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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2003, Seite 17

Al Jazeera

Der Krieg aus arabischer Sicht

Vor zwölf Jahren, als Saddam Hussein im August 1990 Kuwait überfiel, unterbrachen die staatlichen Sender in Saudi-Arabien, Bahrain, den Vereinigten Emiraten und Ägypten drei Tage lang die Übertragung der Nachrichten. Stattdessen boten sie pausenlos Interviews mit Prinzen, Sultanen und Staatspräsidenten, die darüber hinwegredeten, dass sie dabei waren, diesen Krieg zu unterstützen, der die Verhältnisse im Nahen Osten umwälzen sollte.
Die altbewährte Sitte, in Momenten der Gefahr zur Zensur zu greifen, hatte diesmal aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht: In Bagdad gab es etwas Neues, CNN. Der reine Nachrichtensender, der hauptsächlich von Live-Sendungen lebt, verschickte aus der irakischen Hauptstadt die ersten Feldpostgrüße über Satellit… Die Folgen kamen auf dem Fuße. Die Dächer der Metropolen auf der arabischen Halbinsel wurden über Nacht mit Satellitenschüsseln gespickt; Fatwas, die vereinzelt die sofortige Entfernung des Teufelszeugs verlangten, wurden einfach ignoriert.
Im Golfkrieg III fiel die Rolle des unbequemen, aber am ehesten als Quelle verlässliche Information akzeptierten Senders nicht mehr CNN, sondern Al Jazeera zu. Der Sender, der 1996 mit Geldmitteln von Scheich Hamad Khalifa al-Thani aus Katar aufgebaut wurde, ist wesentlich dafür verantwortlich, dass die USA den Propagandakrieg in der irakischen Wüste verloren haben.
Nicht nur in der arabischen und muslimischen Welt war Al Jazeera die Informationsquelle Nr.1. Auch "westlichen" Printmedien und Fernsehsendern, deren Journalisten, weil weder amerikanisch noch britisch, nicht in das Frontgeschehen "embedded" waren, aber dennoch aus erster Hand berichten wollten, blieb oft nichts anderes übrig, als sich auf Nachrichten und Interviews von Al Jazeera zu stützen. Dabei lernten sie schnell, das von den kriegsgeilen Medien geschürte Vorurteil, hier handele es sich nur um einen Propagandasender in den Händen Saddam Husseins, abzustreifen.
Al Jazeera hat sich sehr schnell den Ruf einer ausgewogenen Informationsquelle erworben. Anders als andere Satellitensender, die in den letzten Jahren von Dubai bis Beirut wie die Pilze aus dem Boden geschossen sind und einander Konkurrenz machen, gilt Al Jazeera als der einzige arabische Sender, der auch unbequeme Stimmen zu Wort kommen lässt. Regelmäßig werden israelische Militärs und Politiker interviewt. Er berichtet über alle internationalen Ereignisse ohne Zensur, hat irakische Generäle ebenso zu Wort kommen lassen wie US-amerikanische, darunter General Meyers, oder auch Regierungsvertreter der USA.
Ein Vertreter des Europarats äußerte während des Krieges gegen den Irak, man müsse Al Jazeera dankbar sein für seine verlässlichen Informationen. Und selbst die New York Times konnte nicht umhin zuzugeben, die USA müssten anerkennen, dass der Sender wertvolle Informationen über Al Qaeda geliefert habe. "Statt ihn zu kritisieren, müssten wir ihn als Fenster zur arabischen Welt betrachten, die uns so lange fremd geblieben ist."
Al Jazeera sendet von Doha aus, der Hauptstadt Qatars. Der Sender hat 740 Beschäftigte, darunter 300 Journalisten: Syrer, Libanesen, Marokkaner, Palästinenser, Tunesier, Algerier. Etwa hundert Frauen arbeiten für ihn. Ebenso wie CNN zeichnet er sich durch Live-Berichterstattung aus. Die meisten Reporter berichten aus der arabischen Welt, aber der Sender unterhält auch Büros in den USA, Frankreich, England und natürlich in vielen asiatischen und afrikanischen Ländern. Sie sind bei allen Konflikten dabei.
Üblicherweise zählt Al Jazeera etwa 50 Millionen Zuschauer täglich, davon 8 Millionen in Europa. Hier sprechen 14 Millionen Menschen arabisch. Der Sender expandiert. Seit Kriegsanfang hat er allein in Europa 4 Millionen neue Teilnehmer gewonnen.
Al Jazeera ist mit seiner unabhängigen Haltung auch in diesem Irakkrieg zwischen alle Fronten geraten. Er filmte vor Ort die Folgen der Bombadierung von Bagdad für die Zivilbevölkerung und bot der Weltöffentlichkeit damit eine Sichtweise, die das Hauptquartier der US-Armee in Doha zu verhehlen suchte. Die New Yorker Börse entzog dem Korrespondenten die Akkreditierung für den NYSE und den Nasdaq, weil der Sender Aufnahmen vom Verhör gefangener US-Soldaten gezeigt hatte. Später untersagte der irakische Informationsminister einem irakischen Korrespondenten in Bagdad die Dreharbeiten; ein anderer, der für Al Jazeera in Kabul gearbeitet hatte und in der arabischen Welt sehr bekannt ist, wurde des Landes verwiesen. Der Sender beschloss daraufhin, die Übertragungen aus dem Irak zu unterbrechen.
Aber auch in anderen arabischen Ländern haben sich die Fälle von Zensur in den letzten beiden Jahren gehäuft, vor allem in Saudi-Arabien. Die Regierungen in Libyen, Tunesien und Ägypten haben Korrespondenten bedroht, weil sie angeblich die Opposition zu sehr zu Wort kommen ließen. Kuwait hat Berichterstattern Visa verweigert. Jordanien hat sie des Landes verwiesen.
Nichts davon hat den Aufstieg des Senders aufhalten können. Seine Auswirkungen auf die arabische Kultur sind umwälzend. Ständig verletzt er Tabus. Al Jazeera befasst sich mit Machismo, Frauenunterdrückung, Armut, Demokratie, nimmt nationalistische Parolen kritisch unter die Lupe. Und er stellt die westliche Sichtweise von den "Guten" und den "Bösen" auf den Kopf. Ein gelungenes Pendant zu CNN — mindestens.

Angela Klein

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