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Wie schnell man im Bundestag zum Nestbeschmutzer wird, wenn man öffentlich sichtbar gegen den Krieg protestiert,
mussten im Mai 2002 drei Bundestagsabgeordnete der PDS erfahren, die während der Rede von George W. Bush ein Transparent hochhielten:
"Mr.Bush + Mr.Schröder: Stop your wars!" Der Fraktionsvorsitzende der PDS distanzierte sich damals von der Aktion. Heute versucht die
Partei, sich mit eben dieser Parole der Friedensbewegung als Partner anzudienen.
Die Aktion hatte Vorläufer im Bundestag. Auf eine dieser Vorläuferinnen richtet
Gisela Notz das Augenmerk in ihrem neuen Buch über westdeutsche Parlamentarierinnen der ersten Stunde. Hieraus veröffentlichen wir im
Folgenden die stark gekürzte Biografie von ALMA KETTIG. Ihre Lebensgeschichte ist die einer widerständigen Pazifistin, für die das Ja der
SPD zur Wiederaufrüstung das Anfang vom Ende ihrer parlamentarischen Karriere war. Es gibt nicht wenige heute, die aus ihrer kompromisslosen
Haltung lernen können.
Alma Kettig wurde am 5.November 1915 in Wuppertal-Barmen geboren. Ihre Eltern hatten
beide das Schneiderhandwerk erlernt und waren Mitglieder der SPD. Sie besuchte die "Freie Schule", ging zur Jugendweihe, wurde Kontoristin bei
der Volksfürsorge und trat dem Zentralverband der Angestellten bei. Als die SPD-Fraktion im deutschen Reichstag 1931 dem Bau von Panzerkreuzern
zustimmte, trat ihre Mutter in die Sozialistische Arbeiterpartei (SAP) ein. Ihr Bruder Otto, wurde Mitglied der KPD, der Vater und die Schwester Ilse blieben in
der SPD, die Schwester Hertha blieb parteilos und der jüngste Bruder Helmut musste zu Kriegsbeginn zum Militär. Kein Wunder, dass oft
heiße Diskussionen am Küchentisch geführt wurden.
Die Mutter war es vor allem, die ihre Kinder mit Lesestoff versorgte, sie in das politische und
kulturelle Leben einführte und sie zu Parteiversammlungen mitnahm. Alma Kettig erinnerte sich später daran, dass sie nicht nur Gleichberechtigung
zwischen den Geschlechtern forderte, sondern auch praktizierte, indem die Familienmitglieder abwechselnd kochen mussten. Das war damals auch für eine
sozialistische Familie eine ungewöhnliche Regelung. Neben Schule und Elternhaus war es die Sozialistische Arbeiterjugend (SAJ), die Almas
künftiges politisches Leben prägte. Bald ging sie nicht nur auf Fahrt, sondern klebte Plakate und verteilte Flugblätter, um vor der braunen
Gefahr zu warnen.
Bereits in der Schule wollte sie sich nicht anpassen: "Ich werde immer sitzen, wenn
jemand aufsteht und den Hitlergruß macht", erklärte sie dem Direktor, der von ihr erwartete, dass sie, wie ihre Mitschüler, beim
Absingen des Deutschlandliedes den Hitlergruß zeigen sollte. Unvergessen blieb ihr die letzte Demonstration der Wuppertaler Antifaschisten am 30.Januar
1933. "Es war eine machtvolle gemeinsame Demonstration aller Linken, leider viel zu spät. Aber sie gab uns doch das Gefühl von
Zusammengehörigkeit und Solidarität."
Nach der Demonstration stürmte die SA die Wohnung der Eltern und beschlagnahmte
Bücher und Schriften. Der Vater wurde vorübergehend festgenommen, weil er mit dem jüngsten Bruder SA-Parolen von
Schaufensterscheiben entfernt hatte. Später wurde er strafversetzt. Bruder Otto verlor seine Arbeit bei der Ortskrankenkasse.
