SoZ Sozialistische Zeitung |
Der massive politische Druck, dass die
Agenda 2010 ohne Alternative sei, und dass sie mit der Regierungsfähigkeit gekoppelt wird, ist eine Offenbarung
reformpolitischer Schwäche… Die Regierungsfähigkeit an soziale Demontage zu knüpfen,
müsste eigentlich die Selbstachtung der Sozialdemokraten verletzen… Sozialdemokratische Politik wird nicht
dadurch vernünftig, dass sie den Karren der Kapitaleigner und Arbeitgeber anschiebt. Vor allem aber messe ich die
Regierungsfähigkeit an wirtschafts- und sozialpolitischen Reformvorhaben, die mehr als eine Wahlperiode überleben.
Davon will ich drei nennen: Die Arbeit am Menschen; Arbeit, die mehr ist als Erwerbsarbeit; und nicht weniger, sondern
mehr Solidarität.
Regierungsfähigkeit ist die Bedingung für die kollektive Anstrengung der Gesellschaft, jedem ihrer
Mitglieder, das arbeiten kann und will, eine Gelegenheit zu bieten, durch eigene Arbeit den Lebensunterhalt zu verdienen.
Politische Versprechen, das Ziel der Vollbeschäftigung zu erreichen, gibt es inzwischen genug…
Aber es gibt noch genug unbefriedigte Bedürfnisse bei der
Grundschicht der Bevölkerung und in den EU-Beitrittsländern, die Bürgermeister der Städte
können dringende Aufgaben auflisten, die bisher unerledigt geblieben sind: Die Verlagerung des
Güterverkehrs auf die Schiene, eine ökologische Landwirtschaft und ein umweltverträgliches Energiesystem
sind Zukunftsinvestitionen in öffentlich-privater Zusammenarbeit, die den Arbeitsmarkt beleben. Nach allen
Erfahrungen ist der Arbeitsmarkt nicht selbst die Schlüsselgrösse für mehr Beschäftigung. Er
kommt in Bewegung, wenn sich vorher die Nachfrage nach Gütern belebt hat…
Die Industrie jedoch stellt keine Vollbeschäftigung mehr her.
Der technich bedingte Produktivitätsanstieg und die überdurchschnittliche Kapitalintensität der
deutschen Wirtschaft bewirken, dass die nachgefragten Industriewaren mit immer weniger Arbeitskräften bereit gestellt werden. Bleibt dann für die Freigesetzten nur das Rasenmähen, Laubsammeln, Schuheputzen und Tütentragen? Manche schwärmen vom Dienstleistungssektor. Aber gehen die Banken und Versicherungen, Bahn und Post mit den neuen Techniken und ihren Arbeitskräften anders um als vorher die
Industriebetriebe?
Die Zukunft der Arbeit ist die Arbeit am
Menschen. Das sind personennahe Dienstleistungen Heilen, Helfen, Pflegen, Begleiten, Beraten, jede
Kulturarbeit, die Wissensarbeit in der Industrie, die Beziehungsarbeit in der Schule und im Krankenhaus, im
Kindergarten, auf der Sozialstation und im Altenheim. Die Qualität dieser Arbeit ist jedoch anders zu bewerten als
nach dem Maßstab der Produktivität, der sich in der Industrie bewährt hat, aber die Motivation der
Angestellten in den Kliniken und Schulen vergiftet.
Das
Arbeitsvermögen der Menschen ist die kostbarste Ressource der deutschen Wirtschaft. Sie zu bilden und zu pflegen sollte
eine kombiniert öffentliche und private Aufgabe sein. Öffentlich, weil der Zugang zur Bildung und Erhaltung des
Arbeitsvermögens in einer demokratischen Gesellschaft als ein Grundrecht angesehen wird. Privat, weil dessen konkrete
Ausgestaltung auch der privaten Kaufkraftverteilung überlassen bleiben kann. Gewerkschaften und
Betriebsräte sind die Garanten des gesellschaftlichen Arbeitsvermögens. Darin sollten sie ihr
ursprüngliches Mandat sehen. Die einzelwirtschaftlich und kurzfristig kalkulierenden Unternehmen nämlich nutzen und
enteignen das Arbeitsvermögen ihrer Mitarbeiter. Nur begrenzt und im eigenen Interesse sind sie an seinem Schutz
interessiert. Wer auf Betriebsräte und Gewerkschaften einprügelt, fördert den Raubbau und den
Verschleiß des Arbeitsvermögens.
Die Beteiligung an der Erwerbsarbeit ist der
Hauptschlüssel, aber nicht der einzige Schlüssel persönlicher Identität und gesellschaftlicher
Anerkennung. Eine Gesellschaft, die um die Erwerbsarbeit als ihren einzigen Brennpunkt zentriert ist, beschädigt ihre
Lebensqualität.
Ein Verlust an Lebensqualität ist die
immer noch hartnäckige sexistische Arbeitsteilung, die den Männern die Erwerbsarbeit zuweist und die Frauen zur
Haus- und Kinderarbeit dienstverpflichtet. Dieses schiefe Denk- und Lebensmuster ist wieder lebendig, wenn die Vereinbarkeit
von Beruf und Familie als reines Frauenproblem behandelt und dadurch gelöst wird, dass ganztägige
Betreuungsplätze für Kinder bereit gestellt werden. Auch Männern ist die Frage zu stellen, wie sie
Erwerbsarbeit und Kinderarbeit miteinander vereinbaren wollen.
