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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2003, Seite 1

Friedensbewegung in der Türkei

Noch ist nichts entschieden

Wie in vielen Ländern der Erde sind die Menschen in der Türkei durch den Kriegskurs der USA politisiert. Den Umfragen und Hochrechnungen nach sind 94% der Bevölkerung gegen den Krieg im Irak. Die Kriegsgegner verteilen sich auf alle Parteien und Gruppierungen.

Am 1.März 2003, als im türkischen Parlament die Regierungsvorlage zur Stationierung der US-Soldaten und zum Einmarsch der türkischen Armee in den Irak zur Abstimmung stand, haben sich 50000 (nach anderen Meldungen 100000) Kriegsgegner unweit vom Parlament zu einer Kundgebung versammelt. Das Ergebnis der Parlamentsabstimmung war für alle Seiten eine Überraschung: Die Regierungsvorlage wurde zwar akzeptiert, aber die Ja-Stimmen reichten nicht für die nötige absolute Mehrheit nicht aus. Dieses Ergebnis gab den Kriegsgegnern das Selbstbewusstsein wieder, dass Proteste etwas bewirken können, und wenn es nur eine Verschiebung des Krieges ist.
Bis dahin war es ein langer Prozess, eine Bewegung gegen den Krieg und gegen die Folgen der Globalisierung zu organisieren. Im April letzten Jahres kamen zu einer von der linken ÖDP organisierten Kundgebung gegen die Gewalt in Palästina ca. 6000 Teilnehmende, davon etwa 1000 radikale Moslems, die mit ihren "Allah ist groß"-Rufen zum ersten Mal zu einer von Linken organisierten Protestaktion kamen. Während des Wahlkampfs im November präsentierte die ÖDP in Istanbul in nächstmöglicher Nähe zum US-Konsulat eine Presseerklärung gegen die Kriegsvorhaben der Bush-Regierung; sie konnte nur etwa 1000 Teilnehmer dafür mobilisieren.
In dem Maße, wie die Kriegsgefahr jedoch konkreter wurde, wurde es möglich, die Gewerkschaftsverbände KESK und DISK, den Ärzteverband TTB, den Ingenieursverband TMMOB sowie kleine und große politische Organisationen und Gruppierungen für eine Koordination von Antikriegsaktionen zu gewinnen. Ihre Zahl wuchs auf etwa 150 an, doch zunächst schafften auch sie es nicht, mehr Teilnehmende zu mobilisieren.
An der ersten Antikriegsdemonstration der Koordination in Istanbul am 26.Januar nahmen nur etwa 5000 Leute teil, und am 15.Februar, dem weltweiten Aktionstag gegen den Krieg, waren es mit 7000 nur geringfügig mehr. Bemerkenswert war das Fehlen der kurdischen Organisationen, die auf Demonstrationen sonst die meisten Teilnehmenden stellen. Sie waren zurückhaltend, weil sie sich einerseits vorrangig auf den Kampf gegen die Isolationshaft von Abdullah Öcalan konzentrierten, andererseits wegen der Möglichkeit eines Kurdenstaats nach dem Krieg nicht aus der Reserve kommen wollten. Sie forderten ultimativ, die Isolation von Öcalan müsse auf Antikriegsdemonstrationen thematisiert werden. Nach der Kundgebung vom 15.Februar in Istanbul wurden Molotow-Cocktails geworfen und ein Schaufenster eingeschlagen, sodass einige Gruppierungen von weiteren gemeinsamen Aktionen abrieten. Nach langen Diskussionen wurde trotzdem eine gemeinsame Basis für Aktionen am 1.März gefunden.
An dem Tag war auch der konservative Gewerkschaftsverband Türk-Is präsent, und die Berufsverbände mobilisierten stark. Die Lehrergewerkschaft stellte mit 10000 Teilnehmenden den stärksten Block. Auch die ÖDP erreichte nach langer Zeit wieder eine beachtliche Mobilisierung, mit auffallend vielen jungen Teilnehmenden.
Islamistische Organisationen nahmen ebenfalls teil, achteten die Disziplin der Demonstration, riefen aber ihre religiösen Parolen. Sie hatten am Vortag, nach dem Freitagsgebet, eine spontane Demonstration gegen den Krieg organisiert. 20 Parlamentsabgeordnete der Oppositionspartei nahmen nach der Abstimmung im Parlament an der Demonstration teil.
Das Scheitern der Regierungsvorlage hat der Antikriegsbewegung einen wichtigen Auftrieb gegeben. Die Abgeordneten der AKP haben aber vor allem ihre islamischen Wähler im Auge, nicht die Demonstranten. Islamische Zeitungen wetterten dagegen, dass eine sich als islamistisch verstehende Regierung gegen ein anderes islamisches Land Krieg führen wolle; zwar sähen sie Saddam Hussein nicht unbedingt als einen Freund des Islam, aber es gehe ihnen ums Prinzip.
Die Armee will um jeden Preis einen kurdischen Staat im Nordirak verhindern. Anfänglich schwieg sie, was so interpretiert wurde, dass sie gegen die Forderung der USA sei. Ihr Motiv war aber, dass sie den Islamisten keinen Vorwand liefern mochte, sie hätten wegen des Drucks der Armee nicht anders entscheiden können. Nach der ersten Abstimmung hat die Armeeführung dann ihre Unterstützung für die Regierungsvorlage erklärt.
Das Votum des Parlaments hatte die Kriegsvorbereitungen nicht verhindert. Die Regierung hat den USA erlaubt, die Flughäfen im Osten der Türkei zu modernisieren und neue Stützpunkte zu bauen. Schweres Kriegsgerät und Personal wurde in die Osttürkei geschickt. Die südöstlichen Häfen wurde zu Militärgebiet erklärt und gesperrt — auch für Parlamentarier.
Es steht zu erwarten, dass die neue Regierung das Abkommen mit den USA noch einmal abstimmt und somit die Nordfront doch noch eröffnet wird, wenn auch verspätet. Die Regierung braucht dringend die Finanzhilfe aus den USA. Ansonsten hofft sie, dass bis zu den nächsten Wahlen in fünf Jahren alles vergessen sein wird.
Die Diskussion in der Gesellschaft geht aber weiter. Auch darüber, dass der Krieg für das Land den Ausnahmezustand bedeutet und damit die vor kurzem erlangten Freiheiten wieder eingeschränkt werden.

Masis Kürkçügil, Istanbul

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