Alma beteiligte sich an Botendiensten, um Nachrichten weiterzugeben, schmuggelte Briefe und
brachte sich oft in Lebensgefahr. Einmal wurde sie mit der SAJ-Gruppe mit Peitschen und Hunden aus dem städtischen Jugendheim vertrieben. Von da an
traf sich die Gruppe illegal. Nachdem ihr Bruder 1934 untergetaucht und 1936 wegen Widerstands gegen das NS-Regime verhaftet und in ein Zuchthaus nach
Bremen gebracht worden war, gab sie mit Rücksicht auf ihre inzwischen erkrankte Mutter und aus Angst vor Verhaftung die konspirative Arbeit vorerst
auf.
1935 verließ Alma Kettig das Elternhaus. Sie zog nach Essen und hat sich von da an
"alleine durchs Leben gebracht, bis zu diesen Tagen". Darauf war sie nicht wenig stolz. Ihrem Chef, der sie überreden wollte, dem Bund
Deutscher Mädchen (BDM) beizutreten, erteilte sie eine klare Absage. Mit ihrer Mitbewohnerin lebte sie während der zahlreicher werdenden
Fliegeralarme Todesängste. Nie würde sie den Abtransport von jüdischen Familien mit ihren Kindern vergessen. Sie wusste, was mit ihnen
passierte. Die Kollegen der Volksfürsorge verschwanden nach und nach in die Schützengräben. Sie wurde von heute auf morgen Leiterin
eines Büros, in dem jetzt ausschließlich Frauen arbeiteten. Das Herzleiden der Mutter wurde immer ernster, sie starb im November 1939.
Alma Kettig erlebte noch viele Verluste in diesem Krieg. Den schrecklichen Tod einer
Freundin vergaß sie nie: "Auf der Straße, da waren alle aufgereiht, und sie lag da, bedeckt mit ihrem Pelzmantel und dem kleinsten Kind. Da
hab ich zuviel gekriegt." Bruder Helmut fiel 1943. Bei einem Bombenangriff brach sie sich kurz vor Kriegsende ein Bein und gelangte beim Einmarsch der
Amerikaner auf einem Kohlenwagen nach Recklinghausen.
Sie war 30 Jahre alt, als es galt, in Deutschland eine neue Demokratie aufzubauen.
Zunächst baute sie das Büro der Volksfürsorge wieder auf. In die SPD war sie sofort nach deren Wiedergründung eingetreten.
"Ausrottung des Nazismus, Vernichtung des Militarismus und Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft das waren meine politischen Ziele nach
1945." Damit sah sie sich in Übereinstimmung mit den damaligen Konzeptionen der Sozialdemokratie. 1945 wurde sie Frauenreferentin im Bezirk
Recklinghausen, 1946 in den Bezirksausschuss der Jungsozialisten und in den Bezirksfrauenausschuss bei der IG Chemie, Papier, Keramik gewählt.
1952 wurde sie eine von vier Frauen im Stadtparlament in Witten und schilderte später:
"Wir waren so richtige Blümchen zwischen all den Männern." Ihr Interesse galt neben der Frauenpolitik vor allem den
Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, der Abrüstung und Entspannung. Sie war der Überzeugung, dass das Verlangen: "Nie wieder
Krieg, nie wieder Faschismus!" keine Kompromisse zuließ, wenn es nicht zur Worthülse verkommen sollte.
Umso enttäuschter war sie, als die Regierung Adenauer die neue Republik wieder mit
eigenen Soldaten beglücken wollte und "dafür sorgte, dass auch die Wirtschaft in die Hände ihrer alten Herren zurückkam".
Der Gedanke, dass Nazigeneräle eine neue deutsche Wehrmacht aufbauen könnten, blieb für Alma Kettig bis an ihr Lebensende
"blanker Wahnsinn".
