SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 8

Reformfähigkeit, nicht bloss Regierungsfähigkeit!

Friedhelm Hengsbach auf der DGB-Kundgebung in Neu-Anspach

Der massive politische Druck, dass die Agenda 2010 ohne Alternative sei, und dass sie mit der Regierungsfähigkeit gekoppelt wird, ist eine Offenbarung reformpolitischer Schwäche… Die Regierungsfähigkeit an soziale Demontage zu knüpfen, müsste eigentlich die Selbstachtung der Sozialdemokraten verletzen… Sozialdemokratische Politik wird nicht dadurch vernünftig, dass sie den Karren der Kapitaleigner und Arbeitgeber anschiebt. Vor allem aber messe ich die Regierungsfähigkeit an wirtschafts- und sozialpolitischen Reformvorhaben, die mehr als eine Wahlperiode überleben. Davon will ich drei nennen: Die Arbeit am Menschen; Arbeit, die mehr ist als Erwerbsarbeit; und nicht weniger, sondern mehr Solidarität.

Arbeit am Menschen

Regierungsfähigkeit ist die Bedingung für die kollektive Anstrengung der Gesellschaft, jedem ihrer Mitglieder, das arbeiten kann und will, eine Gelegenheit zu bieten, durch eigene Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen. Politische Versprechen, das Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen, gibt es inzwischen genug…
Aber es gibt noch genug unbefriedigte Bedürfnisse bei der Grundschicht der Bevölkerung und in den EU-Beitrittsländern, die Bürgermeister der Städte können dringende Aufgaben auflisten, die bisher unerledigt geblieben sind: Die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene, eine ökologische Landwirtschaft und ein umweltverträgliches Energiesystem sind Zukunftsinvestitionen in öffentlich-privater Zusammenarbeit, die den Arbeitsmarkt beleben. Nach allen Erfahrungen ist der Arbeitsmarkt nicht selbst die Schlüsselgrösse für mehr Beschäftigung. Er kommt in Bewegung, wenn sich vorher die Nachfrage nach Gütern belebt hat…
Die Industrie jedoch stellt keine Vollbeschäftigung mehr her. Der technich bedingte Produktivitätsanstieg und die überdurchschnittliche Kapitalintensität der deutschen Wirtschaft bewirken, dass die nachgefragten Industriewaren mit immer weniger Arbeitskräften bereit gestellt werden. Bleibt dann für die Freigesetzten nur das Rasenmähen, Laubsammeln, Schuheputzen und Tütentragen? Manche schwärmen vom Dienstleistungssektor. Aber gehen die Banken und Versicherungen, Bahn und Post mit den neuen Techniken und ihren Arbeitskräften anders um als vorher die Industriebetriebe?
Die Zukunft der Arbeit ist die Arbeit am Menschen. Das sind personennahe Dienstleistungen — Heilen, Helfen, Pflegen, Begleiten, Beraten, jede Kulturarbeit, die Wissensarbeit in der Industrie, die Beziehungsarbeit in der Schule und im Krankenhaus, im Kindergarten, auf der Sozialstation und im Altenheim. Die Qualität dieser Arbeit ist jedoch anders zu bewerten als nach dem Maßstab der Produktivität, der sich in der Industrie bewährt hat, aber die Motivation der Angestellten in den Kliniken und Schulen vergiftet.
Das Arbeitsvermögen der Menschen ist die kostbarste Ressource der deutschen Wirtschaft. Sie zu bilden und zu pflegen sollte eine kombiniert öffentliche und private Aufgabe sein. Öffentlich, weil der Zugang zur Bildung und Erhaltung des Arbeitsvermögens in einer demokratischen Gesellschaft als ein Grundrecht angesehen wird. Privat, weil dessen konkrete Ausgestaltung auch der privaten Kaufkraftverteilung überlassen bleiben kann. Gewerkschaften und Betriebsräte sind die Garanten des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens. Darin sollten sie ihr ursprüngliches Mandat sehen. Die einzelwirtschaftlich und kurzfristig kalkulierenden Unternehmen nämlich nutzen und enteignen das Arbeitsvermögen ihrer Mitarbeiter. Nur begrenzt und im eigenen Interesse sind sie an seinem Schutz interessiert. Wer auf Betriebsräte und Gewerkschaften einprügelt, fördert den Raubbau und den Verschleiß des Arbeitsvermögens.

