SoZ Sozialistische Zeitung |
Am vergangenen Freitag gab Bundeskanzler Gerhard Schröder vor dem Bundestag seine mit Spannung erwartete
Regierungserklärung zur Lage der Nation.
Obwohl seit Wochen angekündigt als große "Blut, Schweiß und
Tränen"-Rede, die das Land in Aufbruchstimmung versetzen sollte, blieb nach seiner Ansprache der Ruck, der durch Deutschland gehen sollte,
dennoch aus. Kein Ruck, nirgends: Den Medien fehlte der große, (Volks-)Gemeinschaft stiftende Wurf. Die Gewerkschaften kritisierten zwar seine soziale
Unausgewogenheit, ein praktischer Ruck von der Presseerklärung zur Gegenwehr ist bisher jedoch nicht zu erkennen. Lediglich die
Unternehmerverbände applaudierten wohlwollend, aber mit dem Tenor: "Für den Anfang in Ordnung, aber längst nicht
ausreichend!"
Die von Schröder angekündigten Einschnitte für Arbeitslose, im
Gesundheitswesen und im Arbeitsrecht sind dennoch die brutalsten und folgenreichsten, die je eine deutsche Nachkriegsregierung in Angriff genommen hat.
Auch wenn sie öffentlich gar nicht als so markanter Bruch wahrgenommen wurden. Das hat damit zu tun, dass jeder einzelne dieser Schnitte seit Beginn
der zweiten Amtsperiode von Rot-Grün vor sechs Monaten bereits ein- oder mehrmals in die Diskussion gebracht wurden, also für sich genommen
nicht mehr überraschend war.
Was die Gewerkschaftslinke bereits im September 2002 richtig analysiert hatte, hat sich
vergangene Woche ein weiteres Mal bestätigt: Der wirtschaftsliberale Kurs wird fortgesetzt, weitere Geschenke und Deregulierungen fürs Kapital in
Aussicht gestellt, und mit der verlogenen Formel "Alle müssen ihren Beitrag leisten" denen dreist ins Portemonnaie gegriffen, die am
wenigsten drin haben: Kranke, Alte, Arbeitslose. Dabei handelt es sich bei den angekündigten Maßnahmen keineswegs bloß um verkehrte
"politische Symbolik", wie Schröder-Kritiker vom "linken" SPD-Flügel bemängelten. Diese Maßnahmen haben
gravierende Auswirkungen:
n Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld wird bei Menschen unter 55 Jahren auf 12 Monate,
bei Menschen über 55 Jahren auf höchstens 18 Monate beschränkt. Bisher gab es Arbeitslosengeld deutlich länger, bis zu 32 Monate
für über 57-Jährige. Nach 12 Monaten Arbeitslosigkeit rutschen Erwerbslose auf das Niveau der Sozialhilfe ab, genannt
"Arbeitslosengeld II". Das bedeutet: aufs Existenzminimum. Die unappetitliche Legende, dass sich Arbeitslosigkeit mit einer Verarmungspolitik
gegen Arbeitslose reduzieren ließe, wird von der Bundesregierung in Schröders Erklärung zum 1001. Mal wiederholt: "Wir steigern die
Chancen derer, die arbeiten können und wollen. Deswegen werden wir Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenlegen."
n Im Gesundheitswesen werden die von den Patienten ganz- oder teilweise direkt selbst zu
bezahlenden medizinischen Leistungen drastisch ausgeweitet: von der Untersuchungsgebühr ("Praxis-Gebühr") beim Arztbesuch bis zu
hohen Zuzahlungen für Medikamente und Behandlungen. Außerdem soll weiter privatisiert werden. Bisher haben die Krankenkassen nach Ende der
sechswöchigen Lohnfortzahlung im Krankheitsfall das sog. Krankengeld bezahlt. Das soll aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen verschwinden.
Gegen das Risiko, länger als sechs Wochen arbeitsunfähig krank zu sein, sollen sich Arbeiter und Angestellte künftig privat versichern. Und
"privat versichern" heißt: ohne dass der Arbeitgeber die Hälfte davon bezahlen müsste, wie es in der solidarischen
Krankenversicherung seit über 100 Jahren üblich war.
