SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Mai 2003, Seite 20

Boom und Blase

Robert Brenner über die Ursachen der neuen Wirtschaftskrise

Robert Brenner: Boom & Bubble. Die USA und die Weltwirtschaft, Hamburg: VSA, 2003, 345 Seiten, 24,80 Euro

Über 20 Jahre, nachdem Robert Brenner mit seinen Untersuchungen zu den Entstehungsbedingungen kapitalistischer Gesellschaften eine erste "Brenner-Debatte" ausgelöst hat, ist es zu einer zweiten solchen Debatte gekommen. Grund dafür war sein in der New Left Review veröffentlichter Text "The Economics of Global Turbulence"*, in dem er die Entwicklung der Weltwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären versucht.
Im Zentrum seiner Argumentation steht die Verschärfung des internationalen Wettbewerbs zwischen 1965 und 1973 und die daraus folgenden Überkapazitäten und Überproduktion, die zu einem sprunghaften Abfall der Rentabilität führten.
Vor allem Japan und der BRD (und einigen anderen Ländern Westeuropas) war es nach dem Zweiten Weltkrieg gelungen, die Vorteile einer nachholenden Entwicklung mit gut ausgebildeten und relativ billigen Arbeitskräften zu kombinieren und sich mittels einer Orientierung auf den Weltmarkt zu den dynamischsten Zentren industrieller Entwicklung herauszubilden. Da die Exportorientierung von Anfang an vor allem auf die USA fixiert war und diesen in der besagten Periode zunehmend Anteile am Welthandel abgenommen wurden, führte dies — gemeinsam mit dem etwa gleichzeitig einsetzenden Einbruch der südostasiatischen Tiger auf dem Weltmarkt — zu zunehmenden Überkapazitäten und Überproduktion, deren Konsequenzen sich vor allem in den USA verheerend auswirkten.
Die dortige Industrie musste ihre Waren auf dem Weltmarkt zu stetig sinkenden Preisen verkaufen, sodass die Rentabilität in der verarbeitenden Industrie zunehmend schrumpfte. Als mit dem Ende des Bretton-Woods-Systems der Dollar im Verlauf der 70er Jahre abgewertet wurde, griff die Rentabilitätskrise auf die nunmehr von hohen Wechselkursen geplagten BRD und Japan über, sodass Mitte der 70er Jahre die gesamte Weltwirtschaft von Überproduktion und — daraus resultierend — von sinkenden Profitraten geprägt war. Diese Struktur kennzeichnete laut Brenner die kapitalistische Weltwirtschaft in den folgenden Jahrzehnten.
Auf diesen Untersuchungen aufbauend veröffentlichte Brenner im vergangenen Jahr ein weiteres Buch, dessen Übersetzung nun im VSA-Verlag erschienen ist. In diesem Buch versucht Brenner die außergewöhnliche Dynamik der US-Wirtschaft in den 90er Jahren zu erklären.
Den Ursprung dieser Dynamik findet Brenner in mehreren Entwicklungen, die sich bereits in den 80er Jahren zutrugen. Den Anfang machte die Rezession von 1980/82, die durch die Hochzinspolitik von Notenbankpräsident Paul Volcker künstlich verschärft wurde und wegen der daraus resultierenden Pleitewelle zu einer gewissen Bereinigung der Überkapazitäten in der Industrie führte.
Weit wichtiger war jedoch die damit verbundene Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. Unterstützt von der konservativen Regierung Reagan gelang es der Bourgeoisie, der durch die stark gestiegene Arbeitslosigkeit bereits geschwächten Arbeiterklasse eine Reihe von bedeutenden Niederlagen zuzufügen. Dadurch konnte der seit den 70er Jahren ohnehin schon geringe Reallohnzuwachs bis in die Mitte der 90er Jahre de facto auf Null reduziert werden.
