SoZ Sozialistische Zeitung

Zur SoZ-
Homepage SoZ - Sozialistische Zeitung, Juni 2003, Seite 16

Brasilien/Venezuela

Gegenpol gegen den Neoliberalismus?

Ein Treffen zwischen Staatschefs zweier Nachbarländer ist an sich kaum eine Meldung Wert. Doch wenn die beiden Regierungsoberhäupter Hugo Chávez und Lula de Silva heißen, verhält es sich schon anders. Das Meeting des brasilianischen und des venezolanischen Staatschefs, das Mitte Mai in der nordostbrasilianischen Stadt Recife stattfand, könnte eine wirtschaftspolitische Neuorientierung in Lateinamerika einleiten.
Der venezolanische Handelsminister Ramón Rosales kündigte an, sein Land beabsichtige noch in diesem Jahr, jenem regionalen Staatenbündnis Mercosur beizutreten, dem bisher schon Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay angehören. Auch Peru hat mittlerweile Interesse bekundet. Das Interesse an einer schnellen Mercosur-Mitgliedschaft auf Seiten Venezuelas hat jedoch eindeutig politische Hintergründe. Staatschef Chávez will den Mercosur zu einem "bolivarischen" Gegenpol der lateinamerikanischen Staaten gegen die gesamtamerikanische, von den USA protegierte Freihandelszone ALCA ausbauen. Das ehrgeizige Projekt von Präsident Chávez hat auch schon einen Namen: Alba — die Morgendämmerung.
Deshalb dürfte die USA auch mit Argwohn das brasilianisch-venezolanische Treffen verfolgt haben. Schließlich genießen weder Chávez noch Lula in Washingtoner Regierungskreisen großes Vertrauen. Beide gelten als dezidierte Gegner des neoliberalen Wirtschaftsmodells à la Washington und haben sich in der Vergangenheit als Kritiker der Freihandelszone ALCA einen Namen gemacht. Darin sind sie sich einig mit den sozialen Bewegungen, die in zahlreichen lateinamerikanischen Ländern aktiv sind.
Nun könnte ihr Anliegen auch auf Regierungsebene vertreten werden. Zwar hat sich Lula nach seiner Wahl zum Präsidenten Brasiliens pragmatisch geäußert und alles versucht, um sich sowohl brasilianischen Wirtschaftskreisen als auch den USA gegenüber als verlässlicher Partner anzudienen. Dabei hat er sich zunächst sogar von seinem venezolanischen Kollegen distanziert, der sich mit seiner Rhetorik gegen den Neoliberalismus sowohl in Washington als auch bei der eigenen Geschäftswelt viele Feinde gemacht hat. Die venezolanischen Kapitalkreise versuchten bekanntlich, die Regierung mittels eines Militärputsches, später mit Wirtschaftssabotage und Aussperrungen, aus dem Amt zu jagen. Dass es bisher nicht gelang, lag vor allem an der nachhaltigen Unterstützung, die Chávez beim Großteil der armen Bevölkerungsschichten Venezuelas genießt.
Deren Stadtteilaktivisten monieren bisher allerdings, dass sich Chavez zwar einer antikapitalistischen Rhetorik bedient habe, die konkreten Taten jedoch eher bescheiden sind. Das könnte sich jetzt ändern. Die Monatszeitung Le Monde Diplomatique formuliert in ihrer Märzausgabe: "Zugleich beginnt sich eine soziale Bewegung zu formieren, die durch die Sozialpolitik der neuen Regierung noch mehr Zulauf bekommt. So hat ein Wettrennen begonnen, das sich zwischen der Regierungspolitik und der erstarkenden sozialen Bewegung einerseits und den — bislang allerdings nicht klar formulierten — Alternativen der Opposition andererseits abspielt."
Der Ausgang könnte auch über Venezuela hinaus von Bedeutung sein. Soziale Bewegungen und globalisierungskritische Kreise Lateinamerikas setzen zunehmend Hoffnungen in die Pläne der Chávez-Regierung. Das zeigte sich bei einem internationalen Solidaritätstreffen Mitte April 2003 in Caracas. Dort bekundeten Gewerkschafter sowie Mitglieder von Bauern- und Studentenorganisationen des Kontinents ihre Solidarität mit Chávez und seiner bolivarischen Revolution. Doch auch europäische Globalisierungskritiker waren bei dem Treffen anwesend, u.a. Ignacio Ramonet, Mitbegründer von Attac-Frankreich und langjähriger Chefredakteur von Le Monde Diplomatique.
Nun will die Chávez-Regierung mit Unterstützung von Brasilien das vielbeschworene bolivarische Gegenmodell in praktische Politik umsetzen. Ob das Projekt Alba wirklich zur Morgendämmerung der lateinamerikanischen Unterklassen beitragen wird, kann erst die Zukunft zeigen.

Peter Nowak

Informationen und Meinungen sollten keine Waren sein. Und Geld ist ein Fetisch. Dennoch und ganz praktisch: Die Online-SoZ sieht nur umsonst aus. Wir brauchen Eure Euros.
Spendet steuerlich abzugsfähig!
VsP, Postbank Köln, BLZ 370100 50,
Kontonummer 603 95 04


zum Anfang