zu hörende. Diese Palästinenser sagen: Wir sind nicht fähig, die Israelis
militärisch zu bekämpfen, da sie eine unbesiegbare Übermacht sind. Wir können also nichts mit Gewalt ausrichten, aber die Zeit arbeitet
zu unseren Gunsten, denn wenn die Israelis die Okkupation weiter betreiben, werden sie aus demografischen Gründen allmählich zu einer
Minderheit. Man solle diesen Prozess deswegen laufen lassen, aber verlangen, dass man volle Bürgerrechte erhalte.
Alle aufgezählten Szenarien sind für den Israeli eine Wahl zwischen Pest und
Cholera, zwischen Binationalismus und Bürgerkrieg, eine Wahl, die im Grunde zu einer binationalen Struktur und zu einer Erosion im zionistischen
Selbstverständnis führen würde, zum Ende des historischen zionistischen Projekts, zu einer Erschütterung der raison dętre des
jüdischen Staates. Vor diesem Hintergrund ist der Zustand der Paralyse, der Stagnation, das Sich-nicht-entscheiden-Müssen der Zustand, den viele
Israelis als den momentan günstigsten ansehen.
So erkläre ich mir übrigens auch die niedrige Wahlbeteiligung und die Tatsache,
dass es einen solch gewaltigen Rechtsruck gegeben hat. Die Proportionen haben sich in Israel total verkehrt.
SoZ: Sie haben die niedrige Wahlbeteiligung bereits angesprochen. Auch die ultraorthodoxe Shas-Partei hat sehr deutlich verloren,
während die explizit antireligiöse Shinui-Partei explizit hinzu gewonnen hat. Sind dies Zeichen jener Erosion des zionistischen
Selbstverständnis, von dem Sie sprachen?
Moshe Zuckermann: Ich glaube, dass dies besondere Faktoren sind. Die Shas-Partei hat verloren, nicht weil man weniger religiös ist,
sondern wegen innerparteilicher Auseinandersetzungen. Der ehemalige politische Führer der Partei hatte viele Anhänger, aber in dem Moment, als
er vom geistigen Führer ausgebootet wurde, gab es viele Enttäuschungen. Gemessen an den prognostizierten Wahlverlusten steht die Shas-Partei gar
nicht so schlecht da.
Auch bei der Shinui-Partei muss man die Sache differenziert sehen. Die Shinui-Partei hat den
Wahlkampf mit zwei herausragenden Themen geführt. Zum einen mit einer hasserfüllten Kampagne gegen die Religiösen und die Orthodoxie,
die sich weniger aus der Säkularität speist als vielmehr aus dem antireligiösen Ressentiment. Diese Hasskampagne hat mich gelegentlich an
antisemitische Parolen erinnert. Unterbelichtet ist außerdem geblieben, dass sich die Shinui-Partei als eine bürgerliche Mittelstandspartei versteht.
Wir haben es hier mit einem Aufstand der Mittelschichten zu tun, die sich plötzlich selbst als Ausgebeutete sehen. Im Zuge der Wirtschaftskrise ist es in
der Tat zu einer Art Deklassierung des unteren Mittelstands gekommen. Diesen Zustand hat sich Tommy Lapid, der Führer von Shinui, aggressiv zu Nutze
gemacht.
Doch mit Hass gegen die Religiösen kann man vielleicht eine Wahlkampagne machen,
aber keine längerfristige Politik. Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, dass sich Israel eine antireligiöse Politik oder eine antireligiöse
politische Landschaft erlauben wird. Damit würde man einen Großteil der Bevölkerung einfach ausgrenzen. Ich glaube kaum, dass die Shinui-
Partei wesentliches zur israelischen Politik, schon gar nicht zur Außenpolitik, beizutragen hat.
SoZ: Mit Amram Mitzna schien es, dass die sozialdemokratische Arbeitspartei eine Wende nach links vollzogen hat. Warum haben die
Wähler diesen Schritt nicht belohnt?
Moshe Zuckermann: Weil es keine Wende war. Es war im Grunde der Versuch, ein Pflaster auf ein riesiges Geschwür zu kleben
wenn ich diese Metapher mal benutzen darf. Die Arbeitspartei ist historisch tot. Es ist keine sozialdemokratische Partei mehr, keine Partei mehr, die soziale
Belange zum Topos ihrer Parteipolitik macht.