Ein Raub an Lebensqualität ist der Druck der Arbeitgeber auf ihre Mitarbeiter, unfreiwillig bezahlte
Mehrarbeit zu leisten… Arbeit ist nicht das ganze Leben, schon gar nicht, wenn persönliche Interessen, Träume
und Beziehungen auf dem Altar des Unternehmens geopfert werden. Über kollektive Arbeitszeitverkürzungen muss
verhandelt werden, solange die Flexibilisierung der individuellen Arbeitszeit die Produktivität erhöht
und bei unveränderter Nachfrage auch die
Arbeitslosigkeit.
Ein Entzug an Lebensqualität ist
schließlich die von der Hartz-Kommission und von der
Kanzler-Agenda verschärfte Nötigung zur
Erwerbsarbeit. Ich stelle mir unter einer demokratischen
Gesellschaft keine Horde von Arbeitstieren vor, die den Wert eines Menschen nach seiner gesellschaftlichen Arbeitsleistung
misst.
Im Mittelpunkt der Arbeitspolitik sollte die
gesellschaftlich nützliche Arbeit stehen. Die gibt es in drei Formen: zunächst als herkömmliche, markt- und
geldwirtschaftlich organisierte Erwerbsarbeit. Dann als private Haus- und Kinderarbeit, die geschlechtsneutral und
fair auf Männer und Frauen zu verteilen ist. Indem die Frauen den ihnen zukommenden Anteil an der Erwerbsarbeit
behaupten, müssten die Männer gesetzlich und tariflich dazu gebracht werden, die Erwerbsarbeit intelligent
zu verkürzen und ihren Anteil an der privaten Beziehungsarbeit zu übernehmen.
Und schließlich das zivilgesellschaftliche Engagement, aber
ohne die Aufteilung in Aufsichtsratsmandate für Männer und Krankenbesuche für Frauen.
Diese drei
Formen gesellschaftlich nützlicher Arbeit sind als gleichwertig anzuerkennen und vergleichbar sozial abzusichern
durch eine Kombination dreier Einkommensarten:
Arbeitseinkommen, Kapitaleinkommen und Transfereinkommen.
Die so genannte Agenda des Kanzlers grenzt die
gesellschaftliche Solidarität weiter ein, statt sie
auszuweiten. Sie individualisiert und privatisiert ziemlich
willkürlich gesellschaftliche Risiken, die den einzelnen
Mitgliedern der Gesellschaft fahrlässig aufgeladen
werden, ohne zu prüfen, ob ihre Schultern breit genug
sind, sie zu tragen…
Der
Verdacht gegen die Solidarität, sie sei der
Marktsteuerung unterlegen, wird seit Jahren lauthals
propagiert. Sind die Argumente plausibel? Die Solidarität
gestattet Gegenseitigkeit, die es auf dem Markt nicht gibt.
Die Höhe des Beitrags richtet sich nach der
Leistungsfähigkeit, der Hilfeanspruch richtet sich nach
dem Bedarf. Dieses einseitige Gefälle an Gegenseitigkeit
ist nur möglich, weil ein gemeinsames Interesse die
Starken und Schwachen zusammen schließt, das
mächtiger ist als die Differenz ihrer Lebenschancen und
Lebensrisiken.
Die Solidarität, die sich in den uns
bekannten solidarischen Sicherungssystemen verkörpert,
ruht auf der Erwerbsarbeit, der lebenslangen Partnerbindung
der Frau an einen erwerbstätigen Mann und auf dem
Normalfall eines Haushalts mit zwei oder mehr Kindern. Diese
Grundlagen sind brüchig geworden.
Also
wäre es angebracht, die Grundlage der Solidarität zu
erweitern: Alle Bürgerinnen und Bürger, die ihren
Lebensmittelpunkt innerhalb des Geltungsbereichs der
Verfassung einrichten, haben das Recht auf einen Mindestanteil
am Volkseinkommen und Volksvermögen, der ihnen gestattet,
sich an den Prozessen der Meinungsbildung und Entscheidung in
einer demokratischen Gesellschaft zu beteiligen. Beteiligung
gilt als neuer Name für Gerechtigkeit. Darüber
hinaus sichert ihnen die Beteiligung an der gesellschaftlich
nützlichen Arbeit einen angemessenen
Lebensstandard.
Wie soll diese Solidarität finanziert
werden? Sie darf nicht allein den Schultern der abhängig
Beschäftigten aufgeladen werden. Nicht allein die
Löhne, sondern alle in der Gesellschaft entstehenden
Einkommens- und Vermögensarten sind gemäß der
Leistungsfähigkeit der Einkommens- und
Vermögenssubjekte beitragspflichtig. Die progressive
direkte Besteuerung mit einem Familiensplitting an Stelle des
Ehegattensplittings ist solidarischer als die Mehrwertsteuer
oder andere indirekte Steuern. Diese würden nämlich
die Haushalte mit Kindern überdurchschnittlich belasten.
Die öffentlichen Leistungsansprüche im Risikofall
müssen nicht beitragsorientiert sein und können mit
privaten Ansprüchen kombiniert werden…
Das Spiel
um die Regierungsfähigkeit mag mit einem Punktsieg
für die rot-grüne Regierung ausgehen. Das Spiel um
die Reforminhalte einer zukunftsfähigen Gesellschaft in
Solidarität und Gerechtigkeit hat noch kaum begonnen.
Dabei werden Betriebsräte und Gewerkschaften nicht
Zuschauer auf der Tribüne bleiben, sondern sich
einmischen und mitspielen.
Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld
ist ein Fetisch.
Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst
aus. Wir brauchen Eure Euros.
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