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Im Alter von 78 Jahren ist am 4.Mai Johannes Agnoli in der Toskana gestorben, wohin er sich nach seiner Emeritierung im
Jahre 1990 ganz zurückgezogen hatte. Zeitlebens zwischen Italien und Westdeutschland pendelnd, lehrte Agnoli bis 1990 Politikwissenschaften an der FU
Berlin und war als im besten Sinne politischer Wissenschaftlicher auch ein herausragender Vertreter der westdeutschen Neuen Linken.
Johannes Agnolis Schriften kreisen um die Politik und ihr konzentriertes Feld, den modernen
Staat. Seine Staatskritik ist Kern einer Kritik bürgerlicher Politik in Zeiten des Spätkapitalismus, an die sich zu erinnern nicht nur lohnt, weil ihr
Protagonist gestorben ist. Denn "gerade der Gegenstand Kapitalismus und sein Staat ist nicht nur nicht überholt, hat vielmehr alles übrige
überholt und weggeräumt", wie er Anfang der 90er Jahre schrieb.
Dass Johannes Agnoli in seinem langen Leben einiges mehr geschrieben hat als nur die 1967
erschienene Schrift Die Transformation der Demokratie, davon legen seine im Freiburger Ça-Ira-Verlag verlegten Gesammelten Schriften (bisher 6 Bände
und ein kleiner Interviewband) ausreichend Rechenschaft ab. Trotzdem bleibt Die Transformation der Demokratie vollkommen zu Recht ein Klassiker
zeitgenössischer Demokratietheorie, deren Methodik allzu oft missinterpretiert wurde.
Das beginnt bereits bei seiner Weigerung, die gerade in der kritischen Politologie übliche
Entgegensetzung von bürgerlicher Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit mitzumachen eine Weigerung, die ihn in latenten Widerspruch
zur Tradition bspw. eines Wolfgang Abendroths brachte. Agnoli betonte dagegen immer wieder die enge "Verlötung von Norm und
Wirklichkeit", den dialektischen Zusammenhang von formalem Recht und herrschaftsförmigem Inhalt. Die bürgerliche Demokratie war ihm
die Form einer Klassendiktatur ohne dass er deswegen in die spiegelbildliche Falle getappt wäre, die hehre, sich in der bürgerlichen
Verfassung spiegelnde demokratische Idee einer anderen Form der Diktatur zu opfern. Nicht die an sich berechtigte und immer wieder zu aktualisierende
Aufgabe der kritischen Politologie war ihm ein Fehler, sondern, dass viele dabei stehen bleiben und lediglich die guten gegen die schlechten Seiten der
bürgerlichen Staatlichkeit verteidigen. Es ist aber gerade die Verfassung als solche, die "die Regelung eines gestörten
Verhältnisses" darstellt.
In Die Transformation der Demokratie beschreibt und analysiert Agnoli die dem
Spätkapitalismus immanente Tendenz zur sog. Involution. Als Gegenbegriff zur Evolution bezeichnet Involution, so Agnoli, "sehr genau den
komplexen politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Prozess der Rückbildung demokratischer Staaten, Parteien, Theorien in vor- oder
antidemokratische Formen". Der der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegende Klassenkampf zwischen Lohnarbeit und Kapital werde mittels des
Verfassungsstaats zum bloßen Verteilungskampf zurückgebildet und der Antagonismus dadurch pluralistisch entschärft. Vor diesem
Hintergrund erscheint der seiner demokratischen Substanz zunehmend entleerte Staat als neutraler Schiedsrichter zwischen den vielfältigen Interessen und
verschleiere so die ihm eigene soziale Gewalt.
Agnoli zeigt auf, dass und wie das staatliche System zum aktiven Organisator des zum
Überleben des Kapitalismus so wichtigen sozialen Friedens, zum "Instrument" der herrschenden Klasse wird. Und er vermeidet dabei die
Fallstricke vieler linker Ansätze, indem er den oft fruchtlosen Streit vermeidet, ob der Staat Basis oder Überbau, vom Kapitalverhältnis
ableitbar oder verschieden sei, und aufzeigt, dass der Staat eine spezifische Einheit von Ökonomie und Politik, von "Basis" und
"Überbau" ist. Staatlichkeit lässt sich weder auf formaldemokratische Regeln, Normen und Verteilungsbestimmungen reduzieren, noch
auf ihre Funktion für die kapitalistische Ökonomie und/oder ihre herrschende Klasse. Sie ist auf spezifische Weise in die Struktur der
bürgerlichen Gesellschaft als ganzer eingeschrieben und so auch einem Funktionswandel unterworfen.
