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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2003, Seite 11

EU rüstet kräftig auf

Ein Blick hinter die Antikriegsrhetorik

Der Vertrag mit der NATO ist unterzeichnet, am 31.März übernimmt die EU den Mazedonien-Einsatz. Damit wird die EU erstmals einen militärischen Einsatz durchführen. Dieser Einsatz auf dem Balkan ist für den deutschen Verteidigungsminister Peter Struck schon jetzt ein "Erfolgsmodell". Doch Struck will mehr: "Europa muss geschlossen auftreten, weil es nur dadurch stark ist." Bei einem Treffen mit seinen EU-Amtskollegen in Athen forderte er außerdem, Europa solle "nicht nur vor unserer Haustür" geschlossen auftreten.
Trotz Uneinigkeit in der Irak-Frage treibt die EU ihre eigenen Militärprojekte zügig voran. Die geplante EU-Eingreiftruppe soll im Juni voll einsatzfähig sein, wie der griechische Verteidigungsminister Giannos Papantoniou jetzt bekannt gab. 1999 hatte die EU auf ihrem Gipfel in Helsinki den Aufbau einer eigenen, in 60 Tagen einsatzfähigen Eingreiftruppe beschlossen. Die 60000 Soldaten, die von den EU-Mitgliedsländern gestellt werden, sollen in einem Radius von 4000 Kilometern rund um Brüssel eingesetzt werden.
Im Dezember hatte die Türkei nach jahrelangen Verhandlungen den Weg frei gemacht für eine Zusammenarbeit von NATO und EU. Eine entsprechende Vereinbarung war die Voraussetzung dafür, dass die EU Einsätze eigenständig durchführen kann, da nur die NATO über entsprechende Kapazitäten verfügt, wie sie für Einsätze im Ausland notwendig sind.
Bis zur letzten Minute bestand die Türkei, die zwar NATO-, aber noch nicht EU- Mitglied ist, darauf, dass Zypern, das demnächst der EU beitreten soll, von der Zusammenarbeit ausgeschlossen wird. Die Mitglieder der NATO, die auch in der EU sind, wollten Zypern jedoch nur von der Verwendung von NATO-Mitteln ausschließen. An der EU-Truppe sollte Zypern jedoch grundsätzlich teilnehmen können.
Der Kompromiss vom 16.Dezember 2002, der laut Presseberichten unter massivem Druck von Frankreich und Deutschland auf die Türkei zustande gekommen sein soll, sieht nun vor, dass Zypern sich nicht an Militäroperationen der EU beteiligen wird. Außerdem bekam die Türkei zugesichert, dass im Falle von Konflikten, etwa in der Ägäis zwischen Griechenland und der Türkei, keine NATO-Mittel unter EU-Fahne gegen die Türkei eingesetzt werden dürfen. Im Gegenzug bekommt die EU den lang ersehnten "gesicherten Zugang" zu NATO-Mitteln, wie es in der gemeinsamen Erklärung von EU und NATO heißt. So kann die EU etwa das NATO-Hauptquartier SHAPE im belgischen Mons nutzen.

EU als neues Militärbündnis?

"Wir sind jetzt in der Lage, Operationen durchzuführen, wenn die NATO nicht involviert werden will", äußerte Großbritanniens Premierminister Tony Blair nach der Einigung zufrieden. Die neue Truppe sei "komplementär zur NATO". Die Botschaft war für die USA bestimmt, die in der Truppe vor allem ein europäisches Konkurrenzprojekt zur NATO sehen.
Washington hatte nur unter der Bedingung zugestimmt, dass keine Parallelstrukturen aufgebaut würden. Insofern kommt den USA diese Vereinbarung zwischen EU und NATO entgegen, weil dadurch die EU an die NATO gebunden bleibt. Am liebsten wäre der US-Regierung aber, wenn die europäischen NATO-Staaten sich mehr an gemeinsamen Rüstungsanstrengungen in der NATO beteiligen würden, anstatt eigene Projekte zu verfolgen.
Die EU will langfristig jedoch mehr sein als nur eine Eingreiftruppe. In der Arbeitsgruppe "Verteidigung" des EU-Reformkonvents unter Vorsitz des EU-Kommissars Michel Barnier, die jetzt ihren Abschlussbericht vorgelegt hat, wurde bereits über militärische Beistandspflichten für die EU nachgedacht. Allerdings bezeichneten einige EU-Mitglieder eine klassische Beistandsklausel als "unannehmbar", wie dem Bericht zu entnehmen ist. Die Gegner hätten sowohl auf den blockfreien Status einiger Mitglieder verwiesen — nämlich Finnland, Irland, Österreich und Schweden — als auch auf die NATO, die kollektive Verteidigung schon gewährleisten würde.
So einigte sich die Arbeitsgruppe auf eine "Solidaritätsklausel". Diese solle den Mitgliedstaaten ermöglichen, "durch den Einsatz des gesamten notwendigen — militärischen und zivilen — Instrumentariums insbesondere den terroristischen Bedrohungen innerhalb der Union zuvorzukommen und auf sie zu reagieren". Eine militärische Beistandsklausel ist die Solidaritätsklausel aber ausdrücklich nicht: "Diese Klausel wäre keine kollektive Verteidigungsklausel, die zum militärischen Beistand verpflichtet. Sie würde bei Bedrohungen durch nichtstaatliche Einheiten zur Anwendung gelangen."
Außerdem soll eine "Europäische Agentur für Rüstung und strategische Forschung" gegründet werden, um die Rüstungsprojekte besser zu koordinieren. Dafür haben sich auch die Verteidigungsminister in Athen ausgesprochen. Die EU-Kommission will außerdem bis 2004 einen "Leitfaden zur Normung im Verteidigungsbereich" erarbeiten. Der Industrie ist gemeinsame Zusammenarbeit jedoch zu wenig. Seit Jahren mahnt sie höhere Ausgaben an, eine Forderung, der die Regierungen wegen leerer Kassen kaum nachkommen konnten. Inzwischen ist die konservative französische Regierung jedoch vom Sparkurs abgewichen und überraschte letztes Jahr mit der Idee, den Rüstungshaushalt aus den Maastrichtkriterien herauszunehmen. Bisher konnte sie sich damit allerdings nicht durchsetzen.
Deutschland und Frankreich haben sich mittlerweile für eine Fortentwicklung der Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) zu einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungs-Union (ESVU) ausgesprochen. Als Ziel nannten die Außenminister beider Länder, Dominique de Villepin und Joseph Fischer, "das Erreichen eines voll handlungsfähigen Europa", was "ohne eine Stärkung der militärischen Fähigkeiten nicht möglich" sei. Der Vorschlag läuft darauf hinaus, das Prinzip der "verstärkten Zusammenarbeit" auch in der Verteidigungspolitik anzuwenden, was nach dem Vertrag von Nizza nur in der Außen- und Sicherheitspolitik möglich ist. Dadurch würden Mehrheitsentscheidungen in militärischen Fragen möglich und damit eine deutsch-französische Dominanz in der EU.

