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SoZ: Miguel, als Vizegouverneur des Bundesstaats Rio Grande do Sul wurdest du von reaktionären Großgrundbesitzern auf eine
"schwarze Liste" gesetzt. Womit hattest du das verdient?
Miguel Rossetto: Ich war in der Regierung von Rio Grande do Sul mitverantwortlich für ein landwirtschaftliches Entwicklungsmodell, in dem
die Agrarreform eine wichtige Rolle spielt. Dazu gehört die demokratische Gestaltung des Zugangs zum bebaubaren Boden und seine produktive Nutzung.
Dazu gehört der Kampf um ein ausreichendes Einkommen für jene, die das Land bebauen. Dazu gehören Entwicklungsprojekte in Richtung
einer solidarischen, nachhaltigen und ökologisch verantwortlichen Ökonomie. Die Schaffung von Arbeitsplätzen mit Einkommen, die den
Bedürfnissen der Produzierenden gerecht werden, war unsere erste Priorität.
Mit dieser Politik gerieten wir natürlich in Konflikt mit jenen Großgrundbesitzern
in Rio Grande do Sul, die nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung darstellen und völlig reaktionär sind. Sie haben sich in keiner Weise
mit der Idee angefreundet, in einer demokratischen Republik zu leben und sich entsprechend zu verhalten.
SoZ: Hat die Landesregierung nicht auch verhindert, dass die Polizei gegen Landbesetzer vorging?
Miguel Rossetto: Auch das ist eine elementare demokratische Position. Eine demokratisch gewählte Regierung soll sich sicherlich nicht
unter die Vormundschaft einer sozialen Bewegung stellen. Sie darf sich aber auch nicht dazu hergeben, soziale Bewegungen zu ersticken oder sie gar zu
unterdrücken, zumal nach den schrecklichen Erfahrungen unter der Militärdiktatur in unserem Land. Es kommt vielmehr darauf an, die
Mobilisierung der sozialen Bewegungen zu fördern, die Eigenaktivität und die demokratische Selbstorganisation der Bevölkerung zu
unterstützen. Es geht darum, Menschen Mut zu machen, dass sie für ihre Interessen und Forderungen aktiv werden, und diese dann aufzugreifen.
An den bestehenden Bundesgesetzen konnten wir nichts ändern. Auch an den
Gerichtsbeschlüssen zur Räumung besetzter Ländereien konnten wir nichts ändern. Doch die Militärpolizei, die den
Ländern (in diesem Fall Rio Grande do Sul) untersteht, ist das ausführende Organ für solche Beschlüsse. Wir haben entschieden, dass
sie nicht eingreift und dass sie auch nicht mehr dafür eingesetzt wird, die Landbesetzer auszuspionieren, weil wir jegliche Gewaltanwendung im Prozess
der Landreform ausschließen wollen.
SoZ: Habt ihr die Bildung von Genossenschaften auf den besetzten Ländereien gefördert?
Miguel Rossetto: Man sollte nicht unterschätzen, wie umfassend die Problematik der Landreform ist. Mit der Änderung der rechtlichen
Situation sobald sie erreicht ist sind bei weitem noch nicht alle Probleme gelöst. Es bedarf großzügiger Investitionen und
Kredite, um eine adäquate Infrastruktur zu schaffen, feste Einkommen zu garantieren, öffentliche Dienste aufzubauen, die Energieversorgung zu
organisieren, Schulen aufzubauen, technische Hilfe zu leisten, den Zugang zu lokalen und regionalen Märkten zu schaffen und eine akzeptable
Lebensqualität zu sichern.
Unser Agrarmodell und das gilt nun auch für die Bundesebene zielt
darauf ab, ein starkes Instrument für Veränderung zu schaffen. Es geht darum, Land und Einkommen umzuverteilen, die nationale Produktion
qualitativ hochwertiger Nahrungsmittel zu stärken und damit Hunger und Unterernährung zu bekämpfen. Wir wollen die gesellschaftlichen
Kräfteverhältnisse zugunsten derer verändern, die bisher den Interessen kleiner Minderheiten unterworfen waren.
SoZ: In der neuen Regierung hast du mit dem Landwirtschaftsminister Roberto Rodríguez einen Kollegen, der selbst
Großgrundbesitzer und ein Interessenvertreter des Agrobusiness ist. Sind damit nicht schwere Konflikte vorprogrammiert?
Miguel Rossetto: Aber die Agrarreform ist Teil des Programms der Regierung Lula!
Die Nominierung von Roberto Rodríguez als Landwirtschaftsminister steht im Rahmen der Strategie unseres Präsidenten, das politische Spektrum
in der Regierung zu erweitern, um überhaupt die Chance auf eine parlamentarische Mehrheit zu haben.
Für die Landwirtschaftspolitik wurde diese Bündnisstrategie entsprechend
konkretisiert. Erster Grundpfeiler ist die Stärkung der ländlichen Familienbetriebe. Der zweite ist das moderne Agrobusiness
natürlich mit möglichst klaren sozialen und ökologischen Auflagen. Ausschließen und überwinden wollen wir nur den absolut
rückständigen und unproduktiven Großgrundbesitz. In diesem Zusammenhang wollen wir auch den Dialog mit dem Agrobusiness.