Dazu kam schließlich noch das sog. Plaza-Abkommen von 1985, in dem sich die G5- Länder auf Druck der USA verpflichteten, mit gemeinsamen Interventionen auf den Währungsmärkten den Wert des Dollars langfristig zu senken, was — gemeinsam mit dem Druck auf die Löhne — die Wettbewerbsfähigkeit der US-Industrie massiv verstärkte. "Diese Erholung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der USA leitete eine bedeutende Erholung der Rentabilität vor Steuern im verarbeitenden Gewerbe ein."
Die veränderte Ausgangsposition nach der Rezession Anfang der 90er Jahre, in der weitere Überkapazitäten stillgelegt wurden, charakterisiert Brenner folgendermaßen: "Zur Mitte der 90er Jahre hatten die US- Unternehmen ihre Lage im Vergleich zum Jahrzehnt davor vor allem durch langwierige und brutale Prozesse der Rationalisierung und Umverteilung beträchtlich verbessert. Die verarbeitende Industrie hatte sich über anderthalb Jahrzehnte lang in immer wieder neue Wellen der Bereinigung ihrer Kapazitäten infolge von Rezessionen gestürzt und große Mengen an überholten und überflüssigen Produktionsanlagen oder Ausrüstungen ausrangiert, sowie Zehntausende von Beschäftigten entlassen. Im Verlaufe dieser Prozesse hat sie substanzielle Verbesserungen ihrer Produktivität erreicht."
In Kombination mit der massiven Umverteilung von unten nach oben und der erwähnten Erholung der Exporte gelang es der US-Industrie auf diesem Weg, ihre Profitrate nach Steuern wieder auf das durchschnittliche Niveau der 60er Jahre zu bringen (während die Profitrate vor Steuern rund ein Viertel unterhalb jener der 60er Jahre blieb).
"Inzwischen war es ihr [der verarbeitenden Industrie] gelungen, ihre Profite geradezu riesig zu vermehren — auf Kosten der Arbeiter durch das Einfrieren der Löhne über das ganze Jahrzehnt, und auf Kosten ihrer überseeischen Konkurrenten vermittels einer ebenfalls das ganze Jahrzehnt anhaltenden Abwertung des Dollar."
Es war diese Erholung der Profitrate, die ab 1993 auch zu einer Beschleunigung der Investitionen führte, womit der erste Grundstein des folgenden Aufschwungs gelegt war. Der tatsächliche Boom — die Phase, die gemeinhin als New Economy bezeichnet wird — begann aber erst 1995.
Die schnelle Entwicklung der Computer- und der Telekommunikationsindustrie ist für Brenner dabei nur eine abgeleitete Erscheinung. Wichtiger scheint ihm die überdurchschnittliche Dynamik des Finanzsektors, der von der Clinton- Administration bewusst stimuliert wurde.
Schon die Hochzinspolitik unter Reagan hatte zusammen mit umfassenden Deregulierungen und Steuersenkungen zu einem stetigen Wachstum des Finanzsektors geführt. Die Schwäche der "realen Wirtschaft" führte aber zu permanenten Rentabilitätsschwierigkeiten der großen Banken. Mit der Stärkung der Privatwirtschaft im Zuge der 90er Jahre konnte der Finanzmarkt erstmalig von den Reformen der 80er Jahre profitieren. Gepaart mit antiinflationären Maßnahmen und der neuen Politik ausgeglichener Staatshaushalte ermöglichte "die Ära von Bill Clinton, Robert Rubin und Alan Greenspan … den wirklichen Aufstieg der Finanzwirtschaft". In den kommenden Jahren sollte dem Finanzsektor eine tragende Rolle zuteil werden.
Bis 1995 war es in erster Linie die Erholung der Profitrate und die dadurch bewirkte Steigerung der Investitionen, die zusammen mit wachsenden Exporten die Erholung der Wirtschaft bewirkt hatte. Weil die Erholung der Profitrate aber zu großen Teilen dem unterbewerteten Dollars geschuldet war, bildeten die stagnierenden Ökonomien Westeuropas und Japans lediglich die Kehrseite der Medaille. Diese internationale Instabilität veranlasste die G7 zu einer neuerlichen Intervention an den Devisenmärkten — diesmal, um der jahrzehntelangen Abwertung des Dollars ein Ende zu setzen. Der nun einsetzende Anstieg des Dollars "führte fast sofort zum Ende des langen Aufstiegs der Profitrate im Produktionssektor, zu einem historischen Abheben der Wertpapierpreise, zu einer immer breiteren Kluft zwischen Wertpapierpreisen, die außer Kontrolle geraten waren, und den ihnen zugrunde liegenden Unternehmensgewinnen sowie zum beschleunigten Wachstum von Investitionen und Konsum als Folge des ‚Vermögenseffekts‘ des steigenden Aktienmarktes".