Nicht nur Erwerbsarbeit

Die Beteiligung an der Erwerbsarbeit ist der Hauptschlüssel, aber nicht der einzige Schlüssel persönlicher Identität und gesellschaftlicher Anerkennung. Eine Gesellschaft, die um die Erwerbsarbeit als ihren einzigen Brennpunkt zentriert ist, beschädigt ihre Lebensqualität.
Ein Verlust an Lebensqualität ist die immer noch hartnäckige sexistische Arbeitsteilung, die den Männern die Erwerbsarbeit zuweist und die Frauen zur Haus- und Kinderarbeit dienstverpflichtet. Dieses schiefe Denk- und Lebensmuster ist wieder lebendig, wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie als reines Frauenproblem behandelt und dadurch gelöst wird, dass ganztägige Betreuungsplätze für Kinder bereit gestellt werden. Auch Männern ist die Frage zu stellen, wie sie Erwerbsarbeit und Kinderarbeit miteinander vereinbaren wollen.
Ein Raub an Lebensqualität ist der Druck der Arbeitgeber auf ihre Mitarbeiter, unfreiwillig bezahlte Mehrarbeit zu leisten… Arbeit ist nicht das ganze Leben, schon gar nicht, wenn persönliche Interessen, Träume und Beziehungen auf dem Altar des Unternehmens geopfert werden. Über kollektive Arbeitszeitverkürzungen muss verhandelt werden, solange die Flexibilisierung der individuellen Arbeitszeit die Produktivität erhöht und bei unveränderter Nachfrage auch die Arbeitslosigkeit.
Ein Entzug an Lebensqualität ist schließlich die von der Hartz-Kommission und von der Kanzler-Agenda verschärfte Nötigung zur Erwerbsarbeit. Ich stelle mir unter einer demokratischen Gesellschaft keine Horde von Arbeitstieren vor, die den Wert eines Menschen nach seiner gesellschaftlichen Arbeitsleistung misst.
Im Mittelpunkt der Arbeitspolitik sollte die gesellschaftlich nützliche Arbeit stehen. Die gibt es in drei Formen: zunächst als herkömmliche, markt- und geldwirtschaftlich organisierte Erwerbsarbeit. Dann als private Haus- und Kinderarbeit, die geschlechtsneutral und fair auf Männer und Frauen zu verteilen ist. Indem die Frauen den ihnen zukommenden Anteil an der Erwerbsarbeit behaupten, müssten die Männer gesetzlich und tariflich dazu gebracht werden, die Erwerbsarbeit intelligent zu verkürzen und ihren Anteil an der privaten Beziehungsarbeit zu übernehmen.
Und schließlich das zivilgesellschaftliche Engagement, aber ohne die Aufteilung in Aufsichtsratsmandate für Männer und Krankenbesuche für Frauen.
Diese drei Formen gesellschaftlich nützlicher Arbeit sind als gleichwertig anzuerkennen und vergleichbar sozial abzusichern — durch eine Kombination dreier Einkommensarten: Arbeitseinkommen, Kapitaleinkommen und Transfereinkommen.

Mehr Solidarität

Die so genannte Agenda des Kanzlers grenzt die gesellschaftliche Solidarität weiter ein, statt sie auszuweiten. Sie individualisiert und privatisiert ziemlich willkürlich gesellschaftliche Risiken, die den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft fahrlässig aufgeladen werden, ohne zu prüfen, ob ihre Schultern breit genug sind, sie zu tragen…
Der Verdacht gegen die Solidarität, sie sei der Marktsteuerung unterlegen, wird seit Jahren lauthals propagiert. Sind die Argumente plausibel? Die Solidarität gestattet Gegenseitigkeit, die es auf dem Markt nicht gibt. Die Höhe des Beitrags richtet sich nach der Leistungsfähigkeit, der Hilfeanspruch richtet sich nach dem Bedarf. Dieses einseitige Gefälle an Gegenseitigkeit ist nur möglich, weil ein gemeinsames Interesse die Starken und Schwachen zusammen schließt, das mächtiger ist als die Differenz ihrer Lebenschancen und Lebensrisiken.
Die Solidarität, die sich in den uns bekannten solidarischen Sicherungssystemen verkörpert, ruht auf der Erwerbsarbeit, der lebenslangen Partnerbindung der Frau an einen erwerbstätigen Mann und auf dem Normalfall eines Haushalts mit zwei oder mehr Kindern. Diese Grundlagen sind brüchig geworden.
Also wäre es angebracht, die Grundlage der Solidarität zu erweitern: Alle Bürgerinnen und Bürger, die ihren Lebensmittelpunkt innerhalb des Geltungsbereichs der Verfassung einrichten, haben das Recht auf einen Mindestanteil am Volkseinkommen und Volksvermögen, der ihnen gestattet, sich an den Prozessen der Meinungsbildung und Entscheidung in einer demokratischen Gesellschaft zu beteiligen. Beteiligung gilt als neuer Name für Gerechtigkeit. Darüber hinaus sichert ihnen die Beteiligung an der gesellschaftlich nützlichen Arbeit einen angemessenen Lebensstandard.
Wie soll diese Solidarität finanziert werden? Sie darf nicht allein den Schultern der abhängig Beschäftigten aufgeladen werden. Nicht allein die Löhne, sondern alle in der Gesellschaft entstehenden Einkommens- und Vermögensarten sind gemäß der Leistungsfähigkeit der Einkommens- und Vermögenssubjekte beitragspflichtig. Die progressive direkte Besteuerung mit einem Familiensplitting an Stelle des Ehegattensplittings ist solidarischer als die Mehrwertsteuer oder andere indirekte Steuern. Diese würden nämlich die Haushalte mit Kindern überdurchschnittlich belasten. Die öffentlichen Leistungsansprüche im Risikofall müssen nicht beitragsorientiert sein und können mit privaten Ansprüchen kombiniert werden…
Das Spiel um die Regierungsfähigkeit mag mit einem Punktsieg für die rot-grüne Regierung ausgehen. Das Spiel um die Reforminhalte einer zukunftsfähigen Gesellschaft in Solidarität und Gerechtigkeit hat noch kaum begonnen. Dabei werden Betriebsräte und Gewerkschaften nicht Zuschauer auf der Tribüne bleiben, sondern sich einmischen und mitspielen.

Friedhelm Hengsbach ist Jesuit und Dozent an der Frankfurter Hochschule St.Georgen.


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