Bundeswehr als Interventionsarmee

In Deutschland betreibt die rot-grüne Regierung trotz Antikriegsrhetorik in der Irak-Frage den Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee. Erstmals steht auch die Landesverteidigung "nicht mehr an der ersten Stelle", wie Struck im Dezember 2002 sagte. Struck wörtlich: "Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt." Die Friedensbewegung reagierte empört: "Wenn solches Denken Schule macht, landet die Welt über kurz oder lang im Chaos. Mit demselben Recht könnten Pakistan, Indien, China oder jedes x-beliebige Land in ihren Militärdoktrinen festlegen, dass deren Verteidigung am Rhein stattfindet", so der Bundesausschuss Friedensratschlag.
Struck will jetzt die Verteidigungspolitischen Richtlinien überarbeiten. Die momentan gültigen Richtlinien hatte Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) am 26.November 1992 erlassen. Aufsehen erregte damals besonders Punkt 8 der Richtlinien. Als "vitale Sicherheitsinteressen" Deutschlands wurden dort auch wirtschaftliche Interessen aufgeführt, für die die Bundeswehr in den Krieg ziehen soll: "Aufrechterhaltung des freien Welthandels und des ungehinderten Zugangs zu Märkten und Rohstoffen in aller Welt im Rahmen einer gerechten Weltwirtschaftsordnung."
Die in der Presse schnell als "Struck-Doktrin" gehandelten Ankündigungen des Verteidigungsministers wurden parteiübergreifend begrüßt. So sprach Angelika Beer kurz vor ihrer überraschenden Wahl zur grünen Parteivorsitzenden von einem "überfälligen Schritt". "Jeder weiß, dass die Landesverteidigung auf absehbare Zeit keine Rolle mehr spielt". Bei der Union rannte Struck offene Türen ein.
In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sagte Wolfgang Schäuble, der in seiner Fraktion für Sicherheits- und Verteidigungspolitik zuständig ist, auf die Frage "Sicherheitsinteressen bis zum Hindukusch — können Sie sich damit im Grundsatz anfreunden?": "Es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung. Denn wir brauchen eine realistische, aktualisierte Bedrohungsanalyse." Kurz vorher hatte sich Schäuble für eine Übernahme der US-amerikanischen Doktrin der Präventivschläge ausgesprochen, um Massenvernichtungswaffen und Terrorismus zu bekämpfen: "Man kann diese Gefahren aber nur vermeiden, indem man Anschläge und den Einsatz von Massenvernichtungswaffen verhindert. Mit Vergeltung, also einem Zweitschlag, schützen Sie unsere Bevölkerung nicht."
Die veränderte strategische Ausrichtung der Bundeswehr nutzt Struck zu Einsparungen. Die Organisationsstruktur der Bundeswehr soll schlanker werden, da aufwendige Mobilmachungsvorbereitungen wegen der fehlenden direkten Bedrohung des Territoriums der BRD nicht mehr nötig sind. Um die Betriebskosten zu senken, soll altes Gerät schneller ausgemustert werden. Das schafft Spielraum für Neuanschaffungen, die für die neue Hauptaufgabe "internationale Einsätze" gebraucht werden. "Die Bundeswehr muss und wird das Material bekommen, das sie für ihre Hauptaufgaben benötigt", versicherte Struck. Er legte ausdrücklich Wert auf die Feststellung, dass "entgegen den häufig auch in der Presse angekündigten drastischen Streichungen die schon in der vergangenen Legislaturperiode eingeleitete Verstetigung des Verteidigungshaushalts uneingeschränkt erhalten werden konnte".

Dirk Eckert

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