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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2003, Seite 10

Brasilien

Die Plagen der neuen Regierung

Drei Monate nach dem Wahlsieg muss der Präsident die ersten Probleme angehen. Angefangen mit der Revolte vieler Genossen in seiner Partei, die ihn beschuldigen, dieselbe liberale Politik zu betreiben wie sein Vorgänger.
Die Regierungsangestellten sind ganz in Rot gekleidet und sie stoßen Beschimpfungen gegen die Regierung aus, als sie zum ersten Mal in Brasília vor dem Amtssitz von Luis Inácio Lula da Silva, dem neuen Präsidenten Brasiliens, strömen. Für Lula, den Ex-Gewerkschafter und Initiator von Massenkämpfen gegen die Multis und die Generäle, ist es gar kein guter Tag gewesen. An der Spitze der öffentlich Bediensteten — einer Gruppe, die traditionell mit der von Lula geführten Arbeiterpartei (PT) verbunden und im Dachverband CUT gewerkschaftlich organisiert ist — standen Babá, Lindberg Farias und Luciana Genro, der radikale Flügel, der nun immer weniger mit dem Geist des Regierens in der Linken einverstanden ist. Der Zankapfel: die Forderung nach Lohnerhöhungen und die Abkehr von einem geplanten Gesetz, das das neue System der Pensionen der servidores públicos regeln soll und von den Gewerkschaften abgelehnt wird.
João Feliciano, der Vorsitzende der CUT, hat bereits mit dem Generalstreik gedroht. Damit würde Lula zum ersten Mal auf der anderen Seite der Barrikade stehen. Und wenn für Lula die Schwierigkeiten schon mit dem PL-9 (so das Kürzel für den Gesetzentwurf) begonnen haben, so werden die Dinge sicher nicht besser werden, wenn man anfangen wird, über andere von der PT angekündigte Maßnahmen zu diskutieren: die Agrarreform, die Verwaltungsreform und die Steuerreform.
Die ersten Schritte der neuen Regierung Lula waren in der Tat eher mühselig. Der mit der höchsten Stimmenzahl in der Geschichte Brasiliens gewählte Präsident ist nach drei Monaten noch keine Enttäuschung. Aber die Unzufriedenheit wächst.
Die Flitterwochen mit der Wählerschaft hatten schon begonnen sich abzukühlen, als der ehemalige Präsident der "BankBoston", Henrique Meirelles, mit dem Segen von George Bush neuer Finanzminister wurde. Zwei Tage zuvor hatte sich Lula mit der Wirtschaftsdelegation des IWF getroffen, um das im September abgeschlossene Abkommen über eine Darlehen von 30 Milliarden Dollar zu prüfen. Meirelles wurde bei den Wahlen auf der Liste der PSDB, der Partei des scheidenden Präsidenten Fernando Henrique Cardoso, gewählt.
Das Kommando eines der wichtigsten Ministerien ist im Wesentlichen in den Händen der "Tukane" verblieben, d.h. in der politischen Koalition, die Brasilien in zwei aufeinander folgenden Legislaturperioden regiert und das Land in eine tiefe Rezession gestürzt hat.
Die Beziehung zwischen der PT und Meirelles ist dabei nicht jüngeren Datums, sondern reicht bis 1993 zurück, als Lula das zweite Mal Präsidentschaftskandidat war. Damals organisierte Meirelles für Lula und seine Partei ein Treffen in den USA mit internationalen Unternehmensvertretern, um eine größere Akzeptanz für Lulas Kandidatur zu erreichen.
Jenseits taktischer Allianzen besteht das Problem faktisch darin, dass sich im wichtigen Finanzministerium nicht die geringste Kursänderung vollzieht. Meirelles hat den Stab seines Vorgängers Armínio Fraga behalten und setzt die frühere Politik fort: "Er ist eine Persönlichkeit, die immer den internationalen Finanzinteressen gedient hat; er dient nicht den nationalen Interessen", sagt ohne Umschweife die Senatorin Heloisa Mercadante, die zu den PT-Rebellen gehört.
Entgegen den Direktiven ihrer Partei hat sich Mercadante auch geweigert, José Sarney zum Präsidenten des Senats zu wählen. Sie wollte keine Person unterstützen, die von den Militärs gegen Ende der Militärdiktatur zum Staatspräsidenten gekürt worden war.
Diese Entscheidung kostete ihr ein disziplinarische Rüge. Deshalb agieren die Rebellen der PT jetzt vorsichtiger. Sie vermeiden die direkte Konfrontation. Bei den Diskussionen über Reformen sind sie bestrebt, die sozialen Organisationen mit einzubeziehen. Dies ist genau das, was die PT und die Regierung nicht wollen.
Die Nerven sind gespannt. Wenn sich Lula mehrfach in der Öffentlichkeit gut gelaunt präsentiert, um Einheit und Frieden zu bewahren, so haben andere Führer der Partei bereits eine harte Linie gegen die Abweichler beschlossen. Es wird bereits von Parteiausschlüssen gesprochen.
"Wir sind keine isolierten Stimmen", antwortet der Abgeordnete Lindberg Farias. "Die Kritik an der Wirtschaftspolitik kommt nicht nur von 30 Abgeordneten. Es gibt viel mehr Parlamentarier aus den Reihen der Gemäßigten und immer mehr Minister aus der Regierung selbst, die ihre Skepsis bezüglich des eingeschlagenen Weges nicht verbergen."
Jeden Tag demonstriert eine wachsende Zahl von Ökonomen, Journalisten und Intellektuellen ihre eigenen Zweifel an den jüngsten politischen Entscheidungen der Regierung. Sie decken auf, dass die Regierung Lula wie ihre Vorgängerin nicht nur in den ersten drei Monaten die Investitionen im Sozialbereich gekürzt hat, sondern in einigen Ministerien Haushaltskürzungen von bis zu 90% verwirklicht hat. Auf diese Weise wird die Losung "Drei Mahlzeiten am Tag für alle", mit der Lula die Wahl gewonnen hat, zu einer Chimäre.
Somit könnte das Klima der Unstimmigkeit, das in der PT herrscht, den Weg zu einer Spaltung ebnen. Laut der Tageszeitung A Folha de São Paulo sollen sich Führer der PSTU (Vereinigte Sozialistische Arbeiterpartei) und der PT treffen, um die Schaffung einer neuen Linksformation zu diskutieren. Ziel dieser neuen Koalition soll die Erarbeitung einer gemeinsamen Strategie gegen die Amerikanische Freihandelszone (ALCA), die Bekräftigung einer Linie des Bruchs mit dem IWF und eine bessere Abstimmung mit den sozialen Bewegungen sein. Die Idee stammt von José Maria de Almeida (PSTU): "Es wächst das Bedürfnis, eine Partei aufzubauen, die aus Persönlichkeiten besteht, die sich nicht an die neoliberale Logik verkaufen." Dabei ist an Personen gedacht wie die Führer der Landlosenbewegung (MST) Pedro Stedile und Gilmar Mauro, die sich für eine Agrarreform einsetzen. Das Projekt befindet sich jedoch noch im Embryonalzustand, da große Teile der petistas Lula noch eine letzte Chance geben wollen.

Giuseppe Bizzarri, São Paulo

Gekürzt aus: L‘Espresso (Mailand), 6.3.2003.