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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2003, Seite 16

Palästina

Die letzten Aufrechten

In den drei Wochen während des Krieges gegen den Irak wurden in Palästina etwa 70 Menschen ermordet, darunter über zehn Jugendliche, die Opfer von Heckenschützen wurden, und zwei junge Leute des International Solidarity Movement, Hunderte wurden verletzt. Am Tag vor dem Fall von Bagdad schoss eine Gruppe extremistischer Siedler bei Jenin eine Granate in eine palästinensische Schule; zwanzig Kinder wurden verletzt.
Die neue palästinensische Führung schwieg dazu peinlich die ganze Zeit über. Auch zur Bombardierung und Belagerung der irakischen Bevölkerung hat sie geschwiegen. Damit hat sie sich an die Seite der übrigen arabischen Länder (mit Ausnahme Syriens) gestellt.
Schon vor Monaten, als der Beschluss fiel, den Irak anzugreifen, war klar, dass er vor allem der israelischen Regierung gelegen kam. Einige Beobachter hatten vorhergesehen, dass damit die Aufmerksamkeit der Welt von Sharon abgelenkt und ihm Gelegenheit gegeben würde, die Vertreibung der Palästinenser zu Ende zu führen. Man sprach davon, die Lkws für die Deportation stünden schon an der Grenze zum Westjordanland bereit und die Schlussphase der 1948 begonnenen ethnischen Säuberung stünde unmittelbar bevor.
Seit dem letzten Sommer baut die israelische Regierung eine über 300 km lange Mauer mitten durch den künftigen "palästinensischen Staat" hindurch. Sie dokumentiert nicht nur die einseitige Entscheidung der Israelis, sich von den Palästinensern zu "trennen", sondern definiert auch selbstherrlich die Grenzen dessen, was Israel als "Friedensplan" zu akzeptieren bereit ist. Was das ist, wird durch die Mauer sichtbar: ein von allen Seiten umzingeltes Bantustan, das von strategischen Straßen durchquert wird, auf denen bewaffnete Siedlern patrouillieren.
In einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Haaretz äußert sich Sharon sehr deutlich darüber, was Israel in der nächsten Phase der Verhandlungen "abzutreten" bereit ist: "Es gibt einige Punkte, in denen wir bereit sind, bedeutende, auch schmerzhafte Schritte nach vorne zu tun. Aber eine Sache habe ich Bush mehrmals gesagt: Ich habe in der Vergangenheit niemals Zugeständnisse in Fragen gemacht, die die Sicherheit Israels betreffen, und ich werde sie auch in Zukunft nicht machen … Letzten Endes sind wir es, die bestimmen, was für Israel gefährlich ist und was nicht."
Um die Bedeutung dieser Aussage zu ermessen, muss man sich nur des Massakers von Jenin vergegenwärtigen: Nach einer über 10-tägigen Belagerung wurde das Flüchtlingslager vor den Toren von Jenin, einer Stadt im Norden des Westjordanlands, dem Erdboden gleichgemacht. Die UNO verlangte von Israel, eine Untersuchungskommission zu akzeptieren, die die Anzahl der Toten feststellen sollte — einige Quellen sprachen von über 600. Natürlich weigerte sich Israel, und die UNO schwieg wie gewöhnlich.
Heute wird der Krater, der in Jenin das Zentrum des Flüchtlingslagers "ersetzt" hat, als palästinensischer Ground Zero bezeichnet, dessen ersten Jahrestag wir in diesen Tagen erlebt haben. Er ist ein Beispiel dafür, was die israelische Regierung meint, wenn sie von ihrer eigenen "Sicherheit" spricht. Die Erklärungen Sharons lassen keinen Raum für die Hoffnung, Israel werde zu einem wirklichen Frieden mit den Palästinensern kommen.
Sharon lobt unentwegt den von Arafat designierten Ministerpräsidenten Abu Mazen. Das ist einer der am stärksten proimperialistisch eingestellten Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und eine umstrittene Gestalt. Vor einigen Monaten wurde er noch mehr oder weniger ausdrücklich des Verrats beschuldigt, weil er bei der Belagerung von Arafats Hauptquartier in Ramallah versucht hatte, mit den Israelis eine Vereinbarung über eine bedingungslose Kapitulation abzuschließen. Abu Mazen präsentierte eine Ministerliste, die Arafat gezwungen war abzulehnen (wofür er sofort von der westlichen und israelischen Presse angegriffen wurde); aber auch die wenigen annehmbaren Minister, die in seinem Plan mit unbedeutenden Ämtern betraut wurden, lehnten ihre Ernennung ab.
Während der Belagerung des Hauptquartiers von Arafat machten die Massenmobilisierungen im Westjordanland und im Gazastreifen sowie die Enthüllungen über die Operationen Abu Mazens solch ein Abkommen mit Israel unmöglich. Heute ist nicht auszuschließen, dass Abu Mazen und seine politischen Freunde von Israel und den USA an einen "neuen Verhandlungstisch" gebracht werden, wo man ihnen Angebote machen wird, die noch weit schlechter sein werden, als diejenigen von Camp David im Jahr 2000, die Arafat gezwungen war zurückzuweisen.
Die Frage ist: Werden die palästinensischen Führer unter den veränderten äußeren Umständen das kleinere Übel wählen? Werden sie sich gegen das eigene Volk stellen?
Ihr bedrückendes Schweigen der letzten Wochen lässt das Schlimmste ahnen. Die palästinensische Bevölkerung hingegen hat in diesen Wochen alles andere als geschwiegen. Wie in der ganzen Welt ist auch sie in Ramallah, Nablus und Gaza zu Tausenden auf die Straße gegangen und hat, den Panzern und der Ausgangssperre zum Trotz, Nein zum Krieg gesagt.
Natürlich hat das Schweigen der Führung der PA erneut der Hamas und dem Islamischen Jihad Zulauf verschafft; sie stehen heute an der Spitze der Demonstrationen in den palästinensischen Städten. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass sich die Bevölkerung geschlossen fundamentalistischen Positionen anschließt. Radikalität wird in Palästina nicht selbstverständlich mit Fundamentalismus gleichgesetzt. Die Volkskomitees, die das wirkliche Ziel der israelischen Liquidierungsaktionen sind, sind noch ein wichtiger Bezugspunkt in den besetzten Gebieten. Sie organisieren und verteidigen das, was vom sozialen, politischen und kulturellen Leben der Palästinenser übrig geblieben ist.
Seit über einem Jahr rekrutieren sich die als "Kamikaze" bezeichneten Männer und Frauen nicht mehr ausschließlich aus den Reihen der Islamisten. Man stirbt nicht mehr im Namen Gottes. Dies legt den Schluss nahe, dass das palästinensische Volk heute keinen anderen Ausweg mehr sieht. Das Gefühl der Ausweglosigkeit wird sich verstärken, wenn sich die heutige Führung endgültig für die Kapitulation entscheiden sollte. Nachdem die irakische Führung "beseitigt" und Bagdad gefallen ist, fühlen sich die Palästinenser als die letzten übrig Gebliebenen, die dem Feind noch die Stirn bieten.

Cinzia Nachira

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