Die Regierungspolitik im Gesundheitswesen verfolgt offensichtlich eine Doppelstrategie: Zum
einen wird die Akzeptanz und die Legitimation eines solidarischen Gesundheitssystems durch dauernde Leistungsverschlechterung und Propagandakampagnen
über dessen "Unbezahlbarkeit" unterminiert. Damit wird der Boden bereitet für die nächsten Verschlechterungen und
Privatisierungen von Gesundheitsrisiken. Zum andern wird der Unternehmeranteil (die paritätische Finanzierung) an der solidarischen
Krankenversicherung direkt reduziert und Gelder von Arbeitern und Angestellten aus der gesetzlichen Krankenversicherung in die Kassen der privaten
Versicherungsunternehmen umgeleitet.
n Sogar die besonders gern als symbolisch und beschäftigungspolitisch wirkungslos
bezeichnete Lockerung des gesetzlichen Kündigungsschutzes hat weitreichende Folgen, auch wenn sie garantiert keine einzige Einstellung bringen wird.
So musste bisher bei betriebsbedingten Kündigungen eine sog. "Sozialauswahl" getroffen werden, bei der soziale Kriterien wie Alter,
Betriebszugehörigkeit, Familienstand zu berücksichtigen war. Mit dieser Sozialauswahl konnte einer exzessiven Selektion von Belegschaften
gegengesteuert werden. Für Schröder ein abzuwerfender Ballast: "Wir werden die Sozialauswahl so umgestalten, dass die
Leistungsträger unter den Beschäftigten im Unternehmen gehalten werden."
Mit Schröders Regierungserklärung stehen Angriffe auf die sozialen Sicherungssysteme auf der Tagesordnung, die vor ihm noch kein
Bundeskanzler gewagt hat. Ein Oppositionssturm seinerzeit noch sozialdemokratisch geführt und Gewerkschaftsproteste auf den
Straßen hätten einen Kanzler Kohl in die Schranken gewiesen. Zu Sozialdemokratie und Grünen ist jeder weitere Kommentar
überflüssig. Aber die Gewerkschaften?! Waren die sozialen Sicherungssysteme nicht der Identifikationspunkt der Gewerkschaftsführungen
mit dem Nachkriegskapitalismus schlechthin? Aber seit Monaten schweigen sie zu alledem obwohl die Parteifreunde in Berlin immer zudringlicher nach
diesem Tafelsilber greifen. Und auch jetzt ist von massiver Gegenwehr nicht viel zu hören.
Nun haben sich weder der DGB noch die großen Einzelgewerkschaften in den letzten
Jahren viel mit Ruhm bekleckert, wenn es darum ging, gegen die Umverteilung von unten nach oben in allen Lebensbereichen Widerstand zu organisieren.
Erinnert sei an die höchst halbherzige Politik gegen den Systembruch in der Rentenversicherung, gegen die Steuerreform, die die leeren öffentlichen
Kassen (mit-)verursacht, oder die Hartz-Vorschläge, die weitgehend unkritisch akzeptiert und verharmlost wurden.
Doch ist die halbherzige Politik nicht Ergebnis davon, dass die Bevölkerung oder gar die
Mitgliedschaft die Verzichtsforderungen von Regierung und Unternehmern akzeptieren würde, Widerstand deshalb zwecklos wäre. Der Verlauf der
Metall-Tarifrunde 2002 und die Lohnrunde von Ver.di im öffentlichen Dienst Anfang dieses Jahres belegen: Trotz Medientrommelfeuer gegen die
unverantwortlichen "Arbeitsplatzbesitzer" gab und gibt es Kampfbereitschaft in den Betrieben und Büros.
Beide Tarifrunden markierten einen kleinen Schritt heraus aus der Unterordnung der
Gewerkschaften unter Regierungs-und Kapitalinteressen. Angesichts der angekündigten Politik der Regierung sind allerdings weitaus größere
Schritte nötig. Wer die öffentliche Daseinsvorsorge verteidigen, verbessern und dafür politischen Druck machen will, kommt um die zentrale
Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums nicht herum. Und politische Konzepte, die dies gegen Kapitalinteressen thematisieren, gewinnen
Durchsetzungsmacht nicht durch Lobbyismus, das ist 10000fach bewiesen. Sondern nur durch Demonstration von Gegenmacht auf der Straße. Nur das
beeinflusst auch die öffentliche und veröffentlichte Meinung.
Die Gewerkschaften stehen vor einer Richtungsentscheidung: Rückgewinnung von
Autonomie und Glaubwürdigkeit durch Kampagnen und Mobilisierung der Mitglieder für Umverteilung, gegen soziale Demontage und Krieg, im
Bündnis mit der Antikriegsbewegung, sozialen Verbänden, der Antiglobalisierungsbewegung oder ein letztlich selbstzerstörerischer
Kurs des nationalen Wettbewerbspakts am Katzentisch der Regierung. Dass ersteres sich durchsetzt, dafür muss die Linke in den Gewerkschaften
kämpfen. Die Alternative für die Gewerkschaften heißt heute mehr denn je: Teil der Lösung werden sonst ist sie Teil des
Problems!
Tom Adler
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04