Agnolis Einsicht in den integrierenden Strukturcharakter bürgerlicher Demokratie war
immer auch offen für einen gewissen Linksradikalismus, der die Möglichkeiten linker Politik nur noch als "Anti-Politik", als
antiinstitutionelle "Kraft der Negation" zu fassen vermag. War die Möglichkeit eines politisch organisierten linken Ausbruchs aus der
"staatsbürgerlich-parlamentarischen Gleichschaltung" in den 60er und 70er Jahren noch integraler Teil seiner strategischen
Überlegungen, so ließen ihn die historischen Erfahrungen mit dem blutigen Scheitern des chilenischen Allende-Regimes, mit dem
"historischen Kompromiss" in Italien und dem Aufstieg der Grün-Alternativen pessimistisch werden über die Aktualität einer
sozialistischen Strategie. Einzig die vorbürgerliche Subversion erschien ihm noch als Ausweg aus der historischen Sackgasse. An die organisierte
Arbeiterbewegung mochte er nicht mehr glauben.
Hoffte er in den 60er und 70er Jahren noch auf "das organisierte Nein",
verkümmerte dieses Nein in den 80ern und vor allem in den 90ern zur reinen "Kraft der Negation". Es war nicht falsch, daran zu erinnern, dass
es die Negation ist, die den Motor der dialektischen Bewegung bildet, den "movens aller Widersprüchlichkeit". Doch daraus die
"Negation sans phrase", die "Negation als destructio" zu theoretisieren (als ob der Kapitalismus nicht genug Destruktonskräfte frei
setzt) und die Marxsche Konzeption der Negation der Negation explizit zur "Versöhnung" zu degradieren, ist kaum mehr als der
altbekannte linksradikale Holzweg.
Doch so sehr er mit solchen Positionen auch kokettiert hat, den politischen Nihilismus mancher
seiner selbsternannten Schüler hat er nicht mit gemacht. Ein Zyniker war er nie. Noch Ende der 80er Jahrehat er betont, dass eine Kritik der Politik, wie
auch er sie betrieben hat, "Sinn und Substanz nur [hat], wenn sie nicht zu lart pour lart verkommt wie etwa bei Nietzsche, sondern
sich als Mittel zum Zweck begreift. Und hier kann die Kategorie der Kritik inhaltlich werden nur, wenn sie mit dem Ziel der Emanzipation
zusammenfällt." Noch kurz vor seinem Tod beklagte er sich deswegen, dass sich gerade in Deutschland so viele "von der Gesellschaft
zurück[ziehen]. Man muss aber in der Gesellschaft drin bleiben."
Agnolis Vermächtnis bleibt die immer wieder aktualisierte Erkenntnis, dass der Staat als
solcher, prinzipiell und egal in welcher Form ein gesellschaftliches Zwangsverhältnis von Herrschaft und Unterordnung ist. Ein Zwangsverhältnis,
das es in Anlehnung an den aufklärerischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes,
verlassenes und verächtliches Wesen ist, abzuschaffen gilt. Dies verband Johannes Agnoli nicht nur mit dem marxistischen Sozialismus, es verband ihn
auch mit jenem radikalen Humanismus vermeintlich bürgerlicher Provenienz, der sich "nicht im Mitleid für das geknechtete Wesen in
barmherziger Hilfe erschöpft, sondern für sein freies Glück kämpft". Solcherart Humanität schlug sich bei Agnoli
theoretisch nieder, bspw. in seinem Buch über die Geschichte der Subversiven Theorie (Band 3 der Gesammelten Schriften), aber auch praktisch
in seinem offenen und lebendigen Wesen, das jene faszinierte, die ihn auch persönlich kennen lernen durften.
Christoph Jünke