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Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 6

Schröders letztes Gefecht

Die unendliche Geschichte der SPD

Noch vor weniger als einem halben Jahr hat das für ebenso schnelle wie flache Analysen bekannte Deutschlandmagazin Der Spiegel die Kenner der politischen Verhältnisse in Deutschland herzhaft zum Lachen gebracht. Der gerade wieder gewählte Kanzler Schröder sei in den Monaten September bis Dezember des letzten Jahres zum willenlosen Büttel der Gewerkschaften, der Bremser und Sozialstaatsfantasten Zwickel, Peters, Bsirske und Co. mutiert, stand dort geschrieben — garniert mit den spiegeltypischen Anekdötchen, z.B. den geheimen Befehlsentgegennahmeessen der Regierung mit den DGB-Fürsten, und den seit der Konkurrenz mit dem Focus unentbehrlichen "Fakten", wie der MdB-Statistik, dass "mehr als ein Drittel der Abgeordneten Mitglied einer Gewerkschaft sei".
Zu schön war das damals, um wahr zu sein, und so ist es eigentlich nicht verwunderlich, dass heute kurzerhand das Gegenteil die politische Szene in Deutschland bestimmen soll: Die SPD und die Gewerkschaften auf Trennungskurs.
Das besondere politische und organisatorische Verhältnis der Sozaldemokratie zu den Gewerkschaften ist seit 140 Jahren das alles überragende Charaktermerkmal der Partei. Ohne dieses Bündnis wäre die SPD ein Nichts. Keine einzige Wahl hätte die SPD ohne die Gewerkschaften gewonnen.
Noch die letzte Bundestagswahl, obwohl die enttäuschenden ersten vier Jahre "Rot-Grün" und die Atem beraubend schnelle Unterwerfung der Regierung Schröder/Fischer unter die ökonomischen, politischen und militärischen Forderungen des Bürgertums scharenweise Frustration und Passivität bei der Wählerschaft hinterließen, brachte eine absolute Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder, 51,2% , für die SPD, bei gerade mal 38,5% der Gesamtstimmen.
Bei früheren Wahlen war die Verflechtung von SPD und Gewerkschaften noch viel bedeutender und unabhängig vom Auf und Ab der Gesamtstimmen so stabil, dass die Gilde der Pseudowissenschaftler namens Wahlforscher dafür extra den Begriff "Stammwähler" kreierten. Im Gegensatz zu vielen, auch linken, Analysen hat die Bedeutung der Gewerkschaften für die SPD im Laufe der konkreten Parteigeschichte eher zu als abgenommen. Bis zum Faschismus besaß die SPD noch eine reale gesellschaftliche Macht in diversen Strukturen der Arbeiterbewegung: Kulturvereine, Sportgemeinschaften, Bildungsgesellschaften, Wohnungsgenossenschaften und eigene Medien der Massenagitation.
Nach dem Weltkrieg wurden diese systematisch zuerst entpolitisiert, teilweise von den Besatzungsmächten zur "Neutralität" verdonnert, später aufgelöst und der letzte Rest dann der privatwirtschaftlichen Verwertung übergeben. Die faktische sozialdemokratische Richtungsgewerkschaft ist trotz der ebenfalls beständig betonten "Unabhängigkeit" und Entpolitisiertheit heute die einzige Organisationsform des Sozialdemokratismus in der Gesellschaft.

Arbeitsteilung

140 Jahre Anpassung der SPD an die Ideologie und die politischen Erwartungen der herrschenden Klasse, der großen Konzerne und ihrer Managerriege, der Großaktionäre und der privaten Massenmedien hat den äußeren Anschein der Partei immer wieder neu "verbürgerlicht" und "modernisiert" — aber zu keinem Zeitpunkt zur Organisierung dieser herrschenden Klasse in der und durch die SPD geführt.
Dieser Charakter der SPD als, wie es früher hieß, "bürgerliche Arbeiterpartei" und ihr lang anhaltender Einfluss in der Gesellschaft war auch einer der maßgeblichen Gründe dafür, dass sich auch die bürgerliche Klasse in Deutschland auf eine "vermittelte" Politikausübung einließ, in einer Mitgliedermassenpartei statt durch unmittelbare politische Machtausübung wie in den USA, durch Klientelismus wie in Japan oder Italien oder durch Honoratiorenclubs wie in Frankreich und Großbritannien. In diesem Sinne ist die SPD die "Mutter aller Parteien".
Es gab immer eine Arbeitsteilung zwischen SPD und Gewerkschaften: Die Partei war zuständig für die Ideologie der Klassenversöhnung im Kapitalismus und die Politik der Unterwerfung unter bisher jedes strategische Ziel des Kapitals — vom Ersten Weltkrieg über den Kalten Krieg, die Wiederbewaffnung, die Notstandsgesetze, die Berufsverbote bis zum Ausbau der Atomenergie und den neuen Kriegen des 21.Jahrhunderts; und die Gewerkschaften sorgten für Ruhe in den Betrieben, für Antikommunismus und aktive Sozialpartnerschaft.
Damit das Spiel vorankam, war allerdings immer eine konkrete Verteilung auch nach "unten" an die Lohnabhängigen nötig und auf wirtschaftspolitischer Ebene alle möglichen Abarten des Keynesianismus und der Nachfrage orientierten Politik.
Schröder ist angetreten, mit dieser Arbeitsteilung aufzuräumen. Für das Verhältnis zu den Gewerkschaften bedeutete dies jedoch die Eröffnung einer permanenten Gratwanderung und Auslotung, wie weit die Loyalität des DGB gehen wird. Das "neue Godesberg", von dem Schröder — schon immer einer der begnadetsten Dummköpfe der Sozialdemokratie — heute spricht, soll etwas fortschreiben, was nicht fortzuschreiben ist.
Ohne Nachfrage orientierte Politik, ohne wenigstens kleine materielle Zugeständnisse an die Gewerkschaften, aber mit rasanten Abbau der — gerade von SPDlern geschätzten — öffentlichen Posten im Zuge der Privatisierung wird die SPD vom kurzzeitig mal gestreiften 45%-Reich über das 30%-Ghetto in die 25%-Tristesse abstürzen. Andere sozialdemokratische Parteien wie in Italien oder Frankreich haben ein solches Schicksal schon erlebt.
Die Parteilinke wird diesen Kurs nicht mehr herumreißen können. Wahrscheinlich wird sie schon am 140 Jahre bewährten bürokratischen Parteiregime scheitern, das sich heute nicht einmal geniert, den Ex-Vorsitzenden Lafontaine wegzensieren zu wollen. Aber dieses Regime ist nichts gegen den wirklichen Feind: Die aktuelle weltpolitische Lage des Kapitalismus steht heute einer Renaissance des Keynesianismus und der Nachfrage orientierten Politik im Wege. Wer heute die "Massenkaufkraft" steigern will, der muss schon halbwegs revolutionäre Potenzen mobilisieren, um der Macht des Kapitals zu trotzen.
Und wenn diese Potenzen wirklich mobilisiert werden sollten, was wir uns wünschen und woran wir arbeiten, dann wird als erstes deutlich werden, wie lächerlich ein wenig mehr Brot ist, wenn man die ganze Bäckerei haben kann.

Thies Gleiss

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