Sie hat sich ihres ideologischen wie auch institutionellen Erbteils entledigt. Sie hat ja mehr als
jede andere Partei die Gewerkschaften demontiert und bspw. die Gesundheitspolitik zum Nachteil der Massen gestaltet. Sie kann auch nichts mehr mit ihrer
eigenen Kibbuz-Bewegung anfangen. Sie ist längst schon zu einer bürgerlichen Massenpartei geworden, bei der sich für die meisten Israelis
die Frage stellt, warum man sie überhaupt noch wählen soll, wenn man die Likud-Partei hat.
Für die orientalischen Juden ist die Arbeitspartei unlöslich mit der
Diskriminierung verbunden, denen sie seit den 50er Jahren unterworfen sind. Für diese Leute ist die Arbeitspartei eine instutiona non grata.
Der Versuch, mit Mitzna in letzter Sekunde noch das Blatt zu wenden, war in meinen Augen
von vornherein ein tot geborenes Kind. Mitzna hat es auch nicht geschafft, seine eigenen Leute zu fördern. Und es bleibt deswegen abzuwarten, ob er sich
selbst in der eigenen Partei durchzusetzen vermag und ob die Arbeitspartei nicht doch in die große Koalition mit Likud einsteigen wird. Das wäre
allerdings endgültig ihr Ende.
SoZ: Sie sagen, dass es die politische Identität des Zionismus ist, die ein wesentliches Problem des gesamten Konfliktes ausmacht. Auf
der anderen Seite könne es keine israelische Politik jenseits der Religion geben. Das hieße, dass keine Lösung des Problems in Sicht ist. Wie
ließe sich ein nichtzionistisches Israel perspektivisch denken?
Moshe Zuckermann: Das Problem liegt darin, das hat der palästinensische Knesset-Abgeordnete Azmi Bishara verdeutlicht, dass es,
solange der israelische Staat sich als Judenstaat versteht, der Religion als Bürgerkriterium bedarf. Dies ist einer der großen Widersprüche des
Zionismus: dass er sich als modernen Nationalstaat errichten wollte, aber den auf die Französische Revolution zurückgehenden universellen
Bürgerbegriff durch den auf das Judentum sich gründenden ethnischen Bürgerbegriff ersetzt hat. Von vornherein war die jüdische
Zugehörigkeit ein Kriterium des israelischen Bürgerbegriffs.
Wenn man Jude sein muss, um Staatsbürger zu sein; wenn die nichtjüdischen
Bürger Israels zwar formell Staatsbürger, nicht jedoch realiter sind, sondern unterprivilegiert und diskriminiert; wenn sie zwar eine politische
Vertretung haben, diese aber nicht als koalitionsfähig angesehen wird dann steht die Frage von Azmi Bishara, ob der Judenstaat wesenhaft
demokratisch sein kann. Formell ist die israelische Demokratie eine Demokratie, aber nicht in der Art und Weise, wie sie sich realiter in den Lebenswelten der
Gesellschaft niederschlägt.
Weil man mehr sein will als eine Schicksalsgemeinschaft und die Definition nicht einem
Adolf Hitler überlassen wollte ("Weil er verfolgt wurde, ist der Jude zu einem Juden geworden"), ist die Religion in den säkularen
Zionismus eingegangen, wird der Jude noch immer über die Religion definiert. Der Staat selbst begreift sich als jüdischer Staat und von daher ist die
Frage nach einem nichtzionistischen Staat Israel ein Oxymoron. Es gibt kein nichtzionistisches Israel. Man kann sich einen anderen, von Juden und Arabern
getragenen Staat vorstellen, aber das wäre kein zionistischer Staat mehr. Für 99% der Israelis ist dies unvorstellbar und würde die
Selbstaufgabe bedeuten. Deswegen verharrt man im Widerspruch.
Ich glaube nicht, dass die Zeit schon reif ist für einen binationalen Staat, obwohl ich
glaube, dass eine konföderierte Struktur früher oder später die einzige Lösung sein wird. Historisch gefordert ist im Moment jedoch die
Schaffung eines palästinensischen Staates neben einem nicht mehr als Okkupationsmacht auftretenden zionistischen Staat sowie, vielleicht unter
Hinzuziehung Jordaniens, die Schaffung einer konföderierten Struktur möglicherweise in der nächsten Generation. Schon allein deshalb, um
so weitreichende Probleme wie bspw. das der Wasserversorgung angehen zu können. Doch die Voraussetzung hierfür ist die Schaffung eines
Palästinenserstaates.
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