SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2003, Seite 5

"Das hat uns umgeworfen"

Jakob Moneta über den Mai 1933, das Versagen der damaligen Gewerkschaften und die Parallelen zu heute

Theodor Leipart, der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbunds (ADGB), reagierte auf die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler mit der Parole "Organisation, nicht Demonstration — das ist die Parole der Stunde". Die Rettung der eigenen Organisation war also oberste Maxime der Gewerkschaften im deutschen Faschismus. Der Höhepunkt dieser Anpassungsfeiern waren die 1.Mai-Feiern von 1933, die die Gewerkschaften als "Tag der nationalen Arbeit" feierten — bevor sie alle einen Tag später verboten und zerschlagen wurde. Jakob Moneta hat die Machtergreifung Hitlers und die Zerschlagung der Gewerkschaften als 18-jähriger engagierter Sozialist miterlebt.

Wie hast du die 1.Mai-Feiern des Jahres 1933 erlebt?
Wir waren überrascht, zu sehen, dass die Gewerkschaftsführung dazu aufgerufen hat, an diesen Demonstrationen vom 1.Mai 1933 teilzunehmen. Wir hatten ja 1932 in Köln eine 1.Mai-Demonstration, wo die KPD und die SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) zusammen und getrennt von der Sozialdemokratie demonstriert haben. Letztere war nicht bereit, zusammen mit der KPD zu demonstrieren. Damals begann die KPD gerade mit ihrer Losung "Wer hat uns verraten — Sozialdemokraten" und die SAP, die ja für die Einheitsfront war, ging daraufhin aus der Demonstration raus und machte einen Linksschwenk.
Es demonstrierten in Köln, wo ich damals lebte, also etwa 1500 SAPler, 8000 oder mehr Kommunisten und die Sozialdemokraten mit 3000—4000 Leuten. Damals begannen die Diskussionen um die Frage der Einheitsfront, mit der wir glaubten, den aufziehenden Faschismus besiegen zu können und zu müssen. Als dann 1933 dazu aufgerufen wurde, am nationalen Tag der Arbeit mit zu demonstrieren, da war mir klar, dass es vorbei war. Das war ein Sieg der Nazis, der uns umgeworfen hat. Einen Tag später wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt, das Vermögen der Gewerkschaften beschlagnahmt und die Gewerkschaften zerschlagen.
Bis heute wird ja immer wieder behauptet, dass es keine andere Chance gegeben habe. Aber das stimmt einfach nicht, dafür gibt es überzeugende Zeugnisse, wie ich ebenfalls nicht müde werde, immer wieder zu betonen. Wilhelm Hoegner, Reichstagsmitglied der SPD und nach dem Zweiten Weltkrieg bayrischer Ministerpräsident, hat seine Erinnerungen Flucht vor Hitler unmittelbar nach seiner Emigration in die Schweiz geschrieben. Der Lektor der Exil-SPD- Verlags lehnte 1937 eine Veröffentlichung ab, weil "die unerbittliche Wahrheit" noch nicht ausgesprochen werden dürfe.
Erst 40 Jahr später erschienen die Erinnerungen, in denen Hoegner schreibt: "Der schwerste Schlag des Jahres 1932 war die Preisgabe der roten Feste Preußen gewesen. Die deutsche Sozialdemokratie hatte sie am 20.Juli 1932 kampflos geräumt. Dabei war der Versuch eines Widerstands gegen den Staatsstreich des Reichskanzler Papen und seiner Regierung der Barone gar nicht aussichtslos … In den Berliner Großbetrieben warteten die Vertrauensleute der freien Gewerkschaften fiebernd auf das Zeichen zum Beginn des Generalstreiks. Bei der Erbitterung der Zentrumspartei gegen den abtrünnigen Katholiken Papen wären auch die christlichen Gewerkschaften im Rheinland und in Westfalen in den Streik hineingerissen worden. Ebenso wäre trotz aller Verhetzung gegen die Sozialdemokratie, genau wie beim Kapp- Putsch, auch die Kommunisten in die Front gegen die Verfassungsbrüche mit eingeschwenkt … Aber die deutsche Sozialdemokratie besaß schon damals nicht mehr die Kraft zu einer entschlossenen Tat. Es reichte gerade noch zu einer kraftmeierischen Geste aus."
Gegen Hitlers Ernennung zum Reichskanzler war nach Meinung unserer Gewerkschaftsführer nichts zu machen. Sie war angeblich legal. Hoegner beschreibt, wie manche andere auch, dass die sozialistische Überzeugung noch tief in Millionen Herzen verwurzelt war, während schon die Gewerkschaftshäuser brannten. Unter einer entschlossenen Führung wären wir unüberwindlich gewesen. Da diese aber vor den letzten schweren Schlüssen zurückschreckte, blieben wir zur Ohnmacht verurteilt.
Dass diese Stimmung mehrheitlich da war, zeigen ja auch die Betriebsrätewahlen vom Frühjahr ‘33, die bereits unter dem Hitlerfaschismus noch eine Vierfünftelmehrheit für die demokratischen Gewerkschaften ergaben. Es lag also nicht an den quantitativen Verhältnissen, dass die Gewerkschaften in den entscheidenden Monaten eine solch unentschlossene Politik machten. Noch in den Wahlen vom März ‘33 erhielten die Nazis bekanntlich einen Stimmenanteil von 43,7% und in den letzten freien Betriebsrätewahlen vom April ‘33 erhielten sie nur 11,7% der Betriebsdelegierten. Das beweist, dass all jene lügen, die die Schuld den angeblichen Massen, die zu den Nazis übergelaufen seien, anlasten.

