SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, März 2003, Seite 15

EU-Verfassungsvertrag

Kein Platz für soziale Rechte

Am 6.Februar hat der Konvent einen Entwurf für die ersten drei Kapitel eines Verfassungsvertrags für die Europäischen Union vorgelegt. Darin werden die wesentlichen Gewichtungen zwischen Grundwerten, Zielen und Zuständigkeiten vorgenommen, die den gesellschaftspolitischen Gehalt sowie die Struktur der EU beschreiben.
Alle drei Positionen — Grundwerte, Ziele und Zuständigkeiten — enthalten nichts, was irgendwie zukunftsweisend wäre. Das kann nicht verwundern, war doch das Ziel von Anfang an nicht, mit Hilfe der Verfassungsdiskussion die Missstände und Defizite in der EU zu überwinden, sondern die bestehenden Strukturen unter Wahrung des Status quo effizienter zu gestalten und an die sich ändernden Gegebenheiten (z.B. Osterweiterung) anzupassen.
Der hybride Zustand einer "Union der Staaten" und einer "Union der Völker" wird festgeschrieben; die Grundwerte, "die ausschlaggebend dafür sind, dass sich die europäischen Völker ein und derselben Union zugehörig fühlen", sind mit Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten dermaßen allgemein gefasst, dass auch autoritäre Regierungen, die den staatlichen Schutz von Bürgerrechten und sozialen Rechten weitgehend eingeschränkt haben (wie da Italien Berlusconis) und die von rechtspopulistischen Parteien geführt werden, noch leicht darunter Platz finden können. Wie dies eine besondere europäische Identität schaffen soll, bleibt ein Geheimnis.
Alles was in Arbeitsgruppen des Konvents an weitergehenden Festlegungen diskutiert wurde — z.B. eine Festlegung auf das Niveau der sozialen Sicherungssysteme, wie es sich in der Nachkriegszeit entwickelt hat, geschweige denn neue Wege, im erweiterten Europa einen Raum gleichen Lebensstandards und gleicher Rechte zu entwickeln — wurde abgelehnt und bestenfalls in den Bereich unverbindlicher "politischen Zielsetzungen" verbannt, die nicht eingeklagt werden können.
Dies ist allerdings eine Methode, wie sie bereits bei der Niederschrift der Grundrechtecharta in Nizza praktiziert wurde. Sie führte dazu, dass der erreichte gemeinsame Nenner an demokratischen und sozialen Rechten nicht über das Niveau dessen hinausgeht, was auch noch der konservativste Staat zu gewähren gewillt ist. Die ganze Dynamik der auf europäischer Ebene festgeschriebenen Rechte ist somit eine rückschrittliche: Der Rückständigste gibt das Tempo an.
Unter diesen Umständen ist es umso unverständlicher, dass der EGB schon sehr frühzeitig dem Verfassungsvertrag sein Plazet gegeben hat. In einer Stellungnahme vom 9.Oktober 2002 begrüßt er ihn als "Schritt zu einer authentischen Verfassung", obwohl der Vertrag nur einstimmig verändert werden kann und obwohl der EGB "darauf besteht", dass z.B. die Grundrechtecharta, die in den Verfassungsvertrag ohne Veränderungen aufgenommen werden soll, "Mängel in Bezug auf die transnationalen Gewerkschaftsrechte" enthält.
In Nizza hatte er der Grundrechtecharta zugestimmt, obwohl sie weder ein europäisches Streikrecht noch ein Recht auf europäische Tarifverhandlungen enthielt. Er argumentierte damals, die Charta sei durchaus verbesserungswürdig, aber es sei besser, eine schlechte Charta zu haben als gar keine.
