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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, April 2003, Seite 21

Theater im Revier: mal anders

Es gibt in Bochum Theater und Theater — für das bekannte Schauspielhaus muss wohl nicht erst geworben werden. Aber die ein bisschen anderen, wie das Prinzregent-Theater (in einer stillgelegten Schachtanlage) oder das TheaterTotal in den Eickhoff-Hallen benötigen schon die Aufmerksamkeit von Leuten, die nicht nur in den großen Stadttheatern Schauspielkunst sehen wollen. Wo mehr Selbstorganisation, soziale Wirkungen und (gesellschafts)politisches Engagement des Theaters zählen.
Dies ist ein besonderes Projekt: seit 1996 finden sich jedes Jahr neu rund 25 junge Leute aus ganz Deutschland mit Künstlern aus ganz Europa in Bochum zusammen um Theater zu machen. Und das von morgens bis abends mit allen Aspekten, die Theater bietet: Schauspielern, Improvisieren, Tanz und Musik, Bühnenbau und Bühnenbild, Werbung und Sponsoring, Kunst und Technik — eben "Theater total" für jede und jeden.
Für viele der jungen Teilnehmenden dient es zur Berufsorientierung, zur Erkenntnis individueller Stärken, doch vor allem soll das Gefühl für Verantwortung und der Mut, Probleme wahrzunehmen und anzupacken, geweckt werden. Jeder Einzelne trägt hier Verantwortung, von der Auswahl des Stücks bis zur Tourneeplanung. Der Schauspielunterricht wird durch Tanz, Körpertraining und Malerei ergänzt. Kreativität, Selbstorganisation sowie soziales Miteinander stehen im Vordergrund. Dieses Mal gab eine ausdrucksstarke Performance über "Wärme" einen Eindruck von der Intensität der Truppe. Höhepunkt ist die Inszenierung eines Stücks und eine Tournee durch Deutschland.
Für dieses Projekt hat ein Maschinenbauunternehmen in Bochum eine Werkshalle und die ehemalige Kegelbahn mit Sozialräumen zur Verfügung gestellt.
Die Leiterin Barbara Wollrath-Kramer schreibt: "Immer breitere Bevölkerungsschichten haben das Gefühl, überflüssig zu sein, leiden an Depressionen und Krankheiten, leben in ständiger Angst vor Arbeitslosigkeit. Trotz allem sind viele bereit, etwas Neues zu beginnen … Mein größtes Anliegen ist es, dass junge Menschen lernen, Verantwortung zu tragen für sich, für die anderen und für die Umwelt … Du kommst auf die Welt und kannst sie verändern, wenn du willst … Alle jungen Menschen, die zu TheaterTotal kommen, werden unsere Zukunft maßgeblich mitgestalten … Durch bewusstes und individuelles Arbeiten lernen die jungen Menschen, ihre Visionen in Worte zu fassen und gegen alle äußeren und inneren Widerstände hindurch zu verwirklichen … Ein Weg zum Entdecken und Stärken dieser Fähigkeiten führt über das künstlerische und das soziale Handeln … So verwundert es nicht, dass jeder Teilnehmer von TheaterTotal — mit oder ohne Schulabschluss — nach dem Projekt seinen Ausbildungsplatz, seine Studienrichtung, seinen Studienplatz gefunden hat."
Träger dieses Projekts, das schon internationale Auftritte und Workshops hinter sich hat, ist ein Verein namens "Theater Macht Mut".
Molières gesellschaftskritische Komödie Der Menschenfeind von 1666 nimmt die höfische Gesellschaft Ludwig XIV. in Frankreich aufs Korn. Es ist der Versuch des Einzelnen innerhalb einer konventionellen bis korrupten Gesellschaft individuell zu bestehen, sie zu kritisieren und ändern zu wollen.
Durch Ausprobieren, spielerisches Improvisieren und gedankliche Auseinandersetzung mit diesem Stück hat die Gruppe ein Pendant in der glitzernden Scheinwelt des Unterhaltungsfernsehens der heutigen Zeit gefunden.
So wütet der Protagonist Alceste in der Inszenierung von TheaterTotal dann auch durch das Studio einer gefeierten Prominententalkshow. Unnachgiebig übt er Kritik an der Oberflächlichkeit der Reichen und Schönen des Showbusiness. Das Drama in der Komödie: Gerade er verliebt sich in die femme fatale des Senders, die glitzernde Starmoderatorin Célimène. Er scheitert im Widerspruch mit seinen hohen Idealen an der eigenen Persönlichkeit und sieht seinen einzigen Ausweg darin, aus dieser Gesellschaft zu fliehen und in die "Wüste" zu gehen.
Benutzt wird die Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger; sie scheint sich durch die moderne Sprache mit zahlreichen Seitenhieben auf eine glänzende Party- und Konsumgesellschaft für den Rahmen eines Fernsehstudios zu eignen — das zeitgemäße Milieu, das die jungen Leute aus eigener Anschauung kennen.
"Die Brisanz des Themas", schreiben sie in ihrer Ankündigung, "liegt für TheaterTotal in der täglichen Überflutung durch die Medien, die uns mit dem Schein von Glück, Wohlstand und Liebe unterhalten, sodass wir die Augen nur allzu oft vor der Realität verschließen."
Mit diesem Stück und auf der Basis der Intensität des eigenen Konzepts gibt es am 11.April 2003 Premiere in Bochum in der Performance-Halle Eickhoff an der Wasserstraße.
Für die folgende Tournee sind unter anderem Stuttgart, Heidenheim, Paderborn, Gütersloh, Heidelberg und Köln schon feststehende Aufführungsorte. Mit der erstmaligen Teilnahme am Türkisch-Deutschen Theaterfestival der Ruhr-Universität Bochum will TheaterTotal ebenfalls eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe der Kunst wahrnehmen: zur Völkerverständigung und zum Vorurteilsabbau beizutragen.
So ein Theater "macht Mut" — in Bochum auf jeden Fall dorthin zu gehen, oder in anderen Städten, wenn die Tournee in die Gegend kommt — genaue Informationen auf der Homepage: .

Rolf Euler

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