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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2003, Seite 6

Kein Handel mit der Gesundheit

Ver.di-Kritik an Ver.di-Positionen

"Gegen die marktwirtschaftliche Ausrichtung des Gesundheitswesens." So nennt der Bezirk Stuttgart der Gewerkschaft Ver.di eine Streitschrift "Für den Erhalt der Solidarsysteme", unterschrieben von einer großen Zahl Funktionäre und Beschäftigter aus dem Gesundheitswesen.
Diese Streitschrift hat eine eigene Geschichte in der langen Reihe von Papieren zur "Reform" des Gesundheitswesens, ist sie doch als Gegenposition zu der vom Ver.di-Vorstand entwickelten Perspektive formuliert, die von Frank Bsirske und dem in der Rürup-Kommission tätigen Fachmann Lauterbach unter dem Titel "Qualität und Effizienz" veröffentlicht wurde.
Die meisten Menschen verstehen unter "Gesundheitsreform", dass sie selber für ihre Gesundheit mehr bezahlen sollen. Dies war auch ausdrücklich Teil der Erklärung des Bundeskanzlers am 14.März und ist die Kernaussage der Rürup-Kommission. Einige Formulierungen der Gesundheitsministerin Schmidt Ulla konnten nur in ähnlicher Weise verstanden werden.
Wenn allerdings in der Öffentlichkeit oft ein anderer Eindruck erweckt wird, dann liegt das an den vielfältigen Interessen, die im Gesundheitswesen aufeinander prallen und oft gar nicht unter einen Hut zu bringen sind. Und es liegt daran, dass Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser als "Anbieter" von Gesundheitsleistungen bisher hauptsächlich auf Kosten der Beschäftigten gespart haben, deren Interessen Ver.di zu vertreten hat.
Eine Hauptstoßrichtung der Reformen unter "Rot-Grün" ist die zunehmende Privatisierung aller Bereiche der sozialen Sicherungssysteme. Hier wird die Konkurrenz unter privaten und öffentlichen Anbietern gefordert und gefördert, was die Ausweitung privater Dienste und die Zunahme von Privatversicherungen zur Folge hat, die allein von den Versicherten bezahlt werden; das wiederum führt zur Untergrabung der bisher paritätisch finanzierten gesetzlichen Krankenkassen.
Zunächst kennzeichnete der Ver.di-Vorstand die Richtung der Reformen als Verbesserung der "Qualität durch Wettbewerb" — so als ob sie ohne zusätzliche Belastung der Kranken und Versicherten erfolgen könne. Auch begrüßte er mehrere in der Gesundheitsreform geforderte Maßnahmen, mit denen sich das Autorenkollektiv um Thomas Böhm und Bernd Riexinger vom Stuttgarter Ver.di-Vorstand sehr kritisch auseinandersetzen; sie weisen in der Broschüre auf die ungünstigen Folgen dieser Maßnahmen hin, die dann in Kauf genommen werden müssen.

Martkwirtschaft und Solidarität schließen sich aus

Sie schreiben: "Die Forderung nach mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen und nach marktwirtschaftlicher Steuerung ist der kleinste gemeinsame Nenner aller ‚Reform‘-Vorschläge … Eine solche Entwicklung wäre nicht weniger gefährlich, da sie das Solidarsystem über kurz oder lang von innen heraus aushöhlen würde. Bei den aktuellen Verlautbarungen muss sogar davon ausgegangen werden, dass beides passiert, sowohl die faktische Verabschiedung von Parität und Solidarprinzip, als auch die Einführung von mehr Markt und Wettbewerb."
Statt die Ver.di-Beschäftigten mit einem neuen Leitbild von "Qualität und Wettbewerb" zur politischen Unterstützung der Regierung zu nötigen, fordern die Unterzeichner u.a. "die verstärkte finanzielle Inanspruchnahme der Arbeitgeber und der Reichen" und die Mobilisierung der Organisation gegen die aktuellen "Reform"bestrebungen.
Die einseitige Betrachtung allein der Ausgabenseite der Krankenversicherungen und die alleinige Ausrichtung der Reformen auf die Reduzierung der "Lohnnebenkosten" verschiebt völlig die Perspektiven, die die Gewerkschaft eigentlich einnehmen müsste. Die Verfasser werfen der Position von Bsirske und Lauterbach vor:
"Es wird geleugnet, dass es um knallharte Interessengegensätze geht. Angeblich verlaufen die Fronten zwischen guten und schlechten Leistungsanbietern. Anscheinend nicht mehr zwischen Arbeitnehmern (die den gleichen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung wollen, die sich am medizinischen Bedarf orientiert, zu bezahlbaren Bedingungen und mit akzeptablen Arbeitsbedingungen in den einzelnen Gesundheitseinrichtungen) und den Arbeitgebern (die in einem möglichst offenen Markt, den sie am besten nicht selbst finanzieren müssen, viel Geld verdienen wollen)."
"Marktwirtschaftliche Mechanismen und Solidarität schließen sich aus. Das eine baut auf Konkurrenz und auf die Erzeugung von Gewinnern und Verlierern. Das andere darauf, dass es keine Verlierer gibt. Marktwirtschaftliche Mechanismen machen das Solidarsystem nicht fit, sondern untergraben es, indem sie Ungleichheiten fördern."