1953 wurde sie zu ihrer eigenen Überraschung in den Bundestag gewählt. Die
"Männerriege" hatte versucht, sie zu verhindern, indem sie sagte: "Ja, wenn schon ein Bundestagsmandat für Witten, warum denn
die Alma (gegen die wir zwar nichts haben), warum denn kein Mann?" Das verstärkte ihren Entschluss, das Mandat anzunehmen. Leicht hatte sie es
in ihrem "erzkatholischen" Wahlkreis Bocholt/ Borken-Ahaus von Anfang an nicht. Viele Menschen machten zur Zeit des Kalten Krieges keinen
Unterschied zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten: Der Ausspruch "Bei uns (im Dorf) gibts keine Roten" richtete sich auch gegen
diejenigen "Sozis", die den Antikommunismus mittrugen.
Ihr Tatendrang im Bundestag wurde bald gezügelt, als sie feststellen musste, dass
"die wirklichen politischen Sachen, Justizausschuss, Außenpolitik, Wirtschaft" fest in den Händen der "Herren der
Schöpfung" waren. Sie hatte den Eindruck, eine Abstimmungsmaschinerie zu bedienen, ohne als Mitglied der Oppositionspartei wirklich
Entscheidendes bewirken zu können. Viele Dinge schienen bereits abgesprochen, zu denen "dann noch große Reden zum Fenster raus"
gehalten wurden.
Zu den Fragen der Wiederbewaffnung und der Notstandsgesetze, den wichtigen politischen
Streitfragen der 50er und 60er Jahre, nahm sie eine entschiedene Gegenposition ein, von der sie trotz vielfältiger Interventionen, Pressionen,
Verdächtigungen und Bespitzelungen nicht abwich. Mit ihrem widerständigen Verhalten kam sie nicht nur mit der konservativen Adenauer-Politik,
sondern mit ihrer eigenen Partei in Konflikt.
Die Abstimmung zur Ergänzung des Grundgesetzes und zur Remilitarisierung am
6.März 1956 führte zu einem tiefen Riss in der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion. Für Alma Kettig bedeutete die
Wiederaufrüstung die absolute Absage an die angestrebte Politik der deutschen Wiedervereinigung. Bis ins hohe Alter konnte sie nicht verstehen, dass 50
SPD-Abgeordnete der entscheidenden Abstimmung fern geblieben waren. Offensichtlich waren sie der Empfehlung Erich Ollenhauers gefolgt, "wer nicht
zustimmen könne, solle wegbleiben und Kaffee trinken".
Sie war eine der 19 Abgeordneten ihrer Fraktion, die offen mit "Nein" stimmten.
Später kommentierte sie: "Für mich war dieser 6.März 1956 ein schwerer Schlag. Denn durch die Zustimmung zur Ergänzung
des Grundgesetzes hatte die SPD alle Grundlinien aufgegeben, auf die die sozialdemokratische, die deutsche und die internationale Politik 1945 aufgebaut hatte.
Es sollte ja abgerüstet und nicht aufgerüstet werden, es sollte Kooperation geben und nicht Konfrontation."
1957 wurde sie zum zweiten Mal in den Bundestag gewählt und amtierte dann sogar als
Schriftführerin und Mitglied des Bundestagsvorstands. Sie kämpfte weiter, als es im Frühjahr 1958 im Bundestag um die atomare
Aufrüstung der BRD ging. Im ganzen Lande bildeten sich sofort, gefördert von der SPD, Komitees gegen die Aufrüstung der neugebildeten
Bundeswehr mit Atomwaffen. Die Opposition verlief aber im Sande. Der Bundestag beschloss die atomare Aufrüstung.
Die SPD verlor trotz oder mit ihrer Antiatompolitik die Bundestagswahlen 1957 und gab nun
den Widerstand auf. Alma Kettig gab nicht auf und kämpfte in der Friedensbewegung weiter. 1965 stimmte sie gemeinsam mit elf Genossen
gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Wieder blieben viele Genossen der Abstimmung fern, weil sie gegen ihre Fraktionsspitze nicht
opponieren wollten. Alma Kettig wandte sich gegen dieses "Denken im Chor", das sie mit ihrem Verständnis von Demokratie nicht
vereinbaren konnte.