Warum ist es dann nicht zu vergleichbaren Prozessen wie jenen in Österreich ein Jahr später gekommen. Auch dort schreckte die Führung vor dem Kampf zurück, aber große Teile der Arbeiterschaft erhoben sich 1934 trotzdem.
Die Österreicher hatten ja schon das deutsche Beispiel vor sich. Das spielte eine große Rolle. Doch auch dort gab es keine organisierte Mobilisierung der Arbeitermassen, das waren einzelne von den mittleren Führern, die dann ja auch später hingerichtet wurden.
Aber denk an Frankreich. Dort sind die Gewerkschaften und Sozialisten in die Offensive gegangen mit der Volksfront. Das begann auf der Straße. Da haben Sozialisten und Kommunisten getrennt demonstriert und es kam immer wieder die Losung "Unité, Unité" (Einheit).
Man darf nicht vergessen, dass die französische KP schon aus der deutschen Erfahrung gelernt hatte. In Deutschland spielte dagegen die Sozialfaschismustheorie einen große Rolle: Die Sozialdemokraten wurden von den Kommunisten Sozialfaschisten genannt, und umgekehrt nannten die Sozialdemokraten die Kommunisten rote Faschisten. Man darf auch nie den großen Unterschied zwischen Deutschland und Italien oder Frankreich vergessen. In Deutschland war die Arbeiterbewegung sehr straff organisiert und sie glaubte an ihre Führung. Mit dem Zusammenbruch der Führung war deswegen für sie alles gestorben.

Wie haben sich diese Ereignisse im kleinen, im Alltag niedergeschlagen?
Nur ein kleines Beispiel: Wir hatten im SJV, im Sozialistischen Jugendverband der SAP, wo ich aktiv war, eine Genossin, die mir irgendwann sagte, ich müsse unbedingt mit ihr nach Hause gehen und mit ihrem Vater reden. Ihr Vater war sein Leben lang Sozialdemokrat und wählte nun die Nazis. Dann kam ich in eine Wohnung, da war alles ausgeräumt. Da standen nur ein Bett, ein Tisch und Stühle, das war alles. Da habe ich mit ihm gesprochen und er hat mir erzählt: Ich bin Ingenieur, Facharbeiter und in der ganzen Welt gewesen. Ich bin jetzt seit drei Jahren arbeitslos — jetzt muss es anders werden und der einzige, der uns Arbeit verspricht ist der Hitler. Ich war völlig erschlagen. Aber das waren vor dem Hintergrund dessen, was ich gerade erzählt habe, einzelne, die damals schon umgeschwenkt sind.

Man kann sicherlich keine direkten Parallelen von damals nach heute ziehen. Aber eine ist mir aufgefallen. Ein Schlüsselelement der damaligen konservativen und faschistischen Propaganda war ja die abfällige Rede von Weimar als einem vermeintlichen Gewerkschaftsstaat. Die aktuellen Angriffe von neoliberalen CDUlern oder FDPlern benutzen eine ausgesprochen ähnliche Diktion.
Du hast Recht, wir stehen nicht vor einem neuen Faschismus, das kann man nicht vergleichen. Aber die Rechten haben in der Tat dieselben Argumente wie damals.