Schon zu Beginn der 80er Jahre stiegen die Aktienkurse, taten dies aber in Einklang mit einer sich erholenden Profitrate. Während aber die Gewinne 1996 und 1997 schon stagnierten, stiegen die Kurse an der Wall Street in dieser Zeit um über 20% an. Zwar sind damit alle Kennzeichen einer spekulativen Blase gegeben, doch erfreute sich die US-Wirtschaft in dieser Periode einer durchaus realen Dynamik, die in erster Linie durch weiter steigende Investitionen als auch durch eine immer noch vorhandene Exportdynamik gekennzeichnet war.
Tatsächlich bildeten diese beiden Jahre den Höhepunkt einer weltwirtschaftlichen Entwicklung, weil auch die meisten anderen Länder von der Expansion der USA profitieren konnten.
Mit den Krisenerscheinungen von 1998 (Krise in Süd- und Südostasien, Zahlungsunfähigkeit Russlands, Kollaps des Hedgefonds LTCM) begann sich das Bild zu ändern. Die Administration antwortete mit Zinssenkungen, einer massiven Ausweitung der Kreditvergabe und der Rettung von LTCM. Diese Schritte führten zu einer weiteren Explosion der Aktienmärkte, während die Profitraten stark sanken. Zwei unterschiedliche Entwicklungen waren die Folge.
Zum einen konnten die Unternehmen durch billige Kredite und durch die Ausgabe von Aktien sehr billig an Kapital kommen, was das bereits hohe Niveau der Investitionen nochmals steigerte. Zum anderen führte die Wertsteigerung der von privaten Haushalten gehaltenen Aktien gemeinsam mit einer rasch steigenden Privatverschuldung (und zeitgleich erstmals steigenden Löhnen) auch zu einer enormen Ausweitung des Privatkonsums. Es waren diese beiden Faktoren, die die Wachstumsdynamik von 1998 bis 2000 trugen.
Da aber die Basis dieses Wachstums nicht mehr in steigenden Profiten, sondern in einer spekulativen Blase der Aktienmärkte zu finden war, musste der Aufschwung gemeinsam mit der Blase zusammenbrechen. Durch weitere Zinssenkungen ist es bisher gelungen, den privaten Konsum via erhöhter Verschuldung aufrechtzuerhalten, was Brenner zufolge der wichtigste Grund dafür ist, dass die USA bisher einer schweren Rezession entgangen sind. Tatsächlich haben sich für Brenner die fundamentalen Probleme der USA (und der Weltwirtschaft) im Laufe der 90er Jahre nicht grundlegend verändert. Nach wie vor ist die Industrie durch Überkapazitäten und Überproduktion geprägt, und die Rentabilität außerhalb der Finanzwirtschaft liegt heute so tief wie in kaum einem anderen Jahr der Nachkriegsperiode.
Robert Brenners neue Studie verleiht der wirtschaftlichen Entwicklung der USA eine dazugehörende Logik, wie sie in der linken Literatur der vergangenen Jahrzehnte kaum zu finden ist. Auch wenn die Diskussion rund um seinen Aufsatz in der New Left Review einige (in erster Linie theoretische) Mängel Brenners aufgezeigt hat (vgl. dazu das Nachwort des Übersetzers) ist Boom & Bubble für ökonomisch interessierte Linke ein absolutes Muss.

Martin Riedl

Martin Riedl ist Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Marxismus (AGM) in Wien.

*R.Brenner, "The economics of global turbulence. A special report on the world economy, 1950—1998", New Left Review, Nr.129, 1998.



Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50, Kontonummer 603 95 04