Zunehmend kam sie mit der Parteispitze in Konflikt. Als es darum ging, über den
Verteidigungsetat abzustimmen, war sie das einzige Mitglied der Fraktion, das dagegen stimmte. Nun wurde sie diffamiert, diskriminiert, bedrängt und
unter Druck gesetzt, ihren Sitz im Bundestag aufzugeben. Aber sie gab nicht auf. Bundesinnenminister Höcherl beschuldigte sie, vertrauliche
Informationen an Behörden der DDR weitergegeben zu haben. Herbert Wehner, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, wollte die Kollegin weg haben,
weil sie nicht auf Parteilinie lag.
Im Herbst 1963 legte sie ihr Amt im Innenausschuss des Bundestags nieder, nachdem sie
mitbekommen hatte, dass ihr Telefon überwacht wurde. Die Beschuldigungen, sie hätte Informationen an die Deutsche Friedensunion oder die DDR
weitergeleitet, hörten nicht auf. Sie bestritt alle vorgebrachten Anschuldigungen. Kurz vor Ende der Legislaturperiode 1965 legte sie alle Ämter im
Bundestag nieder, weil sie krank wurde und weil sie die Politik der SPD nicht mehr mit ihrem Gewissen vereinbaren konnte.
Sie war 50 Jahre alt, als sie 1965 aus dem Bundestag ausschied. Drei Jahre war sie erwerbslos.
Pensionen oder andere Gelder für ausgeschiedene Bundestagsabgeordnete gab es damals noch nicht. Dann arbeitete sie im Großhandel, später
als freie Journalistin.
Ihre politische Arbeit hat sie nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag fortgesetzt. In den
"Ruhestand" ist sie nicht getreten. Nachdem sie wieder im Bezirksfrauenausschuss der IG Chemie aktiv wurde, bekam sie auch dort Schwierigkeiten,
weil sie "als Linke … abgestempelt" war.
In der Westdeutschen Frauenfriedensbewegung (WFFB) fand sie zwischen 1970 und 1974 ein
neues Betätigungsfeld. Hier hatte sie Mitstreiterinnen für ihre konsequente Antikriegshaltung und baute mit ihnen gemeinsam Kontakte zu
ostdeutschen Frauen auf, was ihnen den Vorwurf der kommunistischen Unterwanderung einbrachte, einen Vorwurf, den sie immer wieder entkräften
konnten.
Als sich der WFFB Mitte der 70er Jahre auflöste, wurde sie 1976 Mitbegründerin
der Demokratischen Fraueninitiative (DFI). Ihre Hauptaktivitäten richtete sie nun auf die Aktion: "Frauen in die Bundeswehr, wir sagen nein."
1983 wurde sie zweite Vorsitzende des Deutschen Freidenkerverbands, arbeitete bis ins hohe Alter in der Vietnamsolidarität und beschäftigte sich
mit Problemen der Länder des Südens.
Entgegen Berichten von Zeitzeugen ist sie bis an ihr Lebensende nicht aus der SPD
ausgetreten. Die Beitragsbestätigungen finden sich in ihren Unterlagen. "Die SPD verlassen? Das wäre zu einfach gewesen", sagte sie
kurz vor ihrem Tode. Einfach hat sie es sich ihr Leben lang nicht gemacht, und das wollte sie auch im Alter nicht. Die Partei sollte sich mit der unbequemen
Greisin weiter auseinandersetzen müssen.
Sie konnte den Weg, für den sie sich entschieden hatte, nur deshalb gehen, weil sie sich
selbstbewusst und selbstständig bewegte in einer Zeit, in der Frauen (wieder) für die Familie zuständig erklärt wurden. Dass
Frauen sich selbst in die Politikgestaltung einmischten, war damals noch ungewöhnlich. Bis an ihr Lebensende war sie stolz, dass sie sich selbst treu
geblieben war. Am 5.August 1997 ist Alma Kettig nach einer Krebserkrankung gestorben.
Gisela Notz
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