Detailkritik

Aus verschiedenen Äußerungen des Gesundheitsfachmanns Karl Lauterbach schließen die Stuttgarter Autoren, "dass letztlich an nichts anderes gedacht ist, als daran, gewisse Rahmenbedingungen zu setzen und dann einen ganz normalen (Gesundheits-)Markt zuzulassen, in dem sowohl die Anbieter (Krankenhäuser, Niedergelassene) als auch die Käufer (Krankenkassen) nach gewinnorientierten Gesichtspunkten agieren. Die Patienten nehmen in diesem Szenario quasi die Rolle des Werkstücks ("Patientengut") für die Profitinteressen bzw. Überlebensstrategien der einzelnen Marktteilnehmer ein". Das wird auch an den "Reformbestandteilen" deutlich, gegen die die Broschüre argumentiert.
Wettbewerbsinstrumente, die zum Teil schon eingeführt wurden, sind z.B. der Kassenwechsel — also die "Jagd nach den Gesunden" —, oder die Fallpauschalen (DRGs — Diagnosis Related Groups) in den Krankenhäusern: Sie sind Ausdruck "des wachsenden Einflusses ökonomischer Ziele auf patientenbezogene Entscheidungen" und werden zur Patientenselektion und eher zu vorzeitigen Entlassungen führen, um die Kosten der Behandlung unter dem erzielbaren Preis zu halten. Für die Chroniker-Programme (DMPs — Disease-Management-Programme) gilt entsprechend: Sie werden zum Preissystem für Patienten, mit Anreizen und Bestrafungen in Form von mehr oder weniger hohen Beiträgen.
Die Einkaufsmodelle der Kassen sollen zu mehr Wettbewerb unter den Anbietern — Ärzten und Krankenhäusern — beitragen. Hier wird die Versorgung in der Fläche, die bedarfsorientierte Behandlung im gesamten Gesundheitssystem, abgelöst von einem Preiswettbewerb der Krankenhäuser und Ärzte, die zu Konzentration und Streben nach maximalen Überschüssen, aber nicht zur qualitativ besten Versorgung beitragen wird.
Insbesondere argumentieren die Verfasser der Broschüre gegen die Vorstellung, die Patienten seien sozusagen informierte und bewusste "Marktteilnehmer" in Sachen Gesundheit. Wenn aber zunehmend ökonomische Entscheidungskriterien angelegt werden, wie soll da ein Vertrauen existieren, dass die Behandlung nach medizinischen Gesichtspunkten optimal ist, und wo ist sie es nicht? Statt mehr Wettbewerb müsste eine echte Qualitätskontrolle mit allgemein überprüfbaren Normen und Verfahren aufgebaut werden.
Die Ver.di-Kollegen weisen auch zu Recht darauf hin, dass nach EU-Recht und mit dem Fortschreiten des GATS-Prozesses die Einführung von Wettbewerbselementen in öffentliche Dienstleistungen dazu führt, dass diese insgesamt dem Wettbewerbsrecht und somit dem freien Waren- und Dienstleistungsverkehr unterliegen. Hier sei nur auf die Folgen der Privatisierung bei Bahn und Post hingewiesen, bei denen nicht mehr die Versorgung mit Dienstleistungen, sondern das gewinnorientierte Wirtschaften Unternehmenszweck ist — die Verbraucher haben das Nachsehen.
Die Argumentation des Ver.di-Bezirks Stuttgart gehört in jede Diskussion und Veranstaltung zum Gesundheitswesen. Besonders für die Beschäftigten ist sie von Interesse, die schon länger am eigenen Leib spüren, was diese Art Reform bedeutet.
Es kann dann auch nicht bei papiernen Protesten bleiben, wenn Kranken, Alten und Arbeitslosen Geld abgenommen, den Reichen aber weitere Steuer- und Abgabensenkungen geschenkt werden. Gegen die Gesundheitsreform nach Art von Schröder und Rürup muss entschieden angegangen werden.

Rolf Euler

Bezugsquelle: Gegen die marktwirtschaftliche Ausrichtung des Gesundheitswesens (Hg. Projektgruppe Gesundheitsreform), Ver.di Bezirk Stuttgart, Willi-Bleicher- Str. 20, 70174 Stuttgart.



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