Diese Argumentation ist dem EGB jetzt voll auf die Füße gefallen. Er hat bei der Einrichtung des Konvents nicht einmal eine Arbeitsgruppe Soziales beantragt. Ausgerechnet der Konventspräsident Giscard d‘Estaing musste das monieren; er ließ Anfang August 2002 über die Presse mitteilen, "niemand habe eine neue Zuständigkeit für die EU in sozialen Belangen" gefordert. Es blieb den Europäischen Märschen in Belgien vorbehalten, Alarm zu schlagen. Daraufhin erhielten sie entrüstete Reaktionen seitens der Verbände, politischen Organisationen und auch Gewerkschaften, die im Konvent vertreten sind und die Aussagen des Präsidenten bestätigen mussten.
Am 26.9. ergriff schließlich das Konventsmitglied Anne van Lancker von der Sozialistischen Partei Belgiens zusammen mit Johannes Voggenhuber von den österreichischen Grünen und Sylvia-Yvonne Kaufmann von der PDS die Initiative zu einem Brief an das Präsidium des Konvents mit der Bitte, eine Arbeitsgruppe Soziales Europa einzurichten. 40 Mitglieder des Konvents unterzeichneten den Antrag.
Die Arbeitsgruppe wurde eingerichtet und hat am 6./7.Februar 2003 ihre Schlussfolgerungen vorgelegt. Darin begräbt sie jedes Ideal eines sozialen Europa. Die Präambel zur Grundrechtecharta enthielt noch einen Verweis auf die Europäische Sozialcharta; nunmehr ist die Charta selbst der alleinige Maßstab. Das bedeutet, dass die Rechte, die in der Europäischen Sozialcharta noch verankert waren — wie das Recht auf einen garantierten Schutz im Fall von Erwerbslosigkeit, auf Rente, Wohnung, auf ein Mindesteinkommen, auf Arbeit — auf europäischer Ebene kein Bezugspunkt mehr sind.
Der Grundwert Solidarität wird regressiv definiert. Verbindet man bisher damit die Systeme der sozialen Sicherheit, wie sie in der Nachkriegszeit erkämpft wurden und in den Grundlagen der europäischen Wohlfahrtsstaaten Eingang gefunden haben, meint Solidarität jetzt nur noch eine undefinierte "zwischenmenschliche Solidarität und/oder Solidarität zwischen Generationen oder Mitgliedstaaten".
Kategorien wie soziale Gerechtigkeit, ein hohes Maß an sozialem Schutz, effiziente und hochwertige soziale Dienste und Leistungen der Daseinsvorsorge werden als "politische Ziele" behandelt, nicht als soziale Rechte. Auch Vollbeschäftigung gehört dazu, aber auch dieser Begriff ist inzwischen umdefiniert und beschreibt nicht mehr den Zustand, dass die überwiegende Zahl von Erwerbsfähigen einen festen Arbeitsplatz hat, sondern dass Erwerbslose nicht mehr in der Statistik geführt werden, weil sie keinen Anspruch auf Lohnersatzleistungen mehr haben. Laut Vertrag von Nizza darf es EU-weit keine Mindestforderungen auf dem Gebiet der Löhne, des Koalitionsrechts, des Streikrechts und des Rechts auf Aussperrung geben.
Es gibt also auf europäischer Ebene weder für soziale Leistungen, noch für gewerkschaftliche Rechte irgendeinen einklagbaren minimalen Schutz.
Die EU bleibt das, was sie seit Maastricht immer war: ein Projekt, in dem der "freie Wettbewerb" über allem thront und dem alle anderen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens untergeordnet werden. Es bleibt also die Aufgabe der sozialen Bewegungen, die sozialen Rechte für den gesamten europäischen Raum einzuklagen, gerade auch unter den Bedingungen der sog. Osterweiterung. Auf dem Europäischen Sozialforum in Florenz ist der Ansatz einer Bewegung dafür entstanden.
Aber man muss sich nichts vormachen: Ein soziales Europa, das seinen Bewohnern ein menschenwürdiges Leben ermöglicht, wird mit dem Vertrag von Maastricht brechen müssen.

Angela Klein

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04