Die brasilianische Verfassung erlaubt die Vergesellschaftung von Grund und Boden, der nicht
produktiv genutzt wird. Dabei gibt es keine Obergrenze für die Größe der Fläche. Bis heute gibt es aber in Brasilien keinerlei
verlässliche Statistiken und Angaben dazu. Deshalb ist unser erstes Projekt, die tasächlichen Verhältnisse genau zu prüfen. Der Staat
muss sich erstmals die Mittel dazu verschaffen, die oft auf gefälschten Eigentumstiteln beruhenden Besitzverhältnisse mit der Realität zu
vergleichen. Nicht selten wurden immense Ländereien betrügerisch angeeignet. Auch die in verschiedenen Bundesstaaten unter der
Präsidentschaft von F.H.Cardoso durchgeführten Maßnahmen der Agrarreform, bei denen viel Betrug und Korruption im Spiel war, werden
wir genau prüfen, nicht nur mit administrativen Mitteln, sondern unter demokratischer Einbeziehung der betroffenen Bevölkerungsteile.
SoZ: Warum nennst du die Förderung der kleinen Familienbetriebe die wichtigste Achse der landwirtschaftlichern Entwicklung?
Miguel Rossetto: In Brasilien hält eine kleine Minderheit von nur 1% der
Bevölkerung das Eigentum an 50% des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens. Das ist offensichtlich eine brutale Eigentumskonzentration.
Die kleinen Bauern und ihre Familien sind zudem Hauptopfer der neoliberalen Politik der
früheren Regierungen. Es gibt Hunger auf dem Land und eine Landflucht, bei der die Menschen in den Favelas der großen Städte landen und
dem gnadenlosen Existenzkampf und der alltäglichen Gewalt als Teil der städtischen Armut ausgeliefert werden. In manchen Regionen, wie im
Nordosten, ist die Lage besonders dramatisch. In den letzten 40 Jahren sind 70 Millionen Menschen vom Land in die Städte geflohen.
4,5 Millionen Bauernfamilien leben derzeit in Brasilien unter existenziell prekären
Verhältnissen. Gerade sie wollen wir ökonomisch und sozial unterstützen. Sie wollen produktiv arbeiten und die Möglichkeit dazu
erhalten und wenn sie diese erhalten, werden sie die Lebensqualität zahlreicher Brasilianerinnen und Brasilianer bedeutend verbessern.
SoZ: Die MST und andere Verbände der landlosen und armen Bauern und der Landarbeiter haben deine Nominierung
begrüßt. João Pedro Stédile, Sprecher der Landlosenbewegung MST, hat auf dem Weltsozialforum weitere Landbesetzungen
angekündigt, "um den Präsidenten Lula bei der Landreform zu unterstützen".
Miguel Rossetto: In meiner Antrittsrede habe ich deutlich unterstrichen, dass der Dialog und die Zusammenarbeit mit der MST und den anderen
sozialen Bewegungen besonders wichtig sind. Ich glaube nicht, dass eine passive Erwartungshaltung von Betroffenen gegenüber den Reformvorhaben der
Regierung von Vorteil wäre. Und es ist in der Tat ganz dringlich, jenen 80000 zu helfen, die derzeit keinerlei Existenzgrundlage haben und die zu Recht
die rasche Regulierung ihrer Situation fordern.
SoZ: Wie beurteilst du als Exponent der PT-Linken das Vorhaben, Teile des Bürgertums für die "Veränderung"
einzubeziehen und eine Akzeptanz bei den internationalen Finanzinstitutionen zu erreichen?
Miguel Rossetto: Die Regierung Lula steht eindeutig für eine tiefgreifende
Veränderung. Wir sprechen von einem Übergang, wobei Anfang und Ende dieses "Übergangs" in der Tat noch genauer
geklärt werden müssen. Auch die Linke in der Partei fordert nicht eine Politik ohne Rücksicht auf die Kräfteverhältnisse in der
brasilianischen Gesellschaft wie auch auf internationaler Ebene. Das wäre unverantwortlich!
Wir haben in Brasilien die Präsidentschaftswahlen gewonnen, aber wir haben als PT bei
weitem nicht überall die Mehrheit, nicht im Bundesparlament, nicht im Senat, und auch nicht in der Mehrzahl der Bundesstaaten. Weder unsere Partei
noch die große Bevölkerungsmehrheit kontrollieren die großen Produktionsmittel, und auch die Massenmedien sind wesentlich in der Hand
großer Privatunternehmen. Die Lage auf Weltebene brauche ich den Leserinnen und Lesern der SoZ sicher nicht zu erläutern.
Wir müssen in dieser Situation im positiven, emanzipatorischen Sinne
"Regierungsfähigkeit" beweisen. Die Regierung kann nicht auf der Stelle treten; sie ist gezwungen, Schritte nach vorn zu machen, um nicht
zurückzufallen und die großen Hoffnungen und Erwartungen, die sie geweckt hat, zu enttäuschen und damit die begeisterte
Unterstützung aufs Spiel zu setzen, die sie heute genießt.
Unser Projekt des demokratischen, zivilisatorischen und sozialen Fortschritts kann die
Kräfteverhältnisse zugunsten der großen Bevölkerungsmehrheit ändern, wenn diese immer mehr in die politischen
Entscheidungsprozesse einbezogen und zur Entwicklung ihrer Eigenaktivität ermutigt wird.
Natürlich brauchen wir auch internationale Solidarität. Es ist wichtig, die Linke,
die Arbeiterbewegung und die demokratische Öffentlichkeit gerade in den reichen Industrieländern über unsere Ziele und Schwierigkeiten zu
informieren und gegen den Druck anzugehen, der wegen des Schuldendienstes und der Übermächtigkeit der internationalen Finanzinstitutionen auf
uns lastet.
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