Aber liegt nicht auch eine Parallele darin, dass die heutigen Gewerkschaften diesem Gerede vom vermeintlichen Gewerkschaftsstaat wenig entgegen zu setzen haben?
Das ist nicht vergleichbar. Damals waren die Gewerkschaften diejenigen, die als erstes kapituliert haben. Heute ist es ja umgekehrt. Heute ist es so, dass die Gewerkschaften zumindest offiziell so tun, als ob sie dagegen sind. Und du siehst ja, dass es Wirkung zeitigt. Sie sind eine objektive Macht, und es ist die Frage, ob sie diese Macht auch einsetzen.
Nimm das Beispiel des Machtkampfs zwischen Berthold Huber und Jürgen Peters in der IG Metall. Der Huber, den man von oben einsetzen wollte, ist ja ein aus dem [maoistischen] KBW kommender "Reformer", einer, der seinen Weg zum "Genossen der Bosse" gemacht hat. Während der die Kapitulation von vornherein beabsichtigt, ist dies bei Peters doch noch anders. Der hat noch mehr Verbindungen zu jenen Betriebsfunktionären, die noch kämpfen wollen. Ob er sich wirklich durchsetzen wird, ist noch eine andere Frage, denn im neuen verkleinerten Vorstand werden sicherlich viele Anhänger von Huber sitzen.

Wie könnten, wie sollten Gewerkschafter in einer solchen Situation wie heute wieder in die Offensive kommen?
Diese wichtige Frage stellte sich, um ein wenig zurückzugehen, bereits in den 20er Jahren. Nach dem Verebben der revolutionären Nachkriegswelle, gab es große diesbezügliche Diskussionen, bei denen Lenin auf einem Kongress der Kommunistischen Internationale für eine Resolution zu Teil- und Übergangsforderungen intervenierte. Der IV.Weltkongress verurteilte gleichermaßen entschieden die Bestrebungen, die Einführung von Übergangsforderungen als Opportunismus darzustellen, was verschiedene Ultralinke getan haben, wie auch alle Versuche, die grundlegend revolutionären Aufgaben durch Teilforderungen zu vertuschen oder zu ersetzen. Letzteres ist besonders wichtig, denn es bedeutet, dass nicht einfach die eigenen Ziele über Bord geworfen werden, sondern dass es, gerade um sie zu verwirklichen, nötig ist, sie durch Übergangsforderungen zu vermitteln.
Ich denke, wir sind heute an einem Punkt angelangt, uns hieran wieder zu erinnern und zu sagen, dass wir mit dieser Gesellschaftsordnung, solange der Kapitalismus so bleibt wie er ist, keinen Blumentopf gewinnen können. Um aus diesem System heraus zu kommen, brauchen wir Übergangsforderungen. Auch in den Betrieben sind die Leute heute für mehr Lohn, weniger Arbeitszeit und anderes — immer aber als vereinzelte Forderungen. Was wir nicht haben, ist ein zusammenfassendes und weiter treibendes Übergangsprogramm, dass solche Teilforderungen mit den sozialistischen Zielvorstellungen vermittelt.

Woran denkst du konkret?
Eine heutige Übergangsforderung wäre meines Erachtens mindestens die verallgemeinerte 35-Stunden-Woche, eigentlich sogar die 30-Stunden-Woche mit Lohnausgleich. Arbeitszeitverkürzung, Urlaubsausdehnung, Rentensystem — all dies waren bspw. in den 50er Jahren erfolgreiche Mittel, dem technologischen Freisetzungsprozess zu begegnen und Vollbeschäftigung zu schaffen. Heute tun wir so, als ob dies alles gar nicht möglich ist.
Dass man heute durch die Verringerung der Löhne und Arbeitseinkommen neue Arbeitsplätze schaffen kann, ist dagegen ausgeschlossen, ist ein neoliberales Märchen, dass seit 20 Jahren nichts gebracht hat.

Schröder hat in seiner Ruck-Rede sowohl die Kriegsfrage als auch die Frage des Sozialabbaus zusammengedacht. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Gewerkschaften beide Fragen gleichermaßen in einem Zusammenhang denken. Hinter beidem steckt das Recht des Stärkeren, das neoliberale Denken gleichsam als Faustrecht — mal nach außen, mal nach innen.
Ja, aber gerade hier musst du sehen, dass wir heute eine ganz andere Situation haben als 1933. Die Tatsache, dass es gelungen ist, Millionen Menschen auf die Straßen zu bekommen, vor allem die Jugend, ist, egal wie weit der Schröder mit uns geht oder was er im Hinterkopf hat, ein sehr großer Erfolg. Du siehst, wie schnell sich Situationen ändern können. Gerade die Menschen in den Betrieben sind heute nicht sehr kampfbereit, aber man kann dort wieder hinkommen. Und unsere Aufgabe ist es, die Alternativen wieder aufzuzeigen und zusammenzutragen.

Das Gespräch für die SoZ führte Christoph Jünke.

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