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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2003, Seite 21

Q wie Qohelet

Luther Blissett: Q, München: Piper, 2002, 22,90 Euro

Der Roman Q entführt uns in das Europa des 16.Jahrhunderts, vornehmlich nach Deutschland. Hinter dem Pseudonym Luther Blissett stecken vier Italiener: Federico Guglielmi, Luca Di Meo, Giovanni Cattabriga und Fabrizio P. Belletati. Sie gehören zum Kollektiv Wu Ming, das sich selbst als "Labor für die Gestaltung von Literatur in verschiedenen Medien" bezeichnet. (Zur Selbstdarstellung des Kollektivs siehe www.wu mingfoundation.com.) Wu Ming ist chinesisch und bedeutet "kein Name". Diesem Konzept, in dem Copyright und bürgerliche Vorstellungen von geistigem Eigentum abgelehnt werden, ist auch das Pseudonym "Luther Blissett" verpflichtet. (Siehe www.lutherblissett.com.) Die vier Autoren sind der Kern des im Jahr 2000 beendeten Luther-Blissett-Projekts. Dabei ist "Luther Blissett" nicht einfach ein Kollektivpseudonym, sondern Ausdruck einer künstlerischen "multitude", die dem Bewusstsein der globalen Gemeinschaft aller Menschen Ausdruck verleihen soll. Das Projekt kommt aus dem Dunstkreis der italienischen No-Global-Bewegung.
Warum verschreiben sich Leute mit einem so ausgeprägt postmodernen Selbstverständnis dem klassisch modernen Genre des historischen Romans? Die Erklärung liegt vielleicht darin, dass das beginnende 21.Jahrhundert von vielen Menschen ebenso als Übergangszeit empfunden wird wie das 16.Jahrhundert. Damals begann der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, in unserem Jahrhundert sehen viele Menschen die Chance, vom globalisierten Kapitalismus zu einer "anderen Welt" überzugehen. Ob diese Analogie nun richtig oder falsch ist, wird die Zukunft zeigen, sie erklärt zumindest das Interesse für das 16. Jahrhundert.
Der Roman erstreckt sich fast über ein halbes Jahrhundert, von den Anfängen der Reformation in Wittenberg 1517 über den Bauernkrieg 1525, das Täuferreich in Münster 1534, das Konzil von Trient, das die katholische Gegenreformation einleitete, bis zum Exil der Hauptperson in Istanbul 1555. Die Hauptfigur des Buches hat keinen und viele Namen: Brunnengert, Lot, Tiziano usw. Seine Namen sind so austauschbar wie Luther Blissett und Wu Ming. Er ist zunächst ein Anhänger Luthers. Als dieser sich den Fürsten zuwendet, schließt er sich Thomas Müntzer an und erlebt dessen vernichtende Niederlage bei Frankenhausen 1525. "Omnia sunt communia": Alles gehört allen, diesem kommunistischen Prinzip ist Müntzer ebenso wie die Täufer verpflichtet, denen der "Held" sich nach Müntzers Hinrichtung anschließt. Das Experiment von Münster endet im Blutbad. Danach geht es quer durch die Täufergemeinden in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Italien. Dort verbündet sich die Hauptperson mit aus Spanien und Portugal geflohenen Juden, um in Italien die Ideen der Reformation zu verbreiten. Alle Vorhaben des namenlosen Mannes mit den vielen Namen scheitern.
Sein Gegenspieler ist Q: das steht für Qohelet, ein Buch des Alten Testaments. Es verbreitet Fatalismus, Obrigkeitsgläubigkeit und Frauenfeindlichkeit. Deswegen eignet sich der Name Qohelet wohl ganz gut für einen Spion des Chefs der römischen Inquisition: Giovanni Pietro Carafa. Auch dieser ist eine historische Person, die als Paul IV. von 1555 bis 1559 Papst war. Q folgt dem Namenlos-Vielnamigen wie ein Schatten. Überall wo er ist, ist Q auch und richtet Unheil an, denn er treibt die Anhänger des radikalen Flügels der Reformation zu unverantwortlichen Taten und liefert sie so der blutigen Rache der Fürsten aus.
Das Buch ist nicht nur historischer Roman. Es ist auch ein spannender Abenteuerroman, ein Entwicklungsroman und eine Art Schlüsselroman. Einige Interpretationen wollten hinter den Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Strömungen der Reformation gar die Differenzen zwischen den Fraktionen der "Antiglobalisierungsbewegung" entdecken, und einige sahen sogar im Martin Luther des Buches den Chef der italienischen Sozialdemokratie Massimo D‘Alema. Vermutlich ist es aber eher so, dass Prozesse in sozialen Bewegungen sich über die Jahrhunderte immer ähnlich sehen, und dass auch schon im 16.Jahrhundert aus Revolutionären recht schnell Verbündete der Herrschenden werden konnten.
Ein interessantes, gut geschriebenes, spannendes und in jeder Hinsicht lesenswertes Buch.

